Donnerstag, 15. Juni 2023

 




Stellen wir die richtigen Fragen über Künstliche Intelligenz?

In der Berichterstattung über künstliche Intelligenz überwiegen meist die Extreme. Es werden uns einerseits Aussichten auf ein paradiesisches  Zeitalter ausgemalt, in dem uns smarte Maschinen das Leben in jeder Hinsicht angenehmer gestalten. Andererseits warnen apokalyptische Visionen davor, dass superintelligente Maschinen sich selbständig machen, die Herrschaft übernehmen und wir bestenfalls noch ein Sklavendasein fristen würden. Beide Szenarien sind entweder überspannt oder albern. Gibt es einen Weg zwischen ihnen hindurch?

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Die Frage „Glaubst du an künstliche Intelligenz“ klingt in gewissen Techno-Kreisen schon fast wie „Glaubst du an Gott?“. Und wie in der Religion gibt es auch hier Gläubige und Ungläubige. Erstere glauben an die sogenannte Singularität. Damit ist ein Entwicklungsstadium der Maschinen gemeint, in dem ihre Fähigkeiten jene des Menschen überholt haben werden und sich in einer Art von postbiologischer Evolution weiter entwickeln. Der Zeitpunkt dieses Eintretens wird von Gläubigen – nennen wir sie der Einfachheit halber Singularisten - auf Mitte bis Ende dieses Jahrhunderts geschätzt. 

Die Ungläubigen: das sind, nun ja, die Anti-Singularisten. Sie suchen den Beweis zu führen, dass der Glaube an eine „echte“ künstliche Intelligenz wie der Glaube an einen Gott Illusion sei. Die Desillusionierungsstrategie folgt dabei meist einem Standardkurs. Künstliche Intelligenz: das sind bloss Computer, das heisst Schaltkreise und Algorithmen. Computer sind bloss Turingmaschinen die Zeichen syntaktisch manipulieren. Aus Syntax allein entsteht keine Semantik, das heisst, Maschinen können nichts verstehen. Punkt. Siri versteht mich nicht, sondern tut nur so, als ob. 

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Singularisten verfügen durchaus über handfeste Argumente. Aber wie in allen Glaubenssystemen werden oft Fakten, Vermutungen und überzogene Analogien zu einer unwiderlegbaren Konstruktion verleimt. Zum Beispiel stellt das sogenannte Mooresche Gesetz fest, dass sich die Zahl der Transistoren in integrierten Schaltkreisen bisher etwa alle zwei Jahre verdoppelt hat: eine empirisch bestätigte Regularität, gewiss. Die Singularisten machen aus ihr eine Devotionalie. Sie dient dazu, die verstiegensten Prognosen über mögliche „Superintelligenzen“ mit gut- oder bösartigen Absichten aufzustellen. Aus der Mooreschen Regularität lässt sich durchaus eine stetig vergrösserte Rechenkapazität von Computern extrapolieren. Und Computer übertreffen uns schon heute in Quantität und Geschwindigkeit der Datenverarbeitung. Aber ob, wie und inwieweit aus komplexen Schaltkreisen „Intelligenz“, geschweige denn „gute oder böse Absichten“ emergieren, ist eine bisher nicht beantwortete Frage; eine Frage nota bene, von der ohnehin nicht klar ist, ob man sie so überhaupt richtig stellt. Das kümmert Singularisten allerdings wenig, weil sie „im Prinzip“ davon überzeugt sind, dass Maschinen bewusst werden, selbst wenn sie dieses „Prinzip“ nicht kennen – der typische Habitus des Glaubens.

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Auf der andern Seite müssen Anti-Singularisten regelmässig zur Kenntnis nehmen, dass das vermeintlich Defizitäre der Maschine nun doch kein Defizit ist. So galt der Mensch lange als unschlagbar im Schach, bis die ersten Programme ihn besiegten; neuerdings im Go. Und man darf mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass noch weitere Vermögen, die bisher als allein dem Menschen vorbehalten galten, auch der Maschine zugesprochen werden können. Heute tragen sich Roboterbauer schon mit dem Gedanken einer „moralischen“ und „empfindenen“ Maschine. Oft neigen wir dazu, solche Vermögen, sobald sie als programmierbar „entzaubert“ sind, in den Topf der nicht-intelligenten Dinge zu werfen. Aber warum sollten wir uns nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass Maschinen uns in gewissen kognitiven Leistungen ebenbürtig oder sogar überlegen sind, und dass diese partielle Ebenbürtigkeit oder Überlegenheit als Symptom einer spezifischen, eben maschinellen Intelligenz gedeutet werden kann, wie beschränkt sie auch sein mag?

Bislang brilliert Künstliche Intelligenz vor allem als Inselbegabung. Sie begann damit, dass sie für relativ einfache Rätsel wie „Missionare und Kannibalen“ oder „Türme von Hanoi“ einen Algorithmus fand. Heute hilft sie uns in der Bewältigung von hochkomplexen Auf-gaben wie dem Problem des Handelsreisenden, dem Beweis des Vierfarbensatzes, in der Suche im Netz, im Verschlüsseln von Information, in Wirtschafts- und Wetterprognostik, und in vielem mehr. All dies dank immer grösserer Speicherkapazität, schnellerer Verarbeitung und lernender Algorithmen. Natürlich können Anti-Singularisten einwenden, es handle sich hier immer noch um den Budenzauber „blosser“ Symbolmanipulation. Aber dieser schon fast ritualhafte Einwand verliert an argumentativem Punch in dem Masse, in dem die künstlichen Autisten in unseren Alltag einwandern und sich hier bewähren. 

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Und mit dieser fortschreitenden „Einbürgerung“ des Computers in unseren Alltag gewinnt ein neuartiges, ein techno-soziales Problem immer mehr an Kontur. Wir sind auf dem Weg zu einer hybriden Gesellschaft aus menschlichen und künstlichen Akteuren. Statt uns also mit der Frage zu beschäftigen, ob Computer intelligent sind oder nicht, schlage ich eine andere Leitfrage vor: Passen wir den Computer uns an oder passen wir uns dem Computer an?

Man halte sich nur einmal vor Augen, wie unsere alltägliche Kommunikation von unseren kleinen smarten Begleitern geprägt ist, die wir ständig mit uns herumtragen. Das Internet ist eine Mensch-Computer-Symbiose im wahrsten Sinn des Wortes. Wir beobachten in dieser Symbiose eine heimliche und scheinbar unaufhaltsame Gewichtsverschiebung. Viele unserer künstlich intelligenten Helfer – Rasenmäher, Staubsauger, Geschirrwaschmaschine - funktionieren deshalb gut, weil sie in einem eindeutig definierten und kontrollierten Setting operieren. Desgleichen die Roboter in den Laboratorien, Büros oder Fabrikhallen. An solch adaptiven Automaten sind primär Industrie, Ökonomie und Militär interessiert, und es kann auch nicht erstaunen, dass sich hier mächtige Interessenkonglomerate bilden. Ihre implizite Strategie erinnert an die Lösung des gordischen Knotens: Statt die „intelligenten“ Artefakte an die Umwelt anzupassen, passt man die Umwelt den Artefakten an. In der Robotik spricht man von der „Enveloppe“ des Roboters, also vom Raum, innerhalb dessen Grenzen die Maschine zuverlässig funktioniert. Diese Enveloppe wird immer umfassender. 

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Die Logik eines solchen Umbaus lässt sich schon seit langem etwa an der Verkehrsampel beobachten. Sie diktiert dem Fussgänger klare Bedingungen: Gehe bei grün, stehe bei rot. Eine einfache binäre Entscheidung. Das ist gewiss sinnvoll und nützlich bei grosser Verkehrsdichte in urbanen Zonen. Aber wir stellen fest, dass dieser Automatismus insgeheim von der Technik auf uns übergegangen ist. Das heisst, wir bleiben als Fussgänger bei rot stehen, selbst wenn weit und breit kein Fahrzeug zu sehen ist. Die Vernunft würde uns ja eigentlich sagen, dass keine Gefahr droht und wir deshalb die Strasse überqueren können. Aber wir haben uns an den binären Rot-Grün-Verhaltensmechanismus adaptiert. Wir sind etwas automatenhafter geworden: unüberlegter, dümmer. 

Die Situation lässt indes eine andere Sicht zu. Wir können die Strasse bei rot überqueren oder stehen bleiben, nicht wegen der Vorschrift, sondern weil wir um unsere pädagogische Vorbildfunktion wissen. Diese Wahl stellt ein typisches Beispiel für einen Ausbruch aus dem Regelkreis dar, indem wir den Raum der Optionen erweitern, die uns auch in automatisierten Umwelten offen stehen. Und gerade diese Erweiterung des Automatismus stellt ja durchaus auch eine Intelligenzleistung dar. Sie beruht auf Vermögen wie Reflexion, sozialem Sinn, Erkennen einer Problemsituation, Umgang mit Unschärfen. Schon 1983 wies die Psychologin Lisanne Bainbridge in ihrem vielbeachteten Artikel „Ironies of Automation“ auf neuralgische Stellen in der Interaktion zwischen System und Systembediener hin. Weil es immer Aufgaben und Probleme gebe, die der Designer nicht voraussehen kann, schaffe er dadurch neue Aufgaben- und Problembereiche und mache „vorautomatische“ Intelligenz notwendig; vor allem in Fällen der Störung oder des Ausfalls von Funktionen.

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Die Frage, ob Computer „wirklich“ intelligent sind, ist nicht entschieden. Und sie spornt gerade deshalb auch an zur Entwicklung von Systemen, die in Zukunft immer anspruchs-vollere Aufgaben lösen können. Sie sind Triumphe einer beschränkten Rationalität, und wozu sie noch fähig sein werden, wissen wir nicht. Das Rechner-Paradigma ist mächtig. Der Singularist entgegnet uns wahrscheinlich, wir würden gewisse Vermögen als typisch menschlich bezeichnen, weil es uns bis jetzt noch nicht gelungen sei, sie in einen operativen Algorithmus zu übersetzen. Das mag sein. Aber wir sollten die Debattenhoheit nicht an Singularisten und Anti-Singularisten abtreten. Statt unsere Intelligenz in utopischen und dystopischen Spekulationen zu vergeuden, täten wir besser daran, uns eingehender mit dem realen Problem zu beschäftigen, dass unsere Lebens- und Arbeitswelt zunehmend in künstliche Umgebungen eingebettet wird. 

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Schon heute hilft jedenfalls eine Unzahl miteinander kommunizierender künstlicher Systeme unsere wichtigen und weniger wichtigen Probleme zu lösen, ohne dass wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, ob sie intelligent sind oder nicht. Sie liefern uns, was wir brauchen: Informationen über eine Region im Hindukusch, über das beste Sushi-Restaurant in Berlin, ein lesenswertes Buch über lernende Algorithmen, ein günstiges Schnäppchen auf dem Retromarkt, eine auf mich zugeschnittene Diät. Das ernsthafte Problem liegt darin, dass die dichte Vernetzung all dieser Apps eine Enveloppe unserer Lebenswelt bildet, aus der wir uns kaum noch lösen können. Und in dieser Enveloppe tendieren wir Menschen dazu, nun selber zur App zu werden. Nicht wir setzen die Algorithmen ein, die Algorithmen setzen uns ein. Vor über zehn Jahren kamen die Software-Entwickler von Amazon auf die zündende Idee, Aufgaben, für deren Lösung die Algorithmen zuviel Zeit brauchten, durch Outsourcing an Menschen zu delegieren: Gesichter er-kennen, übersetzen, ein paar Sätze zu Stichworten schreiben, Spam verbreiten, kleine Pro-gramme schreiben etc. Der „mechanische Türke“ ist eine Plattform, wo Auftraggeber Arbeiten, sogenannte „human intelligence tasks („HITs“), in Auftrag geben, die mit einem geringen Betrag abgegolten werden. Gipfel der Ironie: man spricht von „künstlicher künstlicher Intelligenz“.

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Kurz: Wir sollten die Herausforderung der Künstlichen Intelligenz dort annehmen, wo sie uns direkt etwas angeht. Die entscheidenden Fragen sind anthropologisch, ökonomisch, sozial, politisch. Wenn wir Erfahrungen und Tätigkeiten zunehmend an Algorithmen delegieren, kann die resultierende Nicht-Erfahrung und Nicht-Tätigkeit bei uns zu Änderungen, sprich: Verkümmerungen, führen. Man denke nur an manuelle Fähigkeiten beim Pilotieren eines Autos oder Flugzeugs; an Aufmerksamkeitsdefizite durch Multitasking. Und auf kollektiver Ebene stellt sich das nun wirklich seriöse Problem einer hemmungslosen Automatisierung vieler Industrien, welche, in eindimensionalem Wachstumsdenken vorangetrieben, zu Massenarbeitslosigkeit und in der Folge zu Massenfrustration führen kann, mit zu erwartenden sozialen Instabilitäten. Vor zwei Jahren zeigte sich sogar Bill Gates in einem Interview besorgt: „Der Software-Ersatz, sei er für Fahrer, Kellnerinnen oder Pflegepersonal, kommt auf uns zu. In 20 Jahren wird sich die Nachfrage nach vielen menschlichen Fertigkeiten, vor allem auf niedrig qualifizierter Stufe, erheblich vermindern. Ich glaube nicht, dass die Leute darauf intellektuell vorbereitet sind.“

Die Politologen Lee Drutman und Yascha Mounk haben neulich ein realistisches Szenario skizziert: Nicht Roboter beherrschen die Menschen, sondern eine kleine Elite von Roboterdesignern, Technikunternehmern und Risikokapitalisten, welche den Arbeitsmarkt mit „disruptiven“ Technologien nach ihrem Belieben dirigieren.  Und der Risikokapitalist Vinod Khosla, Mitbegründer von Sun Microsystems, sagt eine wachsende Einkommensungleichheit voraus: „Wenn wir weniger menschliche Arbeits- und Urteilskraft benötigen, wird die Arbeit im Vergleich mit dem Kapital abgewertet, und erst recht im Vergleich mit der Technologie maschinellen Lernens.“ 

Sicher ist eines: Die Geräte machen uns gefügig. Und genau hier ist Intelligenz gefragt, wenn wir nicht in techno-feudalistische Verhältnisse schlittern wollen – menschliche, nicht künstliche Intelligenz.



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