Sonntag, 1. August 2021

 








NZZ, 24.7.2021

Muskel. Mysterium. Maschine

Der Körper im Überspitzensport




Sport ist Körperkultur. Damit sagt man schon alles über seine innere Dynamik. Der Körper ist Natur, und im Sport versuchen wir, sie nicht nur zu kultivieren, sondern zu transzendieren – was deutlich genug in der olympischen Steigerung „schneller, höher, stärker“ anklingt. Ihren Reiz bezieht die sportliche Leistung aus dem, was wir nicht für möglich halten: wenn der Torhüter einen scheinbar unhaltbaren Penalty hält; wenn der Radrennfahrer in einer Alpenetappe mit scheinbar übermenschlichen Kräften der Konkurrenz enteilt, wenn die Tennisspielerin mit einem stupend präzisen Rückhand-Volley den Ball exakt in eine Ecke des gegnerischer Feldes setzt. Sport ist das Feiern der Muskeln als Mysterium.  Und daran haben mindestens vier Faktoren teil: Zeit, Ekstase, Zufall und nicht zuletzt das Nicht-Können des Sportlers selbst. 


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Obwohl zeitliche Vorgaben zur Natur sportlicher Aktivitäten gehören, suchen diese gerade die Aufhebung der Zeit. Schon der Sportanlass findet ja eigentlich in einer Zeitenklave statt. Hier werden Eklats, Exploits und Extreme stets angestrebt und erwartet, aber weder die Aktiven noch die Zuschauer wissen, ob und wann solche Ereignisse eintreten. Von dieser buchstäblichen Suspension lebt das ästhetische Moment des sportlichen Geschehens, und zehrt insbesondere der Zuschauer bis zur Süchtigkeit. Auch wenn der Sportanlass vorbei ist, kann er in einem zeitlosen Zustand aufgehoben sein. Siege erhalten eine „Aura der Unsterblichkeit“. Nachdem Jan Sommer den Penalty von Kylian Mbabbé gehalten hatte, war in der Presse von einem „Moment für die Ewigkeit“ die Rede. Der Journalismus hechelt der sportlichen Superlativgeilheit hinterher, aber der Ausdruck trifft in diesem Punkt durchaus das typische, stets erwartete „Fallen aus der Zeit“.


Man fällt sozusagen auch aus seinem „Normal-Selbst“. Die Sportarenen versprechen und verkaufen dem Zuschauer ja immer ein Ausser-sich-sein: Ekstase. Und vom Aktiven erwartet der Sport ohnehin ein Ausser-sich-sein. Das heisst, der Sportler ist im Zuge aussergewöhnlicher Leistung „nicht ganz bei sich“. Sein Körper vollbringt in kurzer Zeit so viele feinjustierte Aktionen, dass es unmöglich erscheint, sie durch ein bewusstes Ich simultan zu koordinieren und kontrollieren. Das Ich löst sich quasi im Körper auf. Robert Musil hat dies in seinem kleinen Essay „Durch die Brille des Sports“ mit bezeichnender Schärfe erkannt und er misst dem sportlichen Akt sogar eine mystische Qualität zu. Einer der grössten Reize des Sports sei nämlich, dass „im Augenblick der Ausführung (die) Muskeln u. Nerven mit dem Ich, nicht dieses mit ihnen (spielt), u. sowie nur ein etwas grösserer Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel gerät, fällt man schon aus dem Rennen. Das ist aber nichts anderes als ein Durchbruch durch die bewusste Person, eine Entrückung.“


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Obwohl das sportliche Ereignis Regeln unterliegt, hat es, wie alles kreative und aleatorische Geschehen, ein unregelbares Moment: das Erreichenwollen des Unerreichbaren. Besonders auf den Sport trifft der schöne Satz des Philosophen Odo Marquard zu: „Wir sind meist mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen.“ Natürlich sind Siege und Rekorde der Leistung und dem harten Training geschuldet, aber letztlich fallen sie dem Sportler zu. Er weiss nicht, was er tut und wie er es tut, und mangels Erklärung greift er zur Floskel, dass alles  im „Flow“ des Geschehens „zusammenstimme“. Der Athlet ist ein Virtuose der Unberechenbarkeit in einem Dispositiv, das noch die letzte Muskelfaser, das letzte Blutkörperchen unter minutiöse Kalkulation zu bringen sucht. Man weiss nie, ob er nicht gerade hier und heute zu jener Form aufläuft, die ihn die scheinbar unübersteigbare Grenze doch übersteigen lässt. Dieser Augenblick der Gnade im sportlichen Gelingen – übrigens auch im wissenschaftlichen und künstlerischen Gelingen - trägt wesentlich bei zum Nimbus des Spitzenathleten. Vielleicht liegt hierin tatsächlich so etwas wie das Transzendente der sportlichen Leistung. Musil spielte halb ironisch mit dem Gedanken, Sportsleute heilig zu sprechen. 


Mit diesem Aus-sich-heraustreten verbindet sich ein weiterer Aspekt. Zweifellos setzt die sportliche Leistung ein spezifisches Können voraus. Man trainiert ja unablässig Routinen. Man investiert oft ein geradezu übermenschliches Mass an Selbstkasteiung, Selbstüberwindung, ja, Selbstaufgabe in die Muskelskulptur. Das tut zum Beispiel auch der Zirkusartist. Und er demonstriert uns sein Können ebenfalls in unmöglich erscheinenden Kunststücken. Aber der Sportler demonstriert nicht einfach sein Können. Oder vielmehr: Er demonstriert, dass sein Können nach oben offen ist. Er will über sein Können, wie hoch entwickelt es auch ist, hinaussteigen. Der Philosoph Martin Seel hat dafür eine geglückte Formel geprägt: „Zelebration des Unvermögens“: „Das ekstatische Nicht-Können des Sportlers (ist) eine Auszeichnung seines Könnens, durch das es sich als höchstes sportliches Können beweist.“


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Diese Auffassung widerspricht nun aber dezidiert einer heute gängigen Ideologie der Verfügbarkeit und Zurichtung des Körpers. Seine technologische Aufrüstung – wozu auch die pharmakologische und gentechnologische gehören – steuert einen Kurs ins kaum Voraussehbare. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet die naturwissenschaftliche Medizin, zumal die Physiologie, die athletische Leistung als eine Sonde zur Erkundung menschlicher Grenzen. Im Bild der modernen Wissenschaft und Technologie ist der Sportlerkörper eine Experimentieranstalt auf zwei Beinen. Der Athlet liefert sich – ob er will oder nicht – diesem Bild aus und verhilft ihm gleichzeitig zu gesellschaftlich-kultureller Anerkennung. Er macht sich dadurch zum Verbündeten eines hochfahrenden Fortschrittsprojekts, welches die Maschine nicht nur als ebenbürtig zum Menschen betrachtet, sondern als weit leistungsfähiger. Die Entwicklung der Maschine ist nicht an biologische Grenzen gebunden. Schlägt man nun den menschlichen Körper zur Kategorie des Maschinellen, gibt man ihn frei zum scheinbar grenzenlosen Umbau. Sport als Technologiefortsatz fügt sich prächtig ein in die Zukunftsvision eines „Homo optimus“, eines vollumfänglich und permanent „verbesserten“ Menschentypus. 


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Die „Zelebration des Unvermögens“ liesse sich deshalb als Memento deuten. Als Erinnerung an die Natur, der wir  in Gestalt unseres Körpers nicht völlig Herr zu werden vermögen. Die olympische „Muskelreligion“ Pierre de Coubertins ist längst profaniert zum globalen Fest des Körpers als Mittel der Produktplatzierung – der Körper ist nun selbst ein Produkt. Die World Anti-Doping Agency (WADA) charakterisiert den „Geist des Sports“ in einer Liste von Werten wie Fairness, Ehrlichkeit, Gesundheit, Hochleistung, Charakter, Solidarität, Respekt vor dem Gegner. In der Liste fehlt auf eine schon fast schreiende Weise der Spielcharakter des Sports. 


Im Grunde zeugt dieses Fehlen von einem bedenklichen Prozess. Wenn wir bisher - und immer noch - in der sportlichen Leistung unsere natürlichen Gaben bewundern und schätzen, so ist doch festzustellen, dass die Technisierung, Medikalisierung und in ihrem Gefolge die Ökonomisierung des Körpers das Ziel der sportlichen Aktivität umdefiniert. Natürlich soll der Sport auch Spektakel sein und natürlich sollen wir uns an ihm vergnügen. Aber die masslose Bewirtschaftung des Vergnügens raubt ihm genau das, was Schiller auf den Punkt brachte, als er schrieb: Im Spiel überwinden wir den Zwang der Naturgesetze. Heute müsste es heissen: den Zwang der Marktgesetze. Der Sportler ist nur da ganz Sportler, wo er spielt. Denn im Spiel liegt der Anfang der Erziehung zur Freiheit. SPOMAFUGEGL: Sport macht frei und gibt eine gute Laune. Wir sollten dieses Motto als eine vorwärtsblickende Nostalgie hüten, gerade in einer Gesellschaft, die den Körper im Spiel immer mehr zur Bestzeit- und Siegesmaschine verkommen lässt, und so dem Sport den Geist austreibt.











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