Freitag, 27. August 2021

 



NZZ, 23.8.2021


Die liberale Gesellschaft verschluckt sich an ihren Minderheiten

Über die Logik von „Identitätern“


Liberalismus, schreibt Ortega y Gasset in seinem Buch „Aufstand der Massen“, sei Ausdruck äusserster Grossmut, „das Recht, das die Majorität der Minorität einräumt.“ Heute stellt sich die Frage, wie weit diese Grossmut noch ertragbar sei. Minderheiten werden immer mehr zum Problem. Inzwischen wuchert ein Diskurs über marginalisierte, minorisierte, diskriminierte Kleinstgruppen, über Identität, Interkulturalität, Differenz, Diversität – es scheint, als löste sich das Gesellschaftsganze in seine molekularen Komponenten auf. Schon 1993 sprach Hans Magnus Enzensberger vom „molekularen Bürgerkrieg“.


Gewiss, die liberale Ordnung definiert sich als Schonraum von Minderheiten. Aber sie ist metastabil. Zuviele Minderheiten führen zu einem Kipp-Punkt, wo Inklusion und Integration ins Gegenteil umschlagen. Die Gesellschaft verschluckt sich quasi an ihren Minderheiten. Wir bekommen es mit der Dialektik der Diversität zu tun: Ein „nachgiebiges“ Klima begünstigt Unnachgiebigkeit. Je grösser die Diversität, desto spezifischer die Interessen, und je spezifischer die Interessen, desto rabiater vertritt man sie. Eine amerikanische Professorin mit befristeter Anstellung bot ein Lehr-Modul über Neurobiologie und Autismus an. Eine aktivistische Studentin griff sie wegen Marginalisierung von autistischen Personen an. Die Professorin zog das Lehrangebot zurück. 


„Hohe“ und vor allem „unverhandelbare“ Ziele eignen sich bestens zur Pflege unnachgiebiger Gesinnungen. Extremisten, Fundamentalisten und sonstige ideologische Sklerotiker rechtfertigen sich gerne im Aufräum-Pathos damit, dass sie gegen dekadenten Kompromiss, politisches Spiessertum, konforme Mehrheit antreten, und dies im Namen eines als sittlich „rein“ empfundenen Rigorismus, der sich durch nichts beirren lässt. Unbeirrbarkeit aber ist ein untrügliches Anzeichen von Wahn. Und die liberale Ordnung bietet ein gedeihliches Brutklima für solchen Wahn. 


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Seit einiger Zeit geistert ein unschöner Begriff durch den politischen Diskurs: Intersektionalität oder Schnittmengen-Diskrimierung. Angenommen, zwei Stellen sind ausgeschrieben. Eine schwarze Frau bewirbt sich. Sie ist bestens qualifiziert, aber man zieht ihr eine weisse Frau und einen schwarzen Mann vor. Frustriert klagt sie wegen Diskriminierung. Die Klage wird abgewiesen mit der Begründung: Geschlechterdiskrimierung liegt nicht vor, denn man stellt ja eine Frau an; ebensowenig Rassendiskrimierung, denn auch ein Schwarzer kriegt einen Job. Die Frau fällt unglücklicherweise in die Schnittmenge von weiblich und schwarz. Sie ist Opfer einer Schnittmengen-Diskriminierung.


Der Begriff wurde 1989 von Kimberlé Williams Crenshaw eingeführt, Rechtsprofessorin an der University of California. Sie wollte auf Überlappungen von Vorurteilen hinweisen, die Diskrimierungen verstärken können. Das ist in der Rechtsprechung zweifellos wichtig. Seither hat der Begriff jedoch die akademischen Gefilde verlassen und eine politische Instrumentalisierung erfahren. „Intersektionalität“ entwickelt sich zu einem neuen Knüppelwort in der Identitätspolitik. Und das ist ziemlich wörtlich gemeint, denn in den USA und neuerdings auch in Europa findet eine Debatte statt, in der man mit dem Begriff nur so herumhaut. 


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Das Problem liegt in der Logik des Begriffs. In einer heterogenen offenen Gesellschaft gibt es umso mehr Schnittmengen möglicher (diskriminierter) Identitäten, je mehr Merkmale man anführt. Wie wäre es zum Beispiel mit lybischer Immigrantin, ghanaischer Abstammung, Nicht-Muslima, gendermässig unentschieden, an Diabetes leidend, Doktorat in Paläontologie, arbeitslos? Judith Butler hat das Problem klar erkannt: „(Auch) Theorien feministischer Identität, die eine Reihe von Prädikaten wie Farbe, Sexualität, Ethnie, Klasse und Gesundheit ausarbeiten, setzen stets ein verlegenes ‚und so weiter’ an das Ende ihrer Liste (..), doch gelingt es ihnen niemals, vollständig zu sein.“ Das ist natürlich eine Trivialität: Man kann immer noch eine „identitäre“ Eigenschaft finden, die ein Individuum von einem anderen unterscheidet. Was schon Leibniz mit seinem „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ ausdrückte: Es gibt keine zwei Dinge, die völlig identisch sind. 


Und genau dieses manische Kategorisieren führt zur Inflation von Minderheiten. Am Ende sind wir alle diskriminiert. Der todsichere Kurs in Richtung Hass, Beleidigtsein und Ressentiment. Statt gruppenübergreifender Solidarität gruppenverstärkende Intersektionalität. Anlässlich eines Frauenprotestmarsches in Washington mahnte eine schwarze Aktivistin aus der Bronx ihre „weissen Schwestern“ an, sich ja nicht einzubilden, dass man sich nun verstünde: „Du sollst dich nicht nur anschliessen, weil du jetzt auch Angst hast. Ich wurde mit der Angst geboren.“ Wahrlich, wenn das kein eindeutiges Kriterium ist... 


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Bei allem Verständnis für die Minderheitenproblematik: die liberale Ordnung basiert auf einer Grundparadoxie. Sie berücksichtigt Differenzen und Minderheiten und sie sieht zugleich von ihnen ab. Sie steht und fällt mit einem Uneindeutigkeits-Prinzip: Fünf gerade sein lassen. Wer fünf gerade sein lässt, bekundet ein spezifisches Vermögen: Abstraktion. Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen lässt sich nämlich aufheben, wenn man sie als ganze Zahlen betrachtet. „Vereinigungsmenge“ nennt das die Mengentheorie. Ein ungemein wichtiges Prinzip des Zusammenlebens, das viele „Schnittmengen-Identitäter“ nicht begriffen haben. Die Teilnahme an der liberalen Ordnung verlangt von Bürgerinnen und Bürgern ein Minimum an Abstraktionsvermögen. Man sieht gelegentlich davon ab, ob man „gerade“ oder „ungerade“ ist: schwarz oder weiss, Mann oder Frau, Eingesessener oder Zugezogener. Man begegnet Menschen unter einer „neutralen“ Oberkategorie. Und diese Kategorie nennt sich persönliches Individuum. Das ist die grossartige Erfindung der liberalen Gesellschaft. Sie schützt primär Individuen, nicht spezielle „Stammeszugehörige“. 


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Die liberale Ordnung ist „abstrakt“. Und die wachsende gesellschaftliche Heterogenität strapaziert sie heute bis zur Zerreissgrenze. Es erstaunt daher nicht, dass gerade die Idee des Individuums ein Dorn im antiliberalen Auge ist. Der Basler Philosoph und Journalist Armin Mohler (gestorben 2003), dessen Elaborate heute unter Neurechten eine kleine Renaissance erleben, schrieb 1988 das Pamphlet „Gegen die Liberalen“. Nichts hasste Mohler inniglicher als den „Abstraktionen verfallenen Liberalen.“ Und die schlimmste Abstraktion ist die Idee des autonomen Individuums - für Mohler die unter Liberalen „verbreitetste Geisteskrankheit“. Sie suche den Menschen aus seinem zugehörigen, angestammten, „realen“ sozialen und kulturellen Ort herauszureissen. Heute tönt das etwa bei Götz Kubitschek – neurechter „Grossdenker“, Adept Mohlers und Chef des Antaios Verlags - so:  „Die Gruppenexistenz des ‚Wir’ im nationalen und damit auch ethnisch gebundenen Sinn ist unhintergehbar.“


Voilà: „Gruppenexistenz“, „ethnisch gebunden“. Dass diese Ethnie, Gruppe oder Nation in der komplexen gegenwärtigen Weltlage selbst das windige Produkt einer „Geisteskrankheit“ im Sinne Mohlers ist – nämlich einer neurechten Abstraktion - , fällt dabei unter den Tisch. Die Abstraktion bleibt „unhintergehbar“, das heisst, sie ist ein pseudoargumentativer Prügel.


Eigentlich ist der Mensch ein Hordentier geblieben. Die liberalen „Abstraktionen“ der Zivilisation – wozu insbesondere die rechtsstaatlichen Bedingungen gehören - sind ihm letztlich fremd. Es droht immer die Regression von der Zivilisation zur Horde. Wer also diese Abstraktionen rückgängig zu machen sucht, indem er allein auf den „konkreten“ Menschen im „gebundenen Wir“ seiner Farbe, Rasse, Sexualität, Nationalität, Herkunft „undsoweiter“ abstellt, öffnet die Pandorabüchse der Atavismen. Überall bröckelt die ohnehin dünne und schwache Kruste der Zivilisiertheit. Der einzige Weg zur Emanzipation aber führt über das Individuum.



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