Dienstag, 6. Juli 2021

 





NZZ, 30.6.2021

Wir sind alle Verschwörungstheoretiker


Das Bashing von Verschwörungstheorien ist ein Volkssport in Coronazeiten. Das überrascht kaum, wirft man doch in der Regel den Blick auf ihre obskuren Seiten: auf ihr Missverhältnis zu den Fakten, ihr simples Denkmuster, ihre Unwissenheit oder Halbbildung, die latente Paranoia des Theoretikers, auf den Schwund des Realitätsprinzips. Historiker, Psychologen, Soziologen, Politologen, Medien- und Kulturwissenschafter nennen zahlreiche plausible Gründe für dieses Denken. Seine Massenwirksamkeit und Gefährlichkeit stehen ausser Zweifel. Aber meines Erachtens kommt ein Aspekt von Verschwörungstheorien zu kurz: ihre «Selbstverständlichkeit». Viele Analysen diagnostizieren in Verschwörungstheorien – leicht hochnäsig - bloss ein intellektuelles Defizit. Aber sie machen sich die Sache eine Spur zu einfach.  


***


Verschwörungstheorien sind die ersten Erklärungsversuche der Welt. Im mythischen Denken wimmelt es von Konspirationen der Götter und Dämonen. Heutige Verschwörungstheorien sind eine moderne Erscheinungsform des Mythos. Sie fragen wie «normale» Theorien: Warum geschieht das? Was steckt dahinter? Ein Vergleich mit «normalen» Theorien lässt zwei erklärende Grundhaltungen zur Welt erkennen. Wir tragen sozusagen eine kognitive Brille mit zwei völlig verschiedenen Gläsern. Durch das eine Glas sehen wir in allem Geschehen die Folgen von Absichten, durch das andere die Folgen von Ursachen. Man könnte vom intentionalen und  kausalen Brillenglas sprechen. Beide bilden sie untrennbar unsere kognitive Brille. Und bei jedem Brillenträger unterscheiden sich die Sehstärken der Gläser auf individuelle Weise – sind sie auch individuell getrübt. Im Extremfall ist ein Glas blind. Und dann sehen wir nur noch monokular. 


Wir ertragen zufällige, unzusammenhängende Ereignisse schlecht. Deshalb wollen wir im Geschehen Muster erkennen, Erklärungen, Sinn, Absichten. Vor dem abstrakten Gekleckse eines Jackson Pollock stehend, fragen wir fast instinktiv: Was bedeutet das? Und womöglich wirkt hier tatsächlich eine Art kognitiver Instinkt, der das Gekleckse nicht Gekleckse sein lassen will. Genau so formulieren Wissenschafter Hypothesen und Theorien. Aber tut denn das nicht auch der Verschwörungstheoretiker? Gewiss, aber im Gegensatz zum  Wissenschafter richtet sich seine Theorie nicht nach der Welt, sondern die Welt nach seiner Theorie. Für den Verschwörungstheoretiker sind alle Ereignisse oberflächliche Erscheinungen, sozusagen Pilze, die aus einem unterirdischen fabulösen Myzel schiessen. 


***


Als höchst aufschlussreich erweist sich dabei ein kurzer Blick auf die „Logik“ der Verschwörungstheorien. Eine beliebte Waffe ist das das Argumentum ad baculum. Man droht mit dem „Stock“, beschwört buchstäblich Malefikanten herauf – die kommunistische Partei-spitze Chinas, Pharmagiganten, Forschungseliten, die Bill-Gates-Stiftung - und menetekelt: Wehe, wir beugen deren Machenschaften nicht vor! Es mag durchaus Evidenz für solche Machenschaften geben, aber das Argument bewirtschaftet primär Ängste und Unsicherheit. Verschwörungstheorien sind zudem widerspruchsimmun. Ein Verschwörungstheoretiker kann behaupten, dass Lady Di vom britischen Geheimdienst ermordet wurde und dass sie auf einer kleinen Insel im Pazifik haust. Die Logik lehrt uns: ex falso quodlibet - aus einer Kontradiktion folgt alles Beliebige. Verschwörungsköche benützen dieses simple Rezept, um ihren mehr oder weniger giftigen Sud «logisch» zu brauen. Widerspricht ihnen jemand, dann setzen sie ein weiteres Killermittel ein: das Argumentum ad hominem. Der Verschwörungstheoretiker geht nicht auf Argumente ein, sondern stracks auf den Argumentierenden. Wer die Verschwörungserzählung in Frage stellt, gehört selbst zum Komplott. 


***


Auf vielen Gebieten haben wir die Sehstärke des kausalen Brillenglases verbessert. Wissenschaftlicher Fortschritt nennt sich das.  Er hat in Physik, Chemie und Biologie alte intentionale Erklärungsmuster verdrängt. An die Stelle zorniger Wettergötter treten Gesetze der Atmosphärenphysik; an die Stelle alchimistischer Mächte chemische Reaktionen; an die Stelle eines göttlichen Designs zufallsbedingte Mutation und Selektion. Aber noch in der Medizin stösst diese Naturalisierung auf Widerstand. Es gibt Leute, welche die Beschwörung von Naturgeistern Medikamenten vorziehen, einen Talisman gegen Krankheiten tragen oder sich mit Beten vor Viren schützen.  Wer hier bloss Irrationalismus diagnostiziert, verkennt eine heimliche Dialektik des Fortschritts. Je mehr wir über die Welt wissen, desto schwieriger ist das kausale Muster anzuwenden. Wir greifen dann vermehrt zum intentionalen Monokel.  Anstelle verwickelter Verschränkungen von Ökonomie und Ökologie sehen wir Umweltübeltäter; anstelle veränderter demographischer Bedingungen sehen wir Betrüger als Ursache eines Wahlresultats; anstelle des eigenen ungesunden Essverhaltens sehen wir «Vergifter» in Agrikultur und Nahrungsmittelindustrie. Das Motto dieser Komplexitätsreduktion mittels Einäugigkeit: Erkläre nicht durch Ursache und Wirkung, was du genau so gut durch Absichten und Motive – meist böse - erklären kannst. 


Es gibt – verschweigen wir es nicht - auch die kausale Einäugigkeit. Wir finden sie allenthalben in der wissenschaftlichen «Entzauberung» von einstmals intentional erklärten Phänomenen. Sie greift nun von den Naturwissenschaften über auf menschliche Phänomene. So sehen zum Beispiel gewisse Neurowissenschafter unser ganzes geistiges, intentionales Leben als Folge geistloser, nicht-intentionaler Gehirnvorgänge. Das Motto dieses Reduktionismus lautet sozusagen spiegelverkehrt: Erkläre menschliches Handeln nicht durch Intentionen, wenn du es genau so gut durch Hormone erklären kannst.


***


Verschwörungstheorien und Verhirnungstheorien sind deshalb heimliche Verwandte. Sie manifestieren einen oft obsessiven Hang zum Monokel: Wir werden von Drahtziehern determiniert; oder wir werden von Naturprozessen determiniert. Dieser Hang kommt in uns allen vor, und wahrscheinlich wirkt er stärker in einer Gewissheitskrise. Ohne Zweifel hat uns die Pandemie in eine solche geworfen. Wir merken plötzlich, wie wenig die Wissenschaft über die Welt der Mikroben, zumal über Vakzine, weiss; wie ungewiss und widersprüchlich die Aussagen von Fachleuten sind.  Das schwächt unser Vertrauen in die Sehstärke des wissenschaftlichen Brillenglases. Stattdessen basteln viele nun ihre eigenen, meist intentionalen Erklärungen. Der Reiz persistiert, in allem, was geschieht, Absichten – gute oder böse – zu sehen. Die wissenschaftliche Rationalität hat den Mythos nicht abgeschafft. Wir leben viel-mehr in einem neo-mythischen Zeitalter. Ein typisches Indiz dafür ist auch der Hang, Phänomene, die sich „natürlich“ schwierig erklären lassen, „künstlich“ zu erklären, so wie jüngst den mysteriösen Himmelskörper Oumuamua, den nicht wenige für den Boten einer fremden Intelligenz halten – das Von-Däniken-Syndrom. 


***


Der alte Burckhardtschen Schimpfbegriff der „terribles simplificateurs“ gewinnt hier wieder an Aktualität, etwas variiert: schreckliche Vereindeutiger. Wir können die kognitive Brille nicht abnehmen, aber wir können intentionale und kausale Einäugigkeit vermeiden. Das verlangt erhebliche intellektuelle Anstrengung, und zwar in dreierlei Richtungen: erstens einer Verbesserung und Vertiefung unseres kausalen Verständnisses der Welt; zweitens eines verfeinerten Unterscheidungsvermögens zwischen den Sehstärken des intentionalen und des kausalen Brillenglases – was auf ein neues Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften hinausläuft - ; und drittens des Einübens einer erkenntnistheoretischen Demut, die sich ein-gesteht, dass wir das Weltgeschehen nicht auf «letzte» Akteure oder «letzte» Ursachen zu-rückführen können. Das Credo dieser Demut: Ungewissheit ist eine Erkenntnistugend. Und damit komme ich nun zuletzt doch auf ein Defizit zurück: Verschwörungstheorien – auch Verhirnungstheorien – sind Erklärungsansprüche, denen an erkennnistheoretischer Reife mangelt.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

  Die Geburt des Terrors aus dem Geist des Spektakels Terroristen überbieten sich mit Abscheulichkeiten, genauer: mit der Inszenierung von A...