Donnerstag, 25. März 2021

 





NZZ, 23.3.2021

Literatur aus dem Computer

Was ist künstliche Kreativität?



Kürzlich liess sich der deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann auf die Kooperation mit einem Literatur-Algorithmus ein. Zusammen produzierten sie Kurztexte, Kehlmann mittels seiner schriftstellerischen Fertigkeiten, das KI-System mittels seiner rechnerisch-kombinatorischen Fähigkeiten. Dem Vernehmen nach resultierte die Zusammenarbeit in nicht gerade überzeugenden Beispielen. Das verwundert eigentlich nicht, bietet aber einmal mehr Anlass zur zentralen Frage: Was ist überhaupt künstliche Kreativität?


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Für eine Antwort konsultieren wir jemanden, der wirklich tief über die Algorithmisierung der Intelligenz nachdachte: Alan Turing. Er unterschied zwischen maschineller „Ingeniosität“ und menschlicher „Intuition“. Auf vielen Gebieten unseres alltäglichen Handelns ist Intuition durch Ingeniosität ersetzbar. Gilt das auch für die Kunst? Weicht der Schriftsteller dem Ingenieur? 


Heute ist bekanntlich viel die Rede von lernenden künstlich intelligenten (KI) Systemen: neuronalen Netzwerken. Musiker und Maler bedienen sich vermehrt dem kombinatorischen und exploratorischen Vermögen ihrer Algorithmen.  Der Komponist David Cope schuf zum Beispiel einen Automaten – «Emmy» - zur Erzeugung von Musik aus dem Notenmaterial früherer Komponisten, etwa von Vivaldi, Mozart oder Beethoven. Oft bilden Maler und Programm eine Personalunion, wie etwa Harold Cohen mit AARON oder Simon Colton mit Painting Fool. 2018 generierte ein französisches Künstlerkollektiv mit zwei KI-Systemen ein Porträt, betitelt „Edmond de Belamy“. Es wurde für über 400'000 US-Dollar versteigert. Warum also sollte nicht auch ein Algorithmus literarische Texte aus dem immensen Fundus des Geschriebenen schöpfen? Der Poesieautomat ist ein wiederkehrender Topos der modernen Literatur, von George Orwell über die Surrealisten, Science SF-Autoren wie Fritz Leiber, Experimentatoren wie Max Bense bis zu den «Creative Technologists» von Google. Hans Magnus Enzensberger führte 2000 auf einem Lyrikfestival einen  Poesie-Automaten vor. Mit ihm verfasste er Gedichte, zum Beispiel:


Überflüssige Erpressungen der Gremien, dieser fieberhafte Kunstgenuss am

Wochenende und diese vorgedruckten Zahlungsbefehle: Schleierhaft!

Im Grunde langweilt uns doch manches.

Einstweilen lediglich würgende Lügen. Pünktlich einschrumpfen!

Einflüsterungen: («Deine Freunde sind wieder so spiessig.»)

Im Hinterkopf Nullsummenspiele.


Enzensberger selbst mass seiner Zufallslyrik kaum Bedeutung bei: «Es ist ein Spiel. Wie weit man es mit Sinn auflädt, hängt vom Betrachter ab. Es können Gedichte entstehen, die jemandem was sagen.» 


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Dennoch ist die Frage interessant: Hängt künstlerische Qualität nicht  immer auch vom Zufälligen, Aleatorischen ab. Schon die Musiker des 18. Jahrhunderts ergötzten sich am musikalischen «Würfeln». Wir müssen die Frage heute in den weiteren Kontext von KI-Systemen einbetten. Sie  «sagen» einem nichts, sie „spielen“ mit Informationen, nicht mit Bedeutungen. Und das berührt einen wesentlichen Punkt. Der Sinn eines Kunstwerks steckt auch in den Zielen und Absichten des Künstlers. Ohne Intention kein Sinn. Wie aber will man Intentionen programmieren? Haben die ingeniösen Systeme ein mentales Innenleben?


Intentionalität bedeutet in einer Kurzformel: Mentale Zustände und Vorgänge sind immer auf etwas gerichtet. Wenn wir also bei einem Lebewesen oder Artefakt ein Verhalten beobachten, das «von innen her» auf etwas gerichtet erscheint, dann können wir vermuten, das Lebewesen oder Artefakt manifestiere artspezifische innere Zustände. Wenn zum Beispiel mein Kater vor der Fenstertür miaut, dann bekundet er einen inneren Zustand: seine Absicht nach Auslass. In einem minimalen Sinn könnte man deshalb auch einem künstlichen Autoren innere Zustände attestieren: er hat die «Absicht», seine Belohnungsfunktion für das Schreiben einer guten Geschichte zu maximieren.


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Aber unterstellen wir da nicht einfach Bedeutungen, wo bloss ein maschinelles Bedeutungsvakuum existiert? Nun wird das Problem definitiv dornig. Was ist der Unterschied zwischen absichts-loser Zeichenmanipulation und absichtsvollem Geschichtenschreiben? 


Als eines der Alleinstellungsmerkmale menschlicher Intelligenz gilt das Wäre-wenn-Denken, das Denken im Kontrafaktischen. Ohne ein solches Denken gäbe es keine Kreativität, nirgends. Das Wäre-wenn-Denken kann faktenbasiert sein –  oft eine Notwendigkeit - , es kann auch ohne Fakten auskommen oder sich gar gegen Fakten richten. Wir nennen dies neuerdings alternative Fakten. In der Politik sind sie meist toxisch, in der Literatur unentbehrlich. Fiktion ist Produktion alternativer Fakten. Die Hirnforscher vermuten, dass mit unserer Geburt (wahrscheinlich schon vor unserer Geburt) die narrativen Automatismen unserer neuronalen Anatomie einsetzen. Das Geschichtenerzählen ist eine Keimform des kausalen Denkens, der Von-zu-Struktur: Mutter führt zu Lust, Anstrengung  zu Müdigkeit, Gewalt zu Schmerzen. Interessant in diesem Zusammen-hang ist, dass wir Was-wäre-wenn-Szenarien als semireal erfahren. Das heisst, wie unlogisch, absurd, irreal oder surreal sie sein mögen, sie erzeugen reale Gefühle, oft realer als in der Realität. Um mit Musil zu sprechen: Unser Gehirn entwickelt sowohl einen Wirklichkeitssinn wie auch einen Möglichkeitssinn. Liesse sich ein solcher Möglichkeitssinn auch in Maschinen implementieren?


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Es gibt Ansätze dazu, «Algorithmisierung des Kontrafaktischen» genannt. Das bedeutet einfach, dass man den neuronalen Netzwerken beizubringen versucht, mit Was-wäre-wenn-Fragen umzugehen, sprich: Daten nicht nur zu analysieren, sondern zu interpretieren. Entwickeln sie dadurch Kreativität? Sie werden jedenfalls in Zukunft immer mehr über narrative Techniken des Plots, der Zeichnung von Charakteren, des Stils lernen, und daraus Kombinationen generieren. Und dadurch können sie uns helfen, das Geheimnis literarischer Kreativität tiefer zu ergründen. Auf dem Gebiet der Entwicklung solcher KI-Systeme ist schon so etwas wie ein Hype der künstlichen Kreativität ausgebrochen. Im September 2020 publizierte der englische «Guardian» die Kolumne eine Deep-Learning-Computers namens GPT-3. Sie verblüfft durch argumentative Klarheit. 


Spielt es eine Rolle, ob ein Text von einem Autor oder von GPT-3 geschrieben ist? Ja, natürlich. Nur ein Aspekt sei hier angetippt: Es gibt eine kritische Asymmetrie im Vergleich von Mensch und Computer. Menschen werden eher computerartig, als Computer menschenartig. Woraus be-sorgte Bewahrer des Humanen die Befürchtung ableiten, die KI-Systeme könnten uns nach der kosmologischen, biologischen und psychologischen nun die computertechnische Kränkung zu-fügen: Sind wir Menschen denn nicht auch Computer? Gewiss, aber das ist eine Trivialität. Wir können uns immer nach dem Modell der jeweils avanciertesten Computer konzipieren. Die eigentliche Aufgabe ist jedoch eine umsichtige Symbiose von menschlicher und maschineller, zumal artistischer und artifizieller Intelligenz. Sie erlaubte uns, fallweise vermeintliche Differenzen aufzulösen oder neue Differenzen zu entdecken. So unterschieden wir bis vor kurzem künstliche und menschliche Intelligenz anhand von Merkmalen wie «digital» und «analog». Die neuronalen Netze lassen die Differenz als hinfällig erscheinen. Dagegen erweist es sich als eine sehr harte Nuss, neuronalen Netzen kontrafaktisches Argumentieren oder den Umgang mit Mehrdeutigkeiten beizubringen. Dazu braucht es auch das reiche kulturelle Repertoire und Gedächtnis, an dem sich ein Mensch individuell beteiligt und das seinen intuitiven Fundus nährt. Vielleicht lehrt uns ja die Ingeniosität des Computers mehr über Arten menschlicher Intuitivität, als wir erwarten und ahnen.


Aufs Ganze gesehen, markiert der Poesieautomat eine neue Runde in der alten kantischen Debatte: Was ist der Mensch? Die Frage lässt sich tröstlicherweise nie abschliessend  beantworten. Klugerweise gewähren wir den KI-Systemen die Mitbeteiligung an einer Antwort. Sie sind ja unsere Ausgeburt. Mehr nicht.


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