Dienstag, 9. März 2021

 Eduard Kaeser






NZZ, 4.März 2021

Wenn das Coronavirus eine genetische Bastelei wäre



Kürzlich stellte der Festkörperphysiker Roland Wiesendanger eine Hypothese auf: SARS-Cov-2 stammt nicht aus der Natur, sondern ist ein gentechnisches Laborprodukt. Damit sorgte er für beträchtlichen Wind, nicht nur in der Wissenschaft, sondern vor allem in den Medien. Wie stich-haltig die Hypothese ist, sei hier dahingestellt. Wichtig ist sie auf jeden Fall, aus mindestens drei Gründen.


Wiesendanger trug zur Untermauerung seiner Hypothese eine Vielzahl von begutachteten und nicht begutachteten Fachartikeln zusammen, daneben auch Zeitungsberichte oder YouTube-Videos. Prompt warf man ihm Unwissenschaftlichkeit vor. Ein Journalist hielt mit seiner Voreingenommenheit nicht hinter dem Berg, als er Wiesendanger provokant unterstellte, «wissenschaftliche Standards zu unterlaufen», um beim Laienpublikum zu punkten. Dabei versteht man Wiesendangers Artikel, bei allen seinen Schwächen,  am besten als Anregung zum Was-wäre-wenn-Denken: Was, wenn es sich in Wuhan nicht um eine «Naturkatastrophe», sondern um einen Laborunfall handeln würde? Solches sogenannt kontrafaktische Denken ist völlig seriös, vor allem dann, wenn es darum geht, eine Konkurrenzhypothese zur Mehrheitshypothese der Zoonose aufzustellen, das Coronavirus sei von einem «natürlichen» Tier auf den Menschen übergesprungen.  Denn obwohl man bisher keinen Zwischenwirt gefunden hat, herrscht offenbar ein Konsens in der Scientific Community, der keine andere Hypothese als jene der Zoonose akzeptiert. Man nennt das gemeinhin ein Dogma. Wenn Wiesendanger es attackiert, ist er deswegen kein Verschwörungstheoretiker. Denn er weiss, dass seine Hypothese falsifizierbar ist. 


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Eine Journalistin meint, die Hypothese von Wiesendanger sei «toxisch» gerade in Ermangelung einer «logischen Kausalkette». Sie denkt vielleicht an den rauchenden Colt als definitives Beweis-stück, aber das ist eine naive Vorstellung. In verästelten epidemiologischen Zusammenhängen findet man keinen solchen Colt. Klassisch schliessen wir vorwärts, von der Ursache auf die Wirkung: vom Colt auf den Toten. Aber in der Epidemiologie – und ohnehin auf den meisten relevanten Problemfeldern der heutigen Wissenschaft – schliessen wir rückwärts, von der Wirkung auf die Ursache(n): vom Virus auf seinen Ursprung. Dieser Schluss liefert keine «logische Kau-salkette», wohl aber eine mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese. In der Statistik hat sich schon seit einiger Zeit die Bayes-Methode durchgesetzt, um von Daten auf  Hypothesen zurück-zuschliessen. Sie lehrt uns im Besonderen, mit dem Etikett «unwahrscheinliche Hypothese» vorsichtig umzugehen. Es ist keine Disqualifizierung, sondern Anlass zu echter Forschung. Häufig verwandeln sich nämlich unwahrscheinliche Hypothesen, die der Intuition oder fixen Meinung widersprechen, bei neuer Datenlage in ziemlich wahrscheinliche. Der amerikanische Pharmakologe Steven Quay verglich kürzlich mit der Bayes-Methode die beiden Haupthypothesen über den Ursprung der Pandemie: Labor oder Wet-Market. Er ging von einer sehr geringen Wahrschein-lichkeit der ersten und einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit der zweiten Hypothese aus, und korrigierte sie sukzessive anhand von Datenmaterial aus  26 unabhängigen Studien. Die Wahrscheinlichkeit der Laborhypothese stieg schliesslich auf fast 100 Prozent. Ich möchte jetzt nicht suggerieren, damit sei sie nahezu «sicher». Der springende Punkt ist ja, dass derartige Berechnungen sensibel von unserem Kenntnisstand abhängen. Und gerade dieser Kenntnisstand entpuppt sich in der Virenforschung als eine heikle Sache, werden doch wichtige Datenbanken oft unter Verschluss gehalten - nicht nur in China. Einem Aussenseiter bleibt dann nur ein Weg offen: sich auf eigene Faust durch das vorhandene Datenmaterial zu schlagen. Wie Wiesendanger. 


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Schon 2020 lehnte sich der Mitentdecker des HI-Virus und Nobelpreisträger Luc Montagnier weit aus dem Fenster, als er die These vertrat, das Genmaterial von SARS-Cov-2 enthalte «unnatürliche» HIV-Sequenzen, könne also nur zusammengebastelt sein. Auch Montagnier erhielt mediale Prügel. Meiner Meinung nach muss man aber seine These, ungeachtet ihrer Stichhaltigkeit, in einem erweiterten Kontext sehen. Eine saubere Trennung von Natürlichem und Künstlichem erweist sich heute als immer unplausibler. Schon vor Jahrzehnten sprach der Philosoph und Soziologe Bruno Latour davon, dass die meisten ökologischen Phänomene – und die Pandemie ist eines – «Hybride» aus gesellschaftlichen und natürlichen Faktoren seien. Auch ein Wildtiermarkt ist ein Hybrid. Und ohnehin bedroht uns die Natur nicht nur «von aussen», sondern zunehmend «von innen», gerade im Zeitalter der Gentechnik. In den Labors schnipselt man eifrig am Genmaterial von Organismen herum, um Chimären herzustellen. Wie sie sich in die planetarische Ökologie integrieren, weiss niemand. Wiesendangers Hypothese mag sich als falsch erweisen, begrüssenswert ist seine wissenschaftliche Demarche allemal - als mikrobiologisches Memento. 





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