Donnerstag, 4. Februar 2021

 




NZZ, 28.1.2021

Pascals Wette und der Glaube an den Impfstoff

Wissenschaft «weiss» nicht



Blaise Pascal stellte eine berühmte Kosten-Nutzen-Rechnung über den Gottesglauben an. Was bringt er mir? Wenn Gott existiert, verspricht der Glaube ewige Glückseligkeit; dagegen bestraft Gott den Unglauben mit ewiger Verdammnis. Wenn Gott nicht existiert, dann ist es ziemlich egal, ob man an ihn glaubt oder nicht. Summa summarum beschert mir der Glaube Glück, mit dem Unglauben riskiert man Elend. Und zwar ungeachtet, ob Gott nun existiert oder nicht. 


Ich will damit nicht insinuieren, der Gottesglaube sei ein religiöses Placebo. Aber mit diesem Argument – als «Pascals Wette» in die Geschichte eingegangen –  lässt sich überraschenderweise ganz profan eine Analogie zur Pandemie herstellen. Es geht nicht um den Glauben an Gott, sondern an die Wirksamkeit eines Vakzins gegen Covid-19. Man könnte nach dem pascalschen Schema folgendermassen argumentieren: Wenn die Impfung wirkt, dann bedeutet der Glaube an sie den kleinstmöglichen, der Unglaube – die Ablehnung - dagegen den grösstmöglichen Schaden. Wenn die Impfung nicht wirkt, dann ist es im Grunde egal, ob ich impfe oder nicht. Also ist die Impfung vorzuziehen, ungeachtet, ob sie wirkt oder nicht.


Nun erscheint das Argument auf den ersten Blick ziemlich dünn, wenn nicht gar als Witz, geht es gar nicht explizit auf die Sachlage ein – ob die Coronavakzine wirksam sind oder nicht. Aber Pascals Wette ist viel tiefgründiger. Sie weist uns darauf hin, dass sich Sachfragen nicht von Haltungen und Interpretationen trennen lassen, gerade wenn es um öffentliche Güter wie Gesundheit geht. Die anschwellende Kakophonie der Impfgegnerchöre ist unüberhörbar. Es wäre indes eine grobe Simplifikation, rechnete man sie alle dem Schlag der Ignoranten, Verschwörungstheoretiker, Naturheiler oder Obskurantisten zu. Man nimmt sie am besten ernst, indem man sie in ein Gedankenexperiment einbezieht: Covid-19 ist sicher ein Risiko für den Menschen. Sollte man deshalb eine Pascalsche Wette auf das Impfen abschliessen? Betrachten wir kurz einige skeptische Punkte.


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Zunächst: Ein Impfstoff überlistet eigentlich den Körper. Er macht unser Immunsystem «glauben», ein Virus dringe ein. So schaltet unser Körper auf den Abwehrmodus, er produziert Antikörper und ist dadurch gewappnet, wenn eine wirkliche virale Invasion stattfindet. Nicht wenigen Leuten kommt dies wie ein Trick gegen die Natur vor. Der Vorwurf der «Widernatürlichkeit» des Impfens ist alt.  Man sollte dem eigenen Körper vertrauen, «weiss» er nicht am besten, wie auf die Virenattacke zu reagieren ist?  Impfgegner monieren gern, dass man bloss gesund und hygienisch leben müsse, um die Widerstandskräfte des Körpers zu aktivieren. Also greift man in die Truhe der Tradition, zu Schwarzkümmel mit Honig, Grüntee oder zu frischer Luft und frischem Gemüse. Warum impfen, wenn wir auf natürliche Weise den Virenangriff überstehen? 


Dieser Einwand hat durchaus einiges für sich – wenn man an «traditionelle» Erkältung oder Grippe denkt. Nur stellt sich die Natur in Gestalt des Coronavirus als launischer  -  sprich: mutationsfreudiger -  als bisher erwartet heraus. Man kann kaum voraussehen, wie der Körper – auch der kerngesunde -  «von Natur aus» darauf reagiert, das heisst, ob der Infekt einen schweren oder milden Krankheitsverlauf zur Folge hat. Zudem gilt allgemein: Die «Natur» des menschlichen Körpers ist keine Naturkonstante. Der Körper passt sich an ändernde Umweltbedingungen an, in modernen Zeiten vermehrt an künstliche Umweltbedingungen. Er ist ein Hybrid aus natürlichen und künstlichen Komponenten. Gut möglich, dass die mikrobische Herausforderung in Zukunft sogar noch wächst, womit das Impfen quasi zur «neu-natürlichen» Ausstattung des Menschen werden könnte.


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Das wirft die Frage der längerfristigen Folgen auf. Ungewissheit besteht vor allem bei neuartigen Impfstoffen, die auf Genmaterial wie der Boten-Ribonukleinsäure (mRNA) basieren. Tatsächlich imitiert man hier einfach das Virus. Es spritzt seine mRNA in die Wirtszelle, und zwar über das infame Spike-Protein – die «Corona».  In der mRNA des Virus ist die Information zur Produktion weiterer Viren enkodiert. Nun reduziert man mit der Sequenzierungstechnik die mRNA in den Impfstoffen genau auf die Teilinformation für den Bau des Spike-Proteins. Spritzt man das Vakzin,  stellen Körperzellen dieses Protein her und das Immunsystem mobilisert Antikörper. Mehr nicht. Die Information, wie das Virus zu kopieren ist, fehlt.  Man verkehrt mit dieser Impftaktik quasi das Virus in seinen eigenen Feind. 


Nun sind in diesem Zusammenhang häufig Bedenken über Genmodifikation und deren teils wenig bekannten potenziellen Risiken zu hören. Könnte ein solches Vakzin nicht das menschliche Genom modifizieren? Der wissenschaftliche Konsens tendiert eindeutig zu einer negativen Antwort. Die injizierte mRNA dringt nicht in den Zellkern ein, wo die Erbinformation gespeichert ist. Zudem zerfällt sie bei Normaltemperatur innert Tagen. Sie könnte nur als DNA-Molekül (Desoxyribonucleinsäure) zum permanenten Teil unserer Erbsubstanz werden – und selbst dann, wäre die Wahrscheinlichkeit eines Einbaus ins Erbmaterial gering. Die Impfart über die mRNA könnte sich als die zukunftsträchtigste erweisen. 


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Ein anderer Punkt betrifft die Interessen hinter den Impfprogrammen. Natürlich hat Big Pharma den Braten gerochen. Und hier treten die Verschwörungstheoretiker auf den Plan. Kennen wir nicht all die Geschichten über das Herunterspielen von Risiken, rufen sie, über frisierte Studien, tödliche Nebenwirkungen, schlampige Forschung, gefälschte Impfstatistiken, obszöne Preistreiberei bei Medikamenten, und vieles mehr, was sich in der klinischen Hermetik  der Laboratorien abspielt? Ohne Zweifel existieren solche Praktiken. Aber von dieser Anormalität auf den normalen Stil der Forschung zu schliessen, ist ein riskanter Fehlschluss. 


Verweilen wir kurz bei diesem Punkt. Generell kann man sagen, dass Impfungen einen der grössten biomedizinischen Fortschritte markieren. Man denke an Pocken, Cholera, Polio und Aberdutzende andere Killerpathogene, die zwar nicht ausgerottet, aber doch dramatisch zurückgedrängt worden sind.  Das macht uns keinesfalls zu Herrschern über die Mikrobenwelt. Aber wir können daraus eine robuste Zuversicht in die Strategie des Impfens ableiten. Gefährlich bis fatal wird der Fehlschluss von der Anormalität auf die Normalität, wenn er einer grundsätzlichen Skepsis in die wissenschaftlichen Methoden Vorschub leistet. Ohne Zweifel sind auch sie mit Ungewissheiten «kontaminiert», aber ihre intellektuelle Unschätzbarkeit liegt im Bewusstsein der Ungewissheit. Weil die Wissenschaft nicht «weiss», macht sie Fortschritte. Und genau darin hebt sie sich ab von vielen Impfgegnern oder Pseudowissenschaftern. Diese «wissen» oft absolut und unbeirrt, wie die Welt tickt. Sie haben den «unverstellten» Blick. Ein untrügliches Zeichen für ihre wissenschaftliche Kreditunwürdigkeit. Wenn ich am Anfang sagte, man solle Impfgegner ernst nehmen, dann füge ich jetzt an: nur jene, die nicht «wissen». Exakt aus diesem Bewusstsein resultiert auch Pascals Wette: Gerade unser Unwissen über die Existenz Gottes  macht den Glauben an ihn plausibel.


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In diesem Bewusstsein sollten wir auch die Impfdebatte führen. Wetten schliessen wir ab in Situationen mit ungewissem Ausgang. Auch Tests von Impfstoffen sind im Grunde Wetten. Sie hängen ab von statistischen Erwägungen, letztlich vom Zufall. Die wegweisende Idee Pascals war, durch den «Glauben» - aus der Abwägung von Nutzen und Risiken - diesen Zufall in den Griff zu bekommen. Wahrscheinlichkeitstheorie nennt sich das heute – das mächtigste intellektuelle Werkzeug für das 21. Jahrhundert. Pascals Wette ist kein zwingender Beweis, aber in allem Für und Wider um den Impfstoff könnte es von Vorteil sein, diese Wette zu beherzigen, das heisst, einzugestehen, dass wir nicht «wissen», sondern «glauben». Wie sagt doch der Volksmund: Glauben macht selig.


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