Freitag, 22. Januar 2021

Das Unbehagen in der körperlosen Kultur





NZZ, 16.1.2021

Fragen aus der Beklemmung des Lockdowns

Isaac Asimov, der hellsichtige Visionär unter den Science-Fiction-Autoren, schildert in seinem Roman „Die nackte Sonne“ (1957) eine zukünftige Zivilisation auf dem Planeten Solaria, wo die Zahl der Computer und Roboter die Zahl der Menschen um das Zehntausendfache übertrifft. Solarianer meiden physischen Kontakt und Gruppenbildungen – sie haben eine Agoraphobie. Kommuniziert wird deshalb nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, sondern nur noch über holografische Telepräsenz. In Solaria ist es ebenso leicht, einen Kontakt über eine grosse Distanz wie in der Nachbarschaft zu knüpfen, oder genauer: den Unterschied gibt es nicht mehr, nur noch virtuelle Bekanntschaften. Die Bindungen sind so schwach und beliebig geworden, dass neu geknüpfte Verhältnisse völlig unabhängig von bereits vorhandenen rein zufällig entstehen. Es gibt also kaum soziale „Klumpenbildungen“ wie Familien, Vereine, Klubs oder Parteien. Eine neue Gleichheit hat sich unter Menschen etabliert: jeder ist gleich verfügbar und zugänglich.


Die Pandemie hat uns sozusagen eine neue Agoraphobie beschert. Das Jahr 2020 wird uns wohl in Erinnerung bleiben als ein globales Experiment im Distanzhalten. Wir exilieren uns zuhause, verdächtigen schon fast instinktiv die Nähe des anderen Menschen als Gefahrenherd. Wir existieren sozusagen in molekularer Isolation, können uns mit anderen nicht zu einem grösseren Aggregat zusammenfügen, im Stadion, im Club, bei festlichen Anlässen, ja, gar in der Familie. Zugleich verstärkt aber gerade der Lockdown wie nie zuvor das Bedürfnis nach Geselligkeit, und wie ich meine, manifestiert sich hier ein tiefer ungelöster Widerspruch unserer technisierten Lebenformen. Ich nenne ihn das Unbehagen in der körperlosen Kultur. 


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Viele Menschen machen jetzt im Homeoffice eine existenzielle Erfahrung:  Ich bin eingesperrt. Seit alters verdichten die Philosophen diese Erfahrung in der Frage, wo denn die Grenze zwischen Ich und Welt liege: Wer bin ich, wo höre ich auf und beginnt die übrige Welt? Wir sind bewusste Wesen, die „ich“ sagen können. Was aber ist eigentlich dieses Ich, das wir als unseren ureigensten Besitz reklamieren? Wo finden wir es? In unserem Körper, sagen wir. Aber wo genau im Körper?


Gewöhnlich betrachten wir die Haut als natürliche Grenze, die das Ich „drinnen“ von der Welt „draussen“ trennt. Das ist allerdings zu simpel gedacht. Die Haut meiner Hand zum Beispiel bildet die physische Grenze zur Umgebung. Aber meine manuellen Aktivitäten bringen meine Hand in zahlreiche taktile Kontakte mit Objekten der Umgebung: ich ergreife sie, drücke sie, ziehe an ihnen, liebkose sie. Dadurch wohne ich ihnen in gewissem Sinn ein. Die Geschicklichkeit mit Werkzeugen, Musikinstrumenten oder Sportgeräten beruht zum Beispiel wesentlich auf diesem „Einwohnen“. Generell erfolgt der Erwerb von kogni-tiven Fähigkeiten grösstenteils über den Weg des Umgehens mit Objekten, des Zurechtfindens in Umgebungen. Ich befinde mich immer auch irgendwo „draussen“, in den Dingen, oft intensiver, als mir das bewusst ist. Was uns als Selbste ausmacht, hängt entscheidend davon ab, wo wir uns befinden und welche Tätigkeiten uns offen stehen. Das ist eine ganz banale Erfahrung. In einer fremden Umgebung fühle ich mich nicht nur nicht zuhause, sondern auch, dass ich nicht ganz „ich“ bin – Ich und Ort sind auf eine vitale Weise verschränkt.


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Jeder Mensch hat seinen persönlichen Umraum, in dem er sagen kann: Ich bin bei mir. Die Pandemie verkleinert diesen Umraum, und dadurch erleben jetzt viele Leute diese Verkleinerung als Einschränkung ihres Ichs.  Am Bildschirm und Touchpad ist die Welt abgerückt in eine Telepräsenz, sind wir Monaden von Internets Gnaden. Spätestens hier melden sich allerdings die Cyberevangelisten zu Wort: Entspricht dies nicht ohnehin unserem immer normaler werdenden Umgang miteinander? Stehen uns denn nicht gerade in den digitalen Netzwerken coronafreie Ausweichsmöglichkeiten der Geselligkeit zur Verfügung? Videokonferenz, Videounterricht, Videotanzkurs, vielleicht bald Videoreisen und Videoskifahren - tendiert die sich ausbreitende Virtualität aller unserer Tätigkeiten nicht generell zu einem immer reduzierteren Engagement unseres Körpers?


So plausibel die Fragen im Kontext unseres digitalisierten Alltags klingen, sie zwingen uns, diese „ätherische“ Geselligkeit genauer unter die Lupe zu nehmen. In der Coronakrise manifestiert sich deutlich eine Dialektik der Virtualisierung. Das heisst, ausgerechnet Leute, die sich vermehrt zu einer Telepräsenz gezwungen sehen, bekunden ihr Unbehagen an ei-nem Defizit, das man vielleicht am besten als Begegnungslosigkeit bezeichnen kann. Wie es scheint, gehört zur Geselligkeit wesentlich die körperliche Begegnung. Der bloss elektronisch vermittelte Kontakt ersetzt nicht die konkrete physische Präsenz des anderen Menschen. Im Bildschirm begegnen wir ja nicht Personen, sondern Datenpaketen. Deshalb kann man sich, zu bloss elektronischem Verkehr am Bildschirm verdonnert, depriviert fühlen – als nicht ganzer Mensch. Das Gefühl wurde auch schon als „Bildschirm-Apnoe“ bezeichnet.


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Der Lockdown erinnert uns, umgekehrt gesagt, daran, wie eng und stark unser Körper – sprich: unser Ich -  mit seiner Umwelt verschränkt ist. Wir leben körperlich in einer Ökologie der Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Ein Körperteil gehört nicht nur anatomisch zu mir, er ist in einen persönlichen Verhaltensspielraum eingebettet. Zum Beispiel meine Hand: Sie definiert nicht mein Verhalten, mein Verhalten definiert sie. Einen Leib haben, schrieb der Philosoph Maurice Merleau-Ponty verallgemeinernd, „heisst für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu zuzugesellen, sich mit einem bestimmen Vorhaben zu identifizieren und sich darin ständig zu engagieren.“ Genau dies trifft auf die Entzugserfahrung vieler Menschen in der Pandemie zu: Sie finden nicht mehr zu „ihrem Milieu“ – im Club, im Stadion, in der Gesprächsrunde, in der Familie. Sie erfahren sich als entsprechend verhaltens-amputiert und damit als körperlos.


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Es gehört zweifellos zum technischen Fortschritt, dass er uns zunehmend in ein distanziertes Verhältnis zur Welt rückt. Ein augenscheinliches Symptom dieses Prozesses sind die Knöpfe und Tasten, die heute fast jedes Gerät trägt. Der Schweizer Physiker Emil Kowalski sprach in den 1970er Jahren von der „Drucktastenzivilisation“. Heute wäre „Touchscreenzivilisation“ das adäquate Kürzel für die Mentalität, alles sofort per leichter Fingerberührung zur Verfügung zu haben. 


Aber diese Berührungssensibilität der Geräte ist im Grunde eine technisch aufgemotzte Form unseres Berührungsverlustes mit der Welt. Die Touchscreenzivilisation arbeitet ins-geheim an der Abschaffung des Körpers. Darüber kann auch nicht der Körperkult hinweg-täuschen, der in Sport, Mode, Film, Kunst, Werbung grassiert. Er überstrahlt als Status-symbol, Markenzeichen, Kapitalanlage, Warenfetisch die Arbeits- und Lebensformen einer Zivilisation, die ihm oberflächlich umso mehr huldigt, je entbehrlicher sie ihn im Grunde macht. 


Jetzt ruft uns das Virus unseren Körper auf eine ganz andere Weise in Erinnerung: als an-fällig, schutz- und hilfsbedürftig, verletzlich, nie ganz verfügbar. Man kann darin eine heil-same existenzielle Erfahrung sehen: Ich bin mein Körper, und dieser Körper widerfährt mir! In dem Masse, in dem wir uns jetzt durch unsere Körperlichkeit eingeschränkt fühlen, in dem Masse kann uns das Bewusstsein, einen Körper zu haben, ein Körper zu sein, auch befreien. Womöglich wachen wir nach der Beklemmung des Lockdowns zu einer ganz ba-nalen neuen Normalität auf: Wie sehr die technischen Medien unseren Körper entbehrlich erscheinen lassen, wie sehr er in den ungeheuren Bitwolken zu verschwinden droht - er bleibt das atmende, poröse, pulsierende Urmedium des Lebens und Denkens, und es ist an der Zeit, mit ihm wieder einmal zur Welt zu kommen: dem Web der realen Personen und Dinge. Ich deute das als ein Evangelium. 


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