Sonntag, 20. Dezember 2020

Homo fingens - der gaukelnde Mensch



NZZ-Podium, 20.10.2020





Ich lege im heutigen Podiumsthema – „Die Erfindung der Wahrheit“ – das Gewicht bewusst nicht auf die Wahrheit, sondern auf das Erfinden, die Fiktion. Denn nichts scheint mir den Menschen treffender zu charakterisieren als das Fingieren, das Fabulieren, Simulieren. Er ist nicht nur ein Homo faber, sondern auch ein „Homo fingens“: ein fingierender, erfindender, gaukelnder Mensch. Lassen Sie mich diesen „Homo fingens“ kurz an drei Phänotypen konkretisieren, die alle mit Sprache und der sprachlichen Vermittlung von Wahrheit zu tun haben: am Romanautor, am Wissenschafter und  - nun ja: am Journalisten. 


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Ein Roman erzählt eine erfundene Geschichte. Lügt er deshalb? Kaum jemand behauptet so etwas. Aber auch kaum jemand nimmt das, was in einem fiktiven Werk steht, für bare Wahrheit. Weder wahr noch eine Lüge – was dann? Hier stellt sich die Frage nach dem Tertium datur, nach einer eigenen Kategorie des Nicht-die-Wahrheit-sagens. Es gibt ein bekanntes Postulat in der Sprachphilosophie, das der Fiktion einen sogenannten nicht-assertorischen Charakter zuschreibt: sie zielt nicht ab auf Aussagen, die wahr oder falsch sein können. Deshalb reagieren wir in der Regel auf fiktive Falschheiten anders als auf Falschheiten, die von Wissenschaftern, Politikern oder Journalisten geäussert werden. 


Der Romanautor hat primär eine evokative Aufgabe. Er beschwört fiktive Welten. Indem er vorgibt – „fingiert“ -, über eine reale Person zu reden, nimmt er eine bestimmte Sprachfunktionen in Anspruch: die Referenz, das Feststellen eines Sachverhalts. Er muss aber nicht ausserhalb des Textes verifizieren, was er innerhalb des Textes schreibt. Natürlich kann er Fehler machen. In der Regel beeinträchtigen solche Fehler nicht die Qualität des Romans. Der Romanautor tut so, als ob er Feststellungen über die Welt träfe. Und dieses Sprachspiel des Als-ob nennen wir die Kunst des Romaneschreibens, die Kunst des Kontrafaktischen. Der Autor lädt uns ein, an diesem Spiel teilzunehmen und insoweit wir uns darauf einlassen, tun auch wir, als ob die fiktiven Figuren existierten. Wir schliessen mit dem Autor einen narrativen Pakt. Fiktion beruht auf dieser magischen Kollusion von Autor und Leser. 


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Im Gegensatz zum Romanautoren macht der Wissenschafter assertorische Aussagen, das heisst, er fingiert nicht, er hält sich an die Fakten. Er sagt nicht: Ich evoziere eine Welt der Elementarteilchen, bitte tritt ein - er sagt: Die Welt besteht aus Elementarteilchen. Punkt. So zumindest lautet das Klischee. 


Es bedarf einer Korrektur. Die modernen Naturphilosophen der ersten Stunde traten an die Natur wie an einen fremden Text heran, den sie zu entschlüsseln suchten. So schreibt Descartes in seinen „Regeln zur Leitungs des Geistes“ (Regel 10):  „Wenn wir etwa ein Schriftstück lesen wollen, das durch unbekannte Zeichen unkenntlich gemacht ist, so zeigt sich hier zwar keine Ordnung, aber wir fingieren eine, teils um alle Vorurteile zu prüfen, die man in bezug auf die Schriftzeichen (..) haben kann (..), teils um die Ordnung so anzu-legen, dass wir alles erkennen, was wir aus (den Schriftzeichen) deduzieren können .“


Das ist eine bemerkenswert genaue Charakterisierung des neuzeitlichen exakten Wissenschaftsstils: Er hält uns dazu an, eine hypothetische Ordnung zu „fingieren“, und die Fiktionen anhand von Deduktionen und Experimenten zu prüfen. Der Wissenschafter fragt also nicht nur nach dem faktischen „Was ist?“, sondern immer auch nach dem kontrafaktischen „Was könnte sein?“ Zum Beispiel: Was wäre, wenn die Erde kugelförmige Gestalt hätte; was wäre, wenn es Paralleluniversen gäbe; was wäre, wenn alle Lebensformen sich einem vertrackten evolutionären Zufallsspiel verdankten? „Was wäre, wenn ... ?“ –  das ist die Urfrage des Romanautors.  


Kurz: Nur wer erfindet, findet. Heutige Fakten sind gestrige Fiktionen. Die grössten Leistungen der forschenden Neugier entstammen einem kontinuierlichen Gespräch über „er-fundene“ Dinge, auch und gerade in der Wissenschaft. Vieles stellte sich als tatsächlich inexistent heraus. Allerdings gehören heute auch Dinge zum technischen Alltagsinventar, deren Existenz man noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezweifelte: Atome und Elektronen. Antimaterie - zum Beispiel das Positron - galt in den 1930er Jahren als inexistent, ja, absurd, heute braucht man sie in bildgebenden Verfahren der Medizin, in der Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Sagen wir nie: Das gibt es nicht! Bald gibt es vielleicht dank Gentechnologie Einhörner mit Flügeln.


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Journalisten pflegen – zumindest bis vor kurzem -  das Ethos des Ermittlers. Nun hat in den letzten zwei Dekaden ein Journalismus an Gehör und Einfluss gewonnen, der sich von diesem Ethos abkehrt und sich dem Ethos des Beschwörers zuwendet. Er bedient sich der Mittel des Romanschreibens, aber er ist nicht Fiktion. Er ist Fake. 


Das Fake parasitiert sozusagen die investigative und die evokative Aufgabe. Die Fiktion erzählt Geschichten über eine erfundene Welt. Das Fake erfindet Geschichten über die reale Welt. Beim Roman akzeptieren wir die Erfindung. Ja, wir werten sie als Kunst. Ein Fake dagegen kann noch so herausragende literarische Qualitäten aufweisen, die Falschheit sei-ner Aussagen disqualifiziert es als Lüge. Der narrative Pakt, der den Romanleser mit dem Autor verbindet, kann dem Fake gerade nicht als Basis dienen. Aussagen von Conan Doyle über Sherlock Holmes oder von Günter Grass über Oskar Mazerath sind keine Lügen, Aussagen von Claas Relotius über seine todkranke Schwester oder von Tom Kummer über Sharon Stone dagegen schon. 


Man kann Relotius, Kummer und Konsorten als Indikatoren des heutigen Mediotop betrachten. In ihm verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion immer mehr. Wenn also der Borderline-Journalismus – so nennt ihn Kummer – dieses Mediotop als sein natürliches Habitat definiert, dann artikuliert er die zentrale erkenntnistheoretische Frage: Gibt es ein verlässliches Mittel, Fakten von Fabeln zu unterscheiden? Können wir Menschen eigentlich nicht nicht fabulieren? Wir leben nicht nur in einem Zeitalter des Mul-ti-Kulturalismus, sondern auch des Multi-Expertismus oder des Egalitarismus der Experten. Das erfahren wir ja gegenwärtig in der Coronakrise. Das Vertrauen in die Wissenschaft schwindet. Horden von selbsterklärten Experten fallen nun in dieses Vertrauensvakuum ein, lassen sich auf allen Gebieten nieder, von der Klimatologie bis zur Bakteriologie. Und nicht selten vertauschen sie Kausalfragen mit Schuldfragen: ein gedeihlicher Sumpfboden für Konspirationstheorien.


Wir geraten in einen Vertrauenszirkel. Um zu entscheiden, welchen Experten zu trauen sei, muss ich auf weitere Experten rekurrieren, also ihnen vertrauen. Ich lande so letztlich beim Vertrauen in meine eigene Urteilsfähigkeit, und ich weiss gleichzeitig, dass ich dieser Urteilsfähigkeit ebenfalls kein absolutes Vertrauen schenken kann. Aus diesem Zirkel führt kein Ausweg. Wir berufen uns auf das eigene Urteil, ohne es hinreichend begründen zu können. Das bedeutet nicht, dass wir immer grundlos urteilen, sondern dass wir unser Urteil als stets prüfbedürftig betrachten. Also nicht nur „Wage zu wissen“, sondern auch „Wage, dein Wissen zu prüfen“. Das charakterisiert den aufgeklärten Homo fingens. 


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Was mich am Ende doch noch zum Begriff der Wahrheit führt. Ich möchte vom Willen zur Wahrheit sprechen. Er ist konservativ. Und was bewahren wir mit ihm?  Ganz einfach, Vertrauen in den anderen: ein Wohlwollen, das ihm nicht a priori täuschenden Vorsatz, feindliche Haltung oder Verschwörungsabsichten unterstellt. Nur ein solches Wohlwollens garantiert so etwas wie einen verbindlichen Wirklichkeitsbezug. Und man kann es nicht erfinden, man muss es erarbeiten, mühsam und immer wieder. Wahrheit steht und fällt mit diesem Wohlwollen. 




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