Mittwoch, 2. Dezember 2020








NZZ, 28.Nov. 2020 


Intellektuelle Ansteckung 
Eine Epidemiologie der Ideen 


 Es gibt Ansteckung durch Viren, und es gibt Ansteckung durch Gedanken – im Netz auch „Meme“ genannt. Während biologische Epidemien eher unerwünscht sind, kann man das von intellektuellen Epidemien nicht unbedingt behaupten. Ausbrüche von Ideen aus der „Nische“ eines einzelnen Denkers kennzeichnen entscheidende Disruptionen einer kultu-rellen Entwicklung. Auch wenn sich gegenüber biologischen Analogien immer ein gewisses Fingerspitzengefühl empfiehlt, erscheint es verlockend, den intellektuellen Ansteckungs-prozess einmal aus epidemiologischer Sicht anzuleuchten. 

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 Analogisieren wir also freiheraus. Wir sind empfänglich für gewisse Ideen und immun gegen andere. Einmal angesteckt, können wir, nach einer bestimmten Inkubationszeit, an-dere anstecken. Nehmen wir ein Beispiel aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts, die Psychoanalyse. Sie ist, nach dem bissigen Wort von Karl Kraus, die Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält. Freuds Schriften trugen den infektiösen Stoff, der anfällige Leser wie Jung, Abraham oder Ferenczi ansteckte. Diese wurden nach einer Inkubations-zeit zu Wirten des psychoanalytischen Virus. Dabei entwickelte Jung eher eine erworbene Widerstandsfähigkeit gegen die Krankheit, wogegen der Widerstand der Wiener Ärzteschaft wohl einer angeborenen Immunität entsprach. Die Geschichte der Psychoanalyse in ihrer ersten Phase liest sich wie die Chronik einer Epidemie. Analoges lässt sich auch etwa über Newtons Mechanik, Darwins Evolutionsthe-orie, Cantors Mengenlehre, Keynes Beschäftigungstheorie sagen. Die Epidemien sind kei-nesfalls auf die Wissenschaft beschränkt. Man denke an das Gedankengut von Christus, Buddha oder Mohammed – wahre religiöse Pandemien -, von Kant, Marx oder Nietzsche. Sie sorgten für Gedankenepidemien in ihren Kreisen. Die quartären Ausläuferwellen errei-chen uns noch heute. 

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 Eine gute Idee entwickelt sozusagen epistemische Virulenz. Für die Virulenz brauchen die Epidemiologen eine Kenngrösse, die sogenannte Ansteckungsrate oder Reproduktionszahl R. Sie gibt an, wie viele weitere Personen ein infizierter Virusträger durchschnittlich an-steckt. Bei der Verbreitung von Viren gilt es natürlich, diese Rate zu vermindern, bei der Verbreitung von Ideen dagegen, sie zu vergrössern, das heisst, Beeinflussungsketten oder -netze zu schaffen, über lange Zeitläufte hinweg. Man nennt das landläufig „Tradition“. Haben auch Ideen eine Reproduktionszahl? Ein Team aus Physikern und Wissen-schaftshistorikern suchte 2005 die Frage affirmativ in einem Artikel zu beantworten. Und zwar wählten die Autoren als Musterbeispiel die sogenannten Feynman-Diagramme, ein vom Nobelpreisphysiker Richard Feynman in den späten 1940er Jahren ersonnenes inge-niöses mathematisches Instrument, das gestattet, langwierige Berechnungen von Quanten-wechsel¬wirkungen effektiv durchzuführen. Dieses hochpotente Ideen-Virus löste in ein-schlägogen Kreisen eine Epidemie aus. In penibler Kleinarbeit sichteten die Autoren des Artikels die Zitierungen von Feynman-Diagrammen in Fachzeitschriften und erstellten eine Chronologie der Verbreitung der Idee. Der Verlauf lässt eine typische Sigmakurve erken-nen: starker anfänglicher Anstieg, dann zunehmende Abflachung. Überdies schätzten die Autoren die Reproduktionsrate des Ideen-Virus in diversen Ländern ab: in den USA betrug sie 15, in Japan bis zu 75.

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 Selbstverständlich beantworten solche numerischen Übungen nicht die relevanten epide-miologischen Fragen, vor allem: Was macht eine Idee so virulent? Weil sich in gewissen Intellektuellenkreisen viele „Superspreader“ aufhalten? Die Autoren des besagten Artikels schlugen eine andere Erklärung vor: „Die Ausbreitung der Feynman-Diagramme (..) zeigt eine enorme Virulenz, nicht aufgrund ungewöhnlich hoher Kontaktzahlen, sondern auf-grund der Langlebigkeit der Idee.“ Das ist höchst aufschlussreich, denn die Erklärung präsentiert auch den wissenschaftlichen Fortschritt in einem epidemiologischen Licht. Langlebigkeit einer Idee bedeutet oft die Dominanz von wissenschaftlichen „Mandarinen“ und ihren Schülern auf einem Gebiet. Sie kann die Ausbreitung alternativer, konkurrierender Ideen-Viren behindern. Es bildet sich sozusagen die Herdenimmunität einer wissenschaftlichen Schule gegenüber anderen Ideen aus. Gemäss Max Plancks berühmtem Zitat schreitet die Wissenschaft mit einem Begräbnis nach dem anderen vorwärts. Das heisst, neue Theorien können oft nur dann Fahrt auf-nehmen, wenn die Eminenzen einer Disziplin abtreten und die Immunität ihrer etablierten Ideen schwindet. 

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Bisher war von guten Ideen die Rede. Wie steht es mit schlechten? Zumal mit der „Patho-genität“ von Ideen? Die Frage ist von akuter Bedeutung. „Verseuchter“ Content - Falschin-formationen, Spinnertheorien, Gerüchte - verbreitet sich in den sozialen Netzwerken buch-stäblich pandemisch. Analogisieren wir auch hier. Bei einer Krankheit konkurrieren in der Regel mehrere Erre-gerstämme um Vorherrschaft und Überleben in einer Wirtepopulation. Abseitige Weltan-schauungen, Halb- und Unwahrheiten lassen sich entsprechend als intellektuelle „Pathoge-ne“ betrachten. Sie stehen in einem ständigen Konkurrenzkampf mit „gesunden“ Ideen. Alle buhlen sie um Aufmerksamkeit, das heisst, sie suchen ansteckbare Wirte. Man könnte eine robuste Population dadurch definieren, dass in ihr die „gesunden“ Ideen Gelegenheit haben, die „pathogenen“ an einer weiten Ausbreitung zu hindern. Wenn die Population nun aber zerfällt in lauter abgeschlossene Teilpopulationen, können auch „pathogene“ Ideen-Viren ihre Nischen finden, in der sie ungefährdet fortbestehen. Soziale Netzwerke geben die idealen Ansteckungsherde und Brutstätten solcher Virenstämme ab, und sie befeuern dadurch eine geistige Segregation beängstigenden Ausmasses. 

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 Zurzeit befällt uns das Komplott-Virus. Und wie es scheint, ist seine Reproduktionszahl hoch - was zur Annahme verleitet, das Virus sei Produkt der sozialen Netzwerke. Aber es ist viel älter - uralt. Weil es unbelehrbar und angstgetrieben das ewig gleiche Erzählmuster rezykliert, das man in einen Satz verdichten kann: Epidemien haben immer ihre Schuldi-gen. Zum Beispiel beschuldigte man 1321 während der Lepraepidemie in Frankreich die Kranken selbst der seuchenverbreitenden Konspiration. Der Historiker Carlo Ginzburg zitiert in seinem Buch „Hexensabbat“ aus einem Bericht des berüchtigten Inquisitors Ber-nard Gui, wonach die angeblichen leprösen Verschwörer giftiges Pulver in Brunnen, Quel-len und Flüsse gestreut hätten, um die Gesunden anzustecken. Kranke seien verhaftet, ein-gesperrt, gefoltert und verbrannt worden. Nichts Neues unter der Sonne auch heute. Das Komplottmuster über das Virus SARS-CoV-2 sieht sich je nach Präferenz aktualisiert mit chinesischen Kommunisten, USA-Geheimdiensten, mit der Bill-Gates-Stiftung, der Big Pharma oder den obligaten Invasoren von Alpha Centauri. 

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 Analogisieren wir noch einmal: Bullshit ist ein pandemisches intellektuelles Virus. Seine Epidemiologie beruht auf drei Grundprinzipien: 1) Produzieren von Bullshit ist leicht, Ent-sorgen dagegen unverhältnismässig schwieriger. 2) Der „Beweis“ von Bullshit braucht kei-ne Intelligenz, seine Widerlegung dagegen sehr viel. 3) Viraler Bullshit verbreitet sich schneller als alle Versuche, ihn zu korrigieren und zu widerlegen. Im Augiasstall der Social Media ist daher kein „Impfstoff“ gegen Bullshit in Sicht. Grund zur Resignation? Betrachten wir die gegenwärtige Lage eher als Initiation zu einem zeitgemässen Stoizismus. Mikroben gelten seit ihrer Entdeckung primär als „Kontaminati-on“, als Beschmutzerinnen und Keimträgerinnen des Schlechten: biologischer Dreck, den es zu beseitigen gilt. Dasselbe lässt sich vom intellektuellen Dreck – vom Bullshit – sagen. Stoizismus heisst jetzt: Leben unter dem Gesichtspunkt des Drecks, in dem wir alle ste-cken. Bullshit-Tracking ist das Gebot der Stunde. Und eine eminente Bildungsaufgabe, längerfristig gesehen.

1 Kommentar:

  1. Lieber Herr Kaeser,

    ich habe ihren Kommentar über die Epidemiologie der Ideen gelesen. Das Ideen bzw. Informationen sich nach ähnlichen oder sogar gleichen Gesetzen verbreiten wie Viren ist eigentlich eine recht banale Einsicht. Was mich eher erstaunt ist, dass sie als Wissenschafter Erklärungsversuche für bestimmte Phänomene als Verschwörungstheorien ins lächerliche ziehen und als Bullshit bezeichnen, obwohl sie nicht in der Lage sind ihr Unwahrheit zu beweisen. Sind sie wirklich sicher, dass Bill Gates nichts mit Corona am Hut hat? Oder glauben sie es nur (seien sie ehrlich)? Ich glaube auch nicht, dass Corona allzu viel mit Bill Gates zu tun hat, bin es aber als Mathematiker gewohnt, etwas als möglich anzusehen, solange nicht das Gegenteil davon bewiesen ist. Ihre Betrachtungsweise reduziert ihren Blick von Anfang an auf eine eventuell zu kleine Menge von Lösungen ein, sodass sie womöglich ins Leere zielen. Ein klassisches Muster das ich bei vielen Menschen sehe. Solange sie sich im Bereich schwammiger Philosophien (obwohl man die Philosophie durchaus auch sehr logisch und präzise kultivieren kann) tummeln, nimmt es wahrscheinlich ausser wenigen wie mir niemand allzu ernst. In der Mathematik, hätten sie mit dieser Einstellung jedenfalls eher nicht bestehen können.

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