Der
Online-Exhibitionismus grassiert. Wir entblössen uns in den einschlägigen
Social Media ungehemmt und schamlos, und zugleich wissen wir, dass wir uns
dadurch umso mehr einem Blick „von aussen“ aussetzen. Vielen scheint das wenig
auszumachen. Sich darstellen, ausstellen, blossstellen: einerlei. Die Klagen
über unsere digitale Durchsichtigkeit und deren Ausbeutung durch einschlägige
Unternehmen sind schon tägliches mediales Ritual, ständig zollen wir
Lippenbekenntnisse zur dringenden Datenkontrolle. Aber die Schwemme an
digitalem Spielzeug, das eine immer engere „Verbundenheit“ verspricht, lässt
den Bereich des Privaten zusehends schrumpfen. In der neuen digitalen
„Öffentlichkeit“ verändert sich unser Sinn für Intimität und Scham auf eine
tiefgreifende Weise - zu unserem
Schaden?
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Dem Blick „von aussen“ entspricht ein „äusseres“ Selbst: die
Person, die wir gegenüber anderen darstellen, eine soziale Maske. Sie ist ein
Vehikel der Konformität. Unser zwischenmenschlicher Umgang ist grösstenteils
die Begegnung solcher äusseren Selbste. Ich weiss zwar, dass die andere Person,
die ich „von aussen“ kenne, nicht die ganze Person ist. Ein Teil von ihr ist
mir verborgen, und ich akzeptiere das auch. Nun enthält mir ja die andere
Person in der Regel nicht willentlich etwas vor oder täuscht sie mich; vielmehr
basiert das soziale Leben zu einem wesentlichen Teil auf dieser Nichtkenntnis
der anderen Person. Wir alle tragen ein Stück Undurchsichtigkeit in uns und wir
brauchen das. Pointiert: Das Spurenelement Undurchsichtigkeit in dir macht dich
für mich im wahrsten Sinn zur eigenständigen Person. Man erinnert sich hier an
die Worte von Max Frisch: „Wir lieben ihn (den andern Menschen, Anm.E.K.) einfach.
Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in
der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen,
in allen seinen möglichen Entfaltungen.“ Der Anspruch, die andere Person zu
sehr zu kennen, erstickt die Liebesbeziehung: „Man macht sich ein Bildnis. Das
ist das Lieblose. Der Verrat.“
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Natürlich
benötigt der soziale Verkehr eine „glatte“ Oberfläche. Man bekleidet sich quasi
mit bestimmten Verhaltensformen, und selbst Porno-Schauspieler sind so gesehen
in ihrer „expliziten“ Berufsblösse bekleidet. Wie Richard Sennett in seinem
Buch über den Verfall des öffentlichen Lebens schreibt, schützt eine solche Oberfläche die Menschen voreinander und ermöglicht es ihnen zugleich, „an der Gesellschaft
anderer Gefallen zu finden“. Das kann
immer auch in die Verlogenheit abgleiten, deren zeitgemässe Abart wir in der
politischen Korrektheit beobachten. Aber sich „glatt“ zu benehmen verrät nicht
einfach Unehrlichkeit oder täuschende Absicht, ebenso wenig, wie uns Kleider
unsere Nacktheit „verraten“. Wir wissen, dass die andere Person unter ihren
Kleidern nackt ist, und wir wissen, dass sie unter ihrem sozial gezeigten
Verhalten ein Innenleben führt, das diesem Verhalten vielleicht widerspricht –
aber es geht uns nichts an, oder vielmehr: es geht uns nur insoweit etwas an,
als es sich dem Blick „von aussen“ aussetzt. Allein schon das Bewusstsein, dass
dieser Blick nicht durch die Oberfläche dringt, ermöglicht uns ein relativ
„abgedichtetes“ Innenleben.
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Nun weitet sich allerdings das Gesichtsfeld des Blicks „von
aussen“ stetig ins Innere. Das Internet ist ein elektronisches Panoptikum ohne
Zentrum. Wir fühlen uns von überall und nirgendwo beobachtet. Die Beobachter
können leibliche Menschen sein oder auch Bots. Wir leben online in einem
Zustand des permanenten Exponiertseins.
Der Blick „von aussen“ wird heute technisch gewaltig aufgemöbelt.
Es gibt Apps, die mich über meinen aktuellen physischen Zustand informieren;
Apps, die eine „Mood“-Analyse durchführen, um festzustellen, in welcher
Stimmung ich mich gerade befinde (ich muss das selber gar nicht mehr wissen);
Apps, die mich daran hindern, unüberlegte oder beleidigende Mails zu versenden;
Apps, die mich zu „vernünftigem“ Ess- und Trinkverhalten anstiften; Apps, die
aus meinen Daten ein psychosoziales Profil erstellen, anhand dessen ich dann
der Situation entsprechend auftreten kann: in der Prüfung, im
Bewerbungsgespräch, in der Vertragsverhandlung, in der politischen Debatte.
Arianne Huffington von der „HuffPost“ lancierte vor einigen Jahren das Projekt
eines „GPS für die Seele“, eines moralischen Kompasses durchs Leben. Bleibe die
Seele, wo sie will.
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Dadurch, dass wir uns völlig dem Blick „von aussen“
ausliefern, riskieren wir, eine bisherige Grundlage der Moral zu unterhöhlen. Scham
setzt unser Innenleben quasi unter moralische Spannung. Man könnte die Logik
des Schamempfindens auf die Formel bringen: Ich hätte etwas besser wissen
können, aber ich habe wider besseres Wissen gehandelt. Ich hätte wissen können,
dass das Nachäffen deiner Sprachbehinderung dich kränkt, und trotzdem habe ich
es getan. Scham macht den Konflikt zwischen innerem und äusserem Selbst akut:
Du hast Mist gebaut!
Scham
setzt immer auch einen Commonsense darüber voraus, was man sagt und nicht sagt,
was man zeigt und nicht zeigt. Die Grenzen werden durch Anstandsnormen gezogen,
sie sind nie scharf, und sie sind stets kulturell abhängig. Die „Kultur“ der
Social Media hebt sie zunehmend auf. Anstelle des inneren Beobachters tritt die
Crowd. Sie trägt die Scham von aussen an eine Person heran, als öffentliche
Beschämung. Riskant daran ist, dass die moralische Spannung zwischen innerem
und äusserem Selbst zusammenfällt. Man ist ganz und gar durch den Blick „von
aussen“ definiert. Man entblösst sich ohne Scham, weil man nichts zu verbergen
hat.
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Michel
Foucault beschreibt in seiner Geschichte der Sexualität detailreich, wie unser
intimes Leben traditionell in der Sprache des Bekenntnisses verhandelt wurde.
Das Busssakrament zum Beispiel fordert den Beichtenden auf, seine Seele zu
entblössen, tief in sich einzutauchen, um die Wahrheit in ihrer ganzen oft
hässlichen und schmutzigen Nacktheit ans Licht des vergebenden Blicks „von
aussen“ zu fördern. Später verschob sich dieses Entblössen vom Religiösen ins
Säkulare, in Praktiken wie Bekenntnisliteratur, medizinische Atteste oder
Psychoanalyse. Aber immer noch wirkt der kategorische Imperativ: Zeige dich!.
Generell
etabliert sich in den Social Media heute eine neue Art von Entblössungszwang
–Foucault würde sagen: eine „Diskursifizierung“ der Intimität. Wer sich nicht
ständig mitteilt, wer nicht mit anderen teilt, wer nicht „Me too“
hinausposaunt, ist out. In diesem Universum des inkontinenten Sich-äusserns
gilt als lichtscheu und suspekt, wer sich zurückhält. Er könnte etwas
verbergen, und Verbergen ist die Erzsünde der Netzgemeinschaft. Übrig bleibt
der total „entborgene“ Mensch. Mit schamloser Brutalität geilt er sich an der
Party öffentlichen Beschämens auf. Andere am Pranger des Shitstorms
blosszustellen gehört zur infamen Rückseite des Schamverlusts.
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In
einem schlanken Essay aus dem Jahre 1906 gibt der Philosoph und Soziologe Georg
Simmel dem „durch positive oder negative Mittel getragene(n) Verbergen von
Wirklichkeiten“ einen geläufigen Namen: Geheimnis. Schamlosigkeit und
Geheimnislosigkeit gehören zusammen. „Das Geheimnis ist eine der grössten geistigen
Errungenschaften des Menschen,“ schreibt Simmel. Und er spricht vom „kindischen Zustand, in dem
jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken
zugänglich ist.“ Höchst aktuelle Worte. Wenn wir einmal unsere „schamlose“
Kindheit hinter uns gelassen haben und den Unterschied zwischen Ich und den
anderen allmählich in den Griff bekommen, setzt eine subtile Psychodynamik von
Öffnen und Verbergen ein. Genau so wie man einen Menschen, der einem etwas
sagt, kennen lernen möchte, gehören Grenzen des Kennenwollens zum
Kernbestandteil erwachsener persönlicher Beziehungen. Umgekehrt liesse sich
daraus folgern, dass eine Lebensform, welche geradezu frenetisch diese Grenzen
einzureissen sucht, sich auf dem besten Weg zum „kindischen Zustand“ befindet –
also zur Unmündigkeit.
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