Gekürzte Fassung in NZZ 13.6.2018
Alte
Stiche von Bern zeigen eine urbane Umgebung, die nur so wimmelt von
Handwerksstätten. Ich selbst mag mich noch an ein Bern erinnern, dessen
Altstadt ein halbes Dutzend Metzgereien aufwies. Längst sind sie
Boutiquenfilialen gewichen. Dafür fällt mir seit einiger Zeit die wachsende
Zahl an Coiffeursalons in der Stadt auf. Sind wir derart haarig fixiert, fragte
ich mich erst einmal, dass so viele Institute der kapillaren Verschönerung aus
dem Boden schiessen (bei all den testosterongedüngten Rübezahlbärten unserer maskulinen
jungen Generation ja durchaus plausibel) bis mir in den Sinn kam, dass das mit
etwas anderem zu tun haben könnte. Haareschneiden ist ein Handwerk, das nicht
durch Technisierung gefährdet ist. Ich kann mir die Steuererklärung durch einen
indischen Buchhalter übers Internet ausfüllen, ich kann meine Haare nicht von
einem indischen Coiffeur schneiden lassen. Womöglich sind diese lokalen Coiffeursalons
Indiz einer Wiederentdeckung des Handwerks, des Manuellen.
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Das widerspricht zunächst einmal dem Mainstream. Junge
Menschen bilden sich vorzugsweise in höherwertiger „Wissensarbeit“ aus. Statt
mit Dingen lernen sie mit der Information über Dinge zu operieren; statt mit
konkreten Gütern mit abstrakten Daten und Derivaten zu wirtschaften. Selber
Hand anlegen ist für viele geradezu exotisch geworden. Postindustrielle Arbeit braucht die Hände für das Drücken von Knöpfen und
Tasten, das Hantieren mit Handys und Touchpads. Es ist, als würde sie einem
dadurch zwischen den Fingern zerrinnen. Sie erhält einen
Stich ins Unwirkliche, um nicht zu sagen: Surreale. Und so fragen sich immer
mehr „Werktätige“ heute: Abgesehen von der Lohnüberweisung, welche vorzeigbare,
sichtbare, berührbare Wirkung resultiert aus meinem Werk? Was genau habe ich
eigentlich am Ende eines Tages vollbracht – ich meine: selber gemacht? Vielleicht verspürt das arme Schwein von
Finanzanalyst, der den lieben langen Tag auf abstrakte Datenströme auf dem
Monitor gestarrt hat, am Abend den Griff um das kühle Bierglas als einzig
verbleibenden tröstlichen Realitätshalt.
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Die Fragen zielen genau auf den anthropologischen
Kern, den Karl Marx an der menschlicher Arbeit ausmachte: Man will etwas
hervorbringen und sich selber im
Produkt oder in der Dienstleistung wiedererkennen. Einen Pullover stricken
bedeutet nicht einfach, ein Textil, ein Objekt produzieren, es bedeutet, ein
Stück seiner selbst in den Stoff investieren. Ein handgemachter Pullover hat
Personalität. Handgemachte Objekte sind menschzugewandte Objekte. Der Maurer
baut ein Haus; der Elektriker flickt die Leitung; der Pfleger betreut den
Betagten. Sie alle erfahren sich als Agierende.
Und das Haus, die Leitung, der Betagte machen den Maurer, den Elektriker, den
Pfleger buchstäblich wirklich, weil sie die Wirkung
ihres Agierens manifestieren. Das Haus ist bewohnbar, vielleicht sogar schön.
Die Stromversorgung funktioniert. Der Betagte ist dankbar. „Das habe ich selber
gemacht, selber getan“ - wieviel Selbstfindendes steckt in der Eigenhändigkeit!
Nicht wenige hüten wohl auch deshalb liebevoll dieses oder jenes kleine Stück
aus dem Werkunterricht als Souvenir an einen manuellen – glücklichen? - Lebensabschnitt.
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Hüten wir uns hier vor Romantisierung. Die Beschwörung des
Handwerks hat seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts – seit dem „Arts and Crafts
Movement“ – einen antimodernen, reaktionären Einschlag. Dennoch mehren sich seit einiger Zeit die Anzeichen
einer Revalidierung des Manuellen. Sie begann mit dem Buch „Handwerk“ (2008) des
Soziologen Richard Sennett. Sie setzte sich fort mit dem Bestseller „Shopclass
als Soulcraft“ (übersetzt etwa mit „Werkunterricht als Seelenbildung“, deutsch
allerdings unter dem bekloppten Titel „Ich schraube, also bin ich“, 2009) des
Philosophen Matthew B. Crawford; der Untertitel lautet: Eine Untersuchung über
den Wert der Arbeit. Nun erscheinen zehn Jahre später neue Revalidierungen:
Alexander Langlands „Craeft: An Inquiry into the Origins und True Meaning of
Traditional Craft“ (2018) und Richard E. Ocejos „Masters of Craft. Old Jobs in
the New Urban Economy“ (2017).
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Sowohl Richard Sennett als auch Matthew Crawford lassen sich von der
gleichen Grunddiagnose leiten: Die Entfernung des Menschen von den Dingen,
welche sich im Verschwinden der Handarbeit manifestiert, entfernt, entfremdet
auch den Menschen von sich selbst. Indem er immer mehr Tätigkeiten an die
Maschine delegiert, „entseelt“ er nicht nur die Arbeit, sondern sich selbst:
wird er selbst zu einem Modul der Maschine. Crawford stellte dies in seinem Buch am Beispiel der eigenen
Biographie dar. Es handelt sich um eine heute nicht untypische Geschichte: Hohe
wissenschaftliche Qualifikation - niedrig
qualifizierte Arbeit. Crawford verfasste als Doktor in politischer Philosophie wissenschaftliche
Abstracts für einen Think Tank, die niemand las. Eine öde „mechanische“
Routinearbeit. Bis er sich sagte: Wenn schon mechanisch, dann richtig
mechanisch. Er eröffnete eine Reparaturwerkstatt für Motorräder, begann Hand an
Vergaser und Ventile zu legen. Nicht nur kommt er damit gut über die Runden,
die Arbeit am konkreten Ding (nebst Bücher schreiben) erfüllt ihn erst noch zutiefst
– intellektuell und emotional. Handwerk als Bindemittel moralischer und epistemischer
Kompetenz. Die Ironie ist unverkennbar: Die
Arbeit wird in dem Moment seelenvoll, in dem sie echt mechanisch wird.
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Das verführt leicht zu einer Retro-Haltung. Zum Beispiel bei Alexander
Langlands. Seine Geschichte ist eine Verlustgeschichte, eine Geschichte des Schwunds
an Wert und Bedeutung handwerklicher Arbeit. Die Distanz zwischen Hand und
Ding, werde zu einem tiefen Problem. Langlands ist Historiker und Archäologe,
und so wird sein liebevoller, etwa sentimentaler Blick auf alte Techniken
sofort nachvollziehbar und sympathisch: Mit der Sense mähen, einen Bienenkorb
flechten, Stöcke zu verschiedenen Zwecken schnitzen. Aber die Rückkehr zu vorindustriellen
Techniken ist bestenfalls therapeutisch, dient vielleicht der „Veredelung“ des
Selbst, lässt alles beim Bestehenden. Individuell gesehen ist es kein Problem,
wenn jemand selber Holz spaltet, sein Geschirr selber brennt, eigene Gurken
zieht – entsprechend kann man ja eine blühende Kultur des Heimwerkertums,
Schrebergärtnerns und Do-it-Yourself beobachten. Es gibt auch – dank Internet
nota bene – Interessengruppenbildungen und Bewegungen, die durchaus so etwas
wie ein kollektives Phänomen – ein „Reskilling“, ein Wiedererlangen alter
Fertigkeiten - entdecken lassen. Inwieweit sich hier wirklich Renitenz gegen
das gegenwärtige exzessive Konsumverhalten formiert, bleibt abzuwarten. Das
Bukolische, das Langlands evoziert, ist eine Enklave im grossen Basar des
Konsums, und es als „ideale“ Bedingung anzupreisen, erscheint geradezu als Hohn
angesichts des rüden Arbeitsmarktes, wo die Frage nach den Glück an und in der
Arbeit eher sekundär ist.
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Das urbane Ambiente bietet ein anderes Feld, wo sich
das Handwerk wiederentdecken und –revalidieren lässt. Städte scheinen sich
geradezu als Biotop für ein kleinteiliges Arbeits- und Beschäftigungsnetz anzubieten.
In allen grösseren Städten etablieren sich nicht nur Coiffeursalons, sondern
Werkstätten aller Art, Bars, Garküchen, Aufführungslokale, Schmuckläden,
Kleingärtnereien, Bierbrauereien. Ricardo E. Ocejo ist Soziologe, und er beschreibt
die New Yorker Szene, in der es in der gebildeten, gutbezahlten Oberschicht
Mode geworden ist, das von Hand Gemachte „cool“ zu finden. Wir kennen das
natürlich lange schon vom Snob her, der nach Mailand oder Rom für handkonfektionierte
Schuhe fährt. Ocejo sieht die neue Bedeutung des Handwerks im Fahrwasser der
Gentrifizierung. Die Bewohner und Klientel solcher Stadtviertel, legen Wert auf
den „Geschmack“ an Sachen, und zu dieser Geschmacksnote trage nun ebenfalls das
Manuelle bei, das sozusagen der Ware zu neuer sozialer Distinktion verhelfe.
Der neue Adel verpflichtet zur Wertschätzung des Handgemachten. Das wäre
zumindest eine äusserst interessante urbanistische These: Gentrifizierung als
Boden handwerklicher Berufe. Oder eine noch pikantere soziologische These: Der
Reiche leistet sich Handwerk.
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Damit sind wir unversehens im Politischen gelandet.
Und man kann die
Erörterungen um die moderne Stellung des Handwerks nicht abschliessen ohne einen
grossen Vorbehalt. Handwerk hat stets eine Komponente „verborgener Geschichte“.
In dieser verborgenen Geschichte kommen immer auch diskriminierte Gesellschaftsschichten
vor, in den USA vor allem die Schwarzen, die Ureinwohner und Einwanderer. Das
Studium der Handwerkstraditionen dieser Gruppen, so die junge Doktorandin in Literaturwissenschaft
Lauren Michele Jackson, sei durch und durch „weisslastig“, vernachlässige die
farbigen Traditionen bis zur Amnesie, wo doch gerade sie einen Reichtum an
alten und tradierten Praktiken bergen.
Frau Jackson spricht unumwunden von den „weissen Lügen der
Handwerkskultur“. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, eine verborgene
„schwarze“ Geschichte des Whiskeybrennens. Eine der grossen Traditionsmarken –
Jack Daniel’s - wurde von einem
schwarzen Sklaven – Nathan „Nearest“ Green – in Lynchburg (!), Tennessee -
entwickelt. Der namensgebende Jack Daniel war ein gelehriger Lehrling dieses
Sklaven, der offensichtlich ein Meister in der Kunst des Destillierens war.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1856 wurde Green ein freier Bürger und er und
Daniel arbeiteten zusammen in Partnerschaft. Bis heute aber fehlt Greens Name
auf der Etikette.
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Handwerk ist keine
ökonomische Alternative, sondern eine anthropologische. Handwerk ermöglicht uns
– uns Mitgliedern technisch avancierter Gesellschaften, um genau zu sein - eine
andere Existenzform, nicht die eines an Bildschirm und Tastatur geklebten Menschen,
sondern die eines in sein Tun „hineinwachsenden“ Menschen - eines quasi zu sich
selbst zurückgekehrten Menschen. Man sollte die Idee eines solchen
„zurückgekehrten“ Menschseins sehr ernst nehmen. Denn wie aus dem Hinterhalt
stellt sich auf einmal die Frage: Was ist uns eigentlich wichtiger, die
Ökonomie oder die Anthropologie? Ökonomen werden schnell mit
nüchternem Kommentar zur Stelle sein: Diese Hochhebung der Handarbeit ist ja
gut und schön - aber der Wirtschaftslage angemessen? Mache ich mir einen
Begriff von den Ersatzkosten, wenn ich etwas eigenhändig herstelle, statt es zu
kaufen? Und ist es nicht nachgerade unverantwortlich, junge Leute auf Berufe
vorzubereiten zu wollen, die der Vergangenheit angehören?
Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der heute
solche Einwände vorgetragen werden, sollte stutzig machen. Sie verrät viel über
die Vormachtstellung der Ökonomie in unserem Denken und Handeln. Und deshalb
lockt sie mich, den Spiess umzudrehen und Fragen zu stellen wie: Ist es denn
wirklich so ausgemacht, dass Handarbeit auf verlorenem Posten steht? Könnte
man, statt immer zu fragen, ob etwas der wirtschaftlichen Lage angemessen sei,
auch einmal fragen, ob die Wirtschaft der menschlichen Bedürfnislage angemessen
sei? Und zeugt es nicht von einer epochalen Einfalt und Einseitigkeit, die
menschlichen Bedürfnisse allein am Kauf- und Konsumverhalten zu messen?
Handwerk
ist nicht nur eine Produktionsweise, sondern eine Seinsweise. In dieser
Vorstellung steckt die Brisanz einer realistischen Utopie. Sie artikuliert eine
sprachlose Renitenz gegen die Entsubstanzialisierung unseres Lebens. Es ist deshalb
an der Zeit, sich auf diesen anthropologischen Kern der Arbeit zu besinnen – mit
der Hand erstatten wir der Arbeit ihre Seele zurück. Also auch uns selbst.
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