Es gibt nicht nur alternativen Fakten, es gibt bekanntlich
auch alternative Heilpraktiken. Sie schiessen immer noch üppig ins Kraut. Immer
noch, weil wir uns zwar seit etwa anderthalb Jahrhunderten einer vertrauenswürdigen
Medizin mit naturwissenschaftlicher Theoriebasis und effizienten
Heiltechnologien erfreuen, das Terrain des Heilens dennoch von einem Netz „submedizinischer“
Strömungen unterspült wird, in denen es nur so wimmelt von Handauflegern, Geistheilern,
Tinkturenmischern und anderen nachtschattigen Gesundheitshausierern.
Eigentlich handelt es sich hier um ein Paradox. Nennen wir
es die Wirksamkeit des Unwirksamen. Die Wissenschaft findet keinen Nachweis für
die Wirksamkeit eines Heilverfahrens – und trotzdem glauben viele Leute daran,
ja: scheint es sogar zu wirken. Das Phänomen wirft ein Licht auf ein
fundamentales Problem der Medizin, das gerade heute, im Zeitalter des „Fake“,
eine akute Bedeutung erhält.
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Der amerikanische Philosoph William James hat vom „Willen
zum Glauben“ gesprochen. Er ist, so James, stärker als unsere Vernunftmittel.
In der Medizin äussert sich dieser Glaube ja auch ganz offensichtlich im
Placeboeffekt. Es gibt den Willen zum Heilen und Gesundwerden. In einer Person,
die an einer Krankheit oder einem Defizit leidet, kann dieser Wille ungeahnte
Kräfte freisetzen. Vor allem ein Todkranker wird, auch wenn er nicht an Wunder
glaubt, doch vom Gefühl geleitet „Warum nicht?“ Optimismus assistiert jedem Heilverfahren.
So weit, so trivial. Nicht trivial wird die Sache, wenn dieser
Glaube mit wissenschaftlichen Tests interferiert. Ich kann füglich glauben,
dass ein Mittel wirkt, auch wenn die Wirkung nicht objektiv nachgewiesen ist.
Und genau hier gilt es, wachsam zu sein.
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Der menschliche Körper ist eine natürliche Wundermaschine
der Selbstheilung. Darauf beruhte der Erfolg der Medizin vor dem 19. Jahrhundert
grösstenteils. Das heisst: Wenn die Medizin heilte, dann oft trotz ihrer
Eingriffe. Nun ist die Medizin effektiver geworden, aber auch heute neigen wir
zu einem Fehlschluss, den man mit folgendem Beispiel veranschaulichen kann: Wenn
du ein Glas Wasser gegen Kopfweh nimmst, und du fühlst dich danach besser; dann
hat das Wasser die Besserung verursacht. – Kann sein, muss aber nicht.
Das ist ein Beispiel für unser „Kausalitäts-Bias“. Wir neigen dazu, all das, was
geschieht, nicht einfach nach dem Muster des Nacheinander, sondern des Wegeneinander
zu interpretieren. Die neuere Geschichte der Medizin ist voller vorschneller Kausalitäts-Unterstellungen;
vom Zusammenhang zwischen Verstopfung, Selbstvergiftung und Krankheit,
postuliert vom britischen Chirurgen Sir Arbuthnot Lane anfangs des letzten Jahrhunderts,
über Linus Paulings Glaube an die Wirksamkeit von Vitamin C gegen Krebs, bis
neuerdings zum Zusammenhang zwischen Impfen und Autismus, postuliert von Andrew
Wakefield, einem in die USA ausgewanderten britischen Arzt. Wir wollen ein
Wirken sehen - auch wenn keine Wirksamkeit da ist.
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Ein anderer Grund für die Illusion der Wirksamkeit liegt in einer
Marketingtaktik: Gib das Scheitern als Erfolg aus. Die krudeste Version ist
die, Misserfolge einfach unter den Teppich zu kehren; oder man präsentiert spontane
Remissionen als Scheinsupport für die Behandlung; gang und gäbe ist auch, eine
Theorie aufzustellen, die hilft, Misserfolge umzudeuten. „Holistische“ Heilpraktiken
gehen davon aus, dass immer die Ganzheit Körper-Psyche-Geist an der Krankheit
beteiligt ist. Ein Credo lautet: „Es ist wichtiger zu wissen, welche Art von
Patient die Krankheit hat, als zu wissen, welche Art von Krankheit der Patient
hat.“ Solche Ganzheitstheorien umhüllen sich mit einer Aura der Plausibilität, die
Adhoc-Erklärungen erlaubt. Besonders dreist, wenn nicht gar rechtserheblich muten
Behandlungen an, die sich gleich Selbstabsolution erteilen, im Sinne der
Falsifikationslogik: Wenn eine Behandlung beim Patienten nicht anschlägt, dann
liegt der Fehler beim Patienten, nicht bei der Behandlung. Es sei daran
erinnert, dass vor der Entdeckung des Tuberkelbazillus oft den Kranken die
„Schuld“ für ihre Turbekulose gegeben wurde.
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Moderne Medizin ist beeindruckend erfolgreich in ihren lokalen Interventionen: etwa in der
Tumoroperation, in der Reparatur von Nervensträngen, im Einsatz von
Antibiotika. Sie kümmert sich um den Patienten als physiologischen Komplex, relativ
wenig um den Patienten als Person. Aus diesem Manko gewinnen alternative
Behandlungsmethoden ihre Bedeutung und ihren Zuspruch. Sie sind „nichtlokal“. Es
geht um „Wellness“, „Mindfulness“, „Biofeedback“. Nun, fragt man, wer strebt nicht
danach? Und da lauert die Plausibilitätsfalle, der reichlich ausgestrichene
Leim, auf den man kriechen kann. Dieser Leim heisst Mehrdeutigkeit. Alternative
Praktiken kaprizieren sich meist auf diffuse, nicht direkt verifizierbare
Kriterien. Auch wenn ein spezifischer Heilerfolg ausbleibt - Unspezifisches
geschieht immer. Das Mittel gegen Fettleibigkeit hilft nicht, aber ich habe
jetzt meine innere Balance gefunden; also hat das Mittel doch „irgendwie“ gewirkt.
Ich nenne dies den Trugschluss der unspezifischen Wirksamkeit. Je diffuser die
Erfolgskriterien einer Behandlung, desto „erfolgreicher“ erscheint sie. Ein
Trick der Scharlatane.
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Es gehört schon fast zur Folklore, alternativen Heilmethoden
ihre mangelnde „evidence“ vorzuhalten. Nun sollte man sich freilich hüten, im
wissenschaftlichen Eifer das „Fake“-Etikett überall da anzubringen, wo eine
akzeptierte Fakten- oder Evidenzbasis fehlt. Der wissenschaftlichen Medizin
erwächst in der Tat selbst auch ein „Fake“-Problem, paradoxerweise gerade
infolge einer Überfülle an „evidence“.
Wir kennen Nachrichten des Typus’ „Ein Forscherteam der
Universität X hat herausgefunden, dass die Adoption eines Kindes bei unfruchtbaren
Paaren die Wahrscheinlichkeit erhöht, selber ein Kind zu zeugen“. Eine
obstetrische Entdeckung? Klinische Studien haben sie widerlegt. Trotzdem fluten
uns News dieser Art täglich an, weil Forscher in immensen Datengewässern fischen
und mit dem Netz effizienter statistischer und computerisierter Methoden eine Unmenge
Korrelationen fangen können. Das ist zwiespältig. Die wissenschaftliche Medizin
erhält mit einer grösseren Datenbasis Aussicht auf grössere Ausbeute. Gleichzeitig
fördert dies aber eine Forschungsmentalität, die statistisches Denken überbewertet.
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Statistiker kennen den Fehlertypus des „falschen Positiven“:
Man präsentiert einen Fischfang aus einem Gewässer, wo es gar keine Fische
gibt. Falsche Positive sind umso unvermeidbarer, als die Datenmassen ins
Grenzenlose wachsen. Der Epidemiologe John Ioannidis kritisierte schon 2005 die
biomedizinische Forschung in einem Paper mit dem Titel „Warum die meisten Resultate
falsch sind“. Sein Befund: Statistische Signifikanz bedeutet nicht kausale
Relevanz. Viele Studien sind von einem laxen Erfolgskriterium geleitet, das zuviele
Scheinentdeckungen erlaubt; im Besonderen Resultate, die sich nicht replizieren
lassen. Man spricht heute nachgerade von einer Replikationskrise. Korrelation ersetzt
kausales Denken – das ist die Losung der Big-Data-Evangelisten. Und sie
kennzeichnet exakt die Mentalität einer postfaktischen Medizin.
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Heilverfahren haben drei Seiten: die gute, die schlechte und
die unbekannte. Die dritte ist nicht zu unterschätzen. Es gibt mehr Dinge auf
dem Feld des Heilens als Schul- und Alternativmedizin sich erträumen; gerade in
der diffusen Grauzone zwischen Physis und Psyche. Weder behaupte ich also, dass
alternative Behandlungen tutti quanti wirkungslos sind, noch unterstelle ich,
dass mit statistischen Methoden per se Fake-Entdeckungen produziert werden. Die
Wirksamkeit des Unwirksamen ist Aspekt eines allgemeineren Phänomens, nämlich
der Wissensillusion: Wir wissen weniger als wir zu wissen glauben. Der Satz
müsste uns als Memento im Zeitalter des „Fake“ begleiten. Die Lektion daraus wäre
ein bescheidenes, aber umso kämpferischeres „Guck nochmals hin, Dummkopf!“
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