Theorie und Theater
Als Physiker ist man von Dürrenmatt immer wieder
angesprochen, und zwar, möchte ich behaupten, weil er wie kaum ein anderer
Schriftsteller den Denkstil der Physik begriffen, reflektiert und auch auf
seine Dramaturgie angewandt hat. Ich meine jetzt gar nicht so sehr sein wohl
berühmtestes Stück, als vielmehr eine verborgene tiefe Verwandtschaft von
Physiker und Schriftsteller. Ich glaube, Dürrenmatt hat sie intuitiv gespürt. Nicht
zuletzt, weil er ja zunächst eine Philosophiestudium begonnen hatte, und
Philosophie und Physik sind letztlich zwei Seiten einer Münze. Ich rede jetzt
vom theoretischen Physiker. Theorie und Theater haben die gleiche griechische
Wortwurzel, in der das Schauen vorkommt. Die Welt ist sowohl für den Physiker
wie für den Dramatiker ein Theater. Der eine schaut und erklärt, der andere
schaut und erzählt.
Determinismus
Wer schaut, schafft Bilder. Sowohl der Physiker wie der
Dramatiker tun das. Sie schaffen Weltbilder. Die neuzeitliche Physik beruht auf
einer dominierenden Metapher, der Welt
als eines Uhrwerks. Gott hat das Uhrwerk gebaut, in einem einzigen
ingenieuralen Schöpfungsakt, und er hat dann das Uhrwerk sich selbst
überlassen. Es schnurrt seit seiner Schaffung einfach ab. Das ist die
Vorstellung von Isaac Newton, des ersten grossen theoretischen Physikers. In
seinen Augen hat Gott etwas gepfuscht, deshalb muss er ab und zu eingreifen und
das Uhrwerk neu justieren. Aber im Ganzen läuft alles recht gut nach seinen
Gesetzen ab.
Dürrenmatt hat sich von der Metapher des Uhrwerks
inspirieren lassen, er spricht allerdings, wie es sich für einen Dramatiker
gehört, vom Spiel, vom Schachspiel. In seinem berühmten Jubiläumsvortrag zu
Einsteins 100. Geburtstag an der ETH im
Jahre 1979 schreibt er:
„Stellen wir uns (..) das Weltgeschehen als ein Schachspiel
vor, so sind (..) zwei Partien denkbar, eine deterministische und eine kausale.
Beim deterministischen Schachspiel sitzen sich zwei vollkommene Schachspieler
gegenüber, zwei starre und sture Göttergötzen der Urwelt etwa (..) oder zwei vollkommene Computer. Die Menschen sind
die Schachfiguren. Diese sind in ihrer Partie determiniert, Folgerungen der
aussermenschlichen Schachüberlegungen: ob die Menschen Gutes oder Schlechtes
vollbringen, ist gleichgültig, sie sind, ob weisse oder schwarze Figuren, von
den gleichen Gesetzen bestimmt: von den Regeln des Schachspiels (..)“
Die Gottesperspektive
Das ist das deterministische Weltbild der klassischen
Physik. Im Grunde handelt es sich um eine religiöse Idee. Die Idee eines
Universums, dessen Bauplan die Forscher suchen und entziffern wollen. Einstein
war ein grosse Vereinheitlicher in der Physik, getrieben, - wie er selber sagte
- von einem „Verallgemeinerungsbedürfnis“. Dieses Bedürfnis wurde gespeist aus
religiösen Quellen. Seine ständige Berufung auf Gott ist notorisch, und sie
mutet gelegentlich fast arrogant an. Als die Allgemeine Relativitätstheorie
1919 durch astronomische Messungen ihre erste spektakuläre Bestätigung erfuhr,
erwiderte Einstein auf die Frage nach einem möglichen falsifizierenden Ausgang
des Experiments: „Dann hätte mir der Herrgott leid getan - die Theorie stimmt“.
Einsteins Telegramm
1929 geriet die Relativitätstheorie unter theologischen
Beschuss. Kardinal O’Connell aus Boston brandmarkte sie als nebulöse
Spekulation, welche allgemeinen Zweifel an Gott und seinem Werk säe und die
schauderhafte Erscheinung des Atheismus nach sich ziehe. Alarmiert sandte Rabbi
Goldstein aus New York ein Telegramm an Einstein, mit der dringlichen Frage:
„Glauben Sie an Gott? Stop. 50 Wörter als Antwort werden bezahlt.“ Einsteins
Replik war kürzer: „Ich glaube an den
Gott Spinozas. An den Gott, der sich in der gesetzmässigen Harmonie der Welt
offenbart, nicht an den Gott, der sich für das Schicksal und die Tätigkeiten
der Menschen interessiert.“
Dieser kosmische Determinismus ist die Basis von Einsteins
Religiosität. Sie basiert nicht auf Offenbarungen, Überlieferungen,
Dogmen, sie erwacht aus dem ehrfürchtigen
Gefühl für eine alles Leben durchdringende Einheit. Dieses Gefühl allein
erzeugt die Idee Gottes, freilich nicht eines personalen Gottes. Er
manifestiert sich vielmehr in einer gesetzmässig geordneten Welt, weshalb die
Entdeckung physikalischer Gesetzmässigkeiten für Einstein immer auch ein Weg
hin zu Gott war: „In der Wahrnehmung
tiefgründiger Vernunft und Schönheit im Universum liegt die wahre Religiosität;
in diesem, und nur in diesem Sinne bin ich ein tief religiöser Mensch.“
Zufall
Es fällt auf, wie sich Dürrenmatt immer wieder mit dieser
Gottesperspektive beschäftigt hat. Gott nicht theologisch, sondern buchstäblich
physikalisch aufgefasst. Dürrenmatts ganze Dramaturgie lebt von dieser
Auseinandersetzung. Und zwar, so vermute
ich, weil er im Theater einen ähnlichen Bruch anstrebt, den auch die Physiker
vollzogen haben: den Bruch mit einer deterministischen Welt und ihrer
Gottesperspektive. Genau das tut eigentlich die Quantentheorie. Ihre zentrale
Metapher ist nicht mehr das Uhrwerk-Universum, sondern der Würfelwurf: das Zufalls-Universum.
Dürrenmatt nimmt ein persönliches Erlebnis, nämlich einen
Autounfall, als Beispiel. Bei einem Ausflug an den Genfersee wird er in einen
schweren Unfall verwickelt, den er unbeschadet übersteht. Zwei Autos sind bei
einem Überholmanöver neben ihm kollidiert, „Getöse, ein Klirren, Totenstille,
dann Schreie, viel Blut, zwei blutüberströmte Männer, die aufeinander einschlugen,
im ganzen fünf Schwerverletzte. Für Dürrenmatt eine dramaturgische Reflexion
wert: Das Ereignis setzt sich auf den ersten Blick aus lauter Zufälligkeiten
zusammen. Natürlich vermag ich die Kette der Zufälligkeiten nur von meiner
Seite aus festzustellen: Ich hätte zu Hause bleiben können, ich hätte länger
oder kürzer essen können, ich hätte überhaupt nicht ins Wallis oder: langsamer,
oder schneller fahren können, ich hätte mich in Vevey nicht verfahren müssen
usw. Eine ähnliche Kette von Zufälligkeiten liesse sich bei den anderen am
Unfall beteiligten Wagen feststellen.“
Der
„reine“ Beobachter dankt ab
Man kann diese Überlegung auch umkehren. Das
heisst, man könnte sich auf den Standpunkt stellen: Was wäre, wenn ich alles im
Voraus gewusst hätte? Die klassische Physik spielt mit dieser alleswissenden,
allesvorausschauenden Beobachterstandpunkt. Und deshalb ist die klassische
Interpretation des Zufalls subjektiv: Etwas ist zufällig, weil ich nicht
genügend weiss. Wir Menschen sind Schachfiguren in einem Spiel, das wir nicht
völlig durchschauen. Der entscheidende Punkt ist: Wir können dieses Spiel nicht
von aussen betrachten und begutachten. Wir sind Teile des Spiels. Das variiert
Dürrenmatt immer wieder in seinen Erzählungen und Dramen. Und der Zufall erhält
dadurch eine andere Rolle. Er wird im Grunde zum Regisseur.
Wenn ich mich entscheide, auf dem Velo in die Stadt zu fahren,
und mir nun „zufällig“ ein Fussgänger vor die Räder läuft, dann ist dies ein
„im Prinzip“ behebbarer Zufall; ein Beobachter mit dem nötigen Durchblick, der
den Weltzustand vor dem Zusammenprall kennen würde, hätte dies vorausgesehen.
Er könnte eine lückenlose Kausalkette von lokalen Ereignissen – von meinem
Entscheid an bis zum Zusammenprall mit dem Fussgänger - rekonstruieren. Dieser
allwissende Oberbeobachter dankt in der Quantentheorie ab. Selbst bei maximaler
Quantenkenntnis – also einer Wellenfunktion, die quasi den Weltzustand vor der
Kollision repräsentiert - könnte er den Zusammenstoss nicht mit völliger
Gewissheit voraussagen, weil die Ungewissheit quasi in der Natur selbst liegt.
Die Natur funktioniert auf fundamentalem Niveau nach dem Zufallsprinzip. Einsteins Gott – der „Alte“ - würfelt.
Experiment und
Kriminalfall
Wir
lernen in der Schule, daß alle Körper auf der Erde mit der gleichen
Beschleunigung fallen, daß die Fallstrecke mit der Fallzeit quadratisch
zunimmt. Ein Gesetz der Natur, von Galilei entdeckt. Schauen wir genauer hin,
werden wir bemerken, daß es nie genau gilt. Eine Feder und ein Hammer fallen
unterschiedlich schnell. Galilei beeilte sich, uns zu belehren, daß die Gesetze
der Natur nur unter Idealbedingungen gelten, d.h. nur dann, wenn wir uns alle
Komplikationen wie etwa Luftwiderstand und andere störenden Einflüsse
wegdenken. Die Gesetze sind für eine ideale Natur gedacht. Die reale Natur aber
ist der Inbegriff aller Komplikationen.
Im
Grunde hat die experimentelle Physik durchaus Dürrenmattsche Züge. Sie muss
immer mit Komplikationen rechnen. Und die Kunst des Experimentierens besteht
eigentlich darin, Zufälliges auszuschalten. Physik ist eine Wissenschaft, die
Störungen vermeiden möchte. Aber die Welt, so könnte man mit Wittgenstein sagen,
ist alles, was stört. Ein Experiment ist eine Falle, in der man die Natur
einzufangen sucht. Aber sie spielt dieser Falle immer wieder einen Streich. Der
Zufall unterwandert die Gesetzmässigkeit. Ein guter Experimentator weiss das
auch.
Dürrenmatt
hat diese Unterwanderung in seinem Kriminalstück „Das Versprechen“ parodistisch
durchgespielt. Dem Experimentator entspricht hier der Ermittler, der mit allen
kriminologischischen Wässerchen gewaschene Kommissar Matthäi. Er ist der klassische
Detektiv, glaubt daran, mit wissenschaftlicher Rafinesse einen Serienmörder zur
Strecke bringen zu können. Er stellt ihm eine Falle, indem er ihn mit einem
weiteren potenziellen Opfer ködert. Nach der Theorie sollte der Täter in die
Falle tappen. Nur rechnet die Theorie nicht mit der Möglichkeit, dass der
Mörder durch einen banalen Unfall ums Leben kommen könnte. Und das geschieht
tatsächlich. Der Kommissar glaubt an seine Theorie und wartet auf ihre
Bestätigung und weiss nicht, dass der Täter, der die Theorie bestätigen könnte,
unerkannt umgekommen ist.
Die Natur wird vom Zufall regiert
Das
ist quantentheoretisch gedacht. Der quantentheoretische Detektiv rechnet nicht
nur mit dem, was geschieht, sondern auch mit dem, was nicht geschieht, aber
geschehen könnte. Das heisst, er denkt dürrenmattsch, in Wahrscheinlichkeiten
oder besser: Unwahrscheinlichkeiten. Und er hat erst noch grossen Erfolg. Die
Quantentheorie ist die am besten bestätigte physikalische Theorie, die wir
haben. Das Irritierende an ihr ist, dass sich ihre physikalischen Interpreten
bis heute nicht einig sind, warum dies so ist. Immerhin akzeptieren immer mehr
Physiker die Ansicht, dass die Natur auf fundamentalstem Niveau nicht von
deterministischen Gesetzmässigkeiten, sondern vom Zufall regiert wird.
Gott
hat Dürrenmatt trotzdem nie ganz losgelassen. In einem seiner letzten Gespräche
sagte er: Wenn man schreibt, ist man
immer der Grosse Alte. Das heisst, man kann wie Gott ausserhalb des
Schachspiels stehen. Aber wenn man vom Schreibtisch aufsteht, ist man nur eine
kleine Schachfigur. Dürrenmatt hatte, als er dies sagte, sein Lachen gelacht.
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