Dienstag, 20. Juni 2017

Dürrenmatt, der Zufall und die Quantentheorie





Theorie und Theater
Als Physiker ist man von Dürrenmatt immer wieder angesprochen, und zwar, möchte ich behaupten, weil er wie kaum ein anderer Schriftsteller den Denkstil der Physik begriffen, reflektiert und auch auf seine Dramaturgie angewandt hat. Ich meine jetzt gar nicht so sehr sein wohl berühmtestes Stück, als vielmehr eine verborgene tiefe Verwandtschaft von Physiker und Schriftsteller. Ich glaube, Dürrenmatt hat sie intuitiv gespürt. Nicht zuletzt, weil er ja zunächst eine Philosophiestudium begonnen hatte, und Philosophie und Physik sind letztlich zwei Seiten einer Münze. Ich rede jetzt vom theoretischen Physiker. Theorie und Theater haben die gleiche griechische Wortwurzel, in der das Schauen vorkommt. Die Welt ist sowohl für den Physiker wie für den Dramatiker ein Theater. Der eine schaut und erklärt, der andere schaut und erzählt.

Determinismus
Wer schaut, schafft Bilder. Sowohl der Physiker wie der Dramatiker tun das. Sie schaffen Weltbilder. Die neuzeitliche Physik beruht auf einer dominierenden Metapher, der Welt als eines Uhrwerks. Gott hat das Uhrwerk gebaut, in einem einzigen ingenieuralen Schöpfungsakt, und er hat dann das Uhrwerk sich selbst überlassen. Es schnurrt seit seiner Schaffung einfach ab. Das ist die Vorstellung von Isaac Newton, des ersten grossen theoretischen Physikers. In seinen Augen hat Gott etwas gepfuscht, deshalb muss er ab und zu eingreifen und das Uhrwerk neu justieren. Aber im Ganzen läuft alles recht gut nach seinen Gesetzen ab.

Dürrenmatt hat sich von der Metapher des Uhrwerks inspirieren lassen, er spricht allerdings, wie es sich für einen Dramatiker gehört, vom Spiel, vom Schachspiel. In seinem berühmten Jubiläumsvortrag zu Einsteins 100. Geburtstag  an der ETH im Jahre 1979 schreibt er:  
„Stellen wir uns (..) das Weltgeschehen als ein Schachspiel vor, so sind (..) zwei Partien denkbar, eine deterministische und eine kausale. Beim deterministischen Schachspiel sitzen sich zwei vollkommene Schachspieler gegenüber, zwei starre und sture Göttergötzen der Urwelt etwa (..) oder  zwei vollkommene Computer. Die Menschen sind die Schachfiguren. Diese sind in ihrer Partie determiniert, Folgerungen der aussermenschlichen Schachüberlegungen: ob die Menschen Gutes oder Schlechtes vollbringen, ist gleichgültig, sie sind, ob weisse oder schwarze Figuren, von den gleichen Gesetzen bestimmt: von den Regeln des Schachspiels (..)“

Die Gottesperspektive
Das ist das deterministische Weltbild der klassischen Physik. Im Grunde handelt es sich um eine religiöse Idee. Die Idee eines Universums, dessen Bauplan die Forscher suchen und entziffern wollen. Einstein war ein grosse Vereinheitlicher in der Physik, getrieben, - wie er selber sagte - von einem „Verallgemeinerungsbedürfnis“. Dieses Bedürfnis wurde gespeist aus religiö­­sen Quellen. Seine ständige Berufung auf Gott ist notorisch, und sie mutet gelegentlich fast arrogant an. Als die Allgemeine Relativitätstheorie 1919 durch astronomische Messungen ihre erste spektakuläre Bestätigung erfuhr, erwiderte Einstein auf die Frage nach einem möglichen falsifizierenden Ausgang des Experiments: „Dann hätte mir der Herrgott leid getan - die Theorie stimmt“.

Einsteins Telegramm
1929 geriet die Relativitätstheorie unter theologischen Beschuss. Kardinal O’Connell aus Boston brandmarkte sie als nebulöse Spekulation, welche allgemeinen Zweifel an Gott und seinem Werk säe und die schauderhafte Erscheinung des Atheismus nach sich ziehe. Alarmiert sandte Rabbi Goldstein aus New York ein Telegramm an Einstein, mit der dringlichen Frage: „Glauben Sie an Gott? Stop. 50 Wörter als Antwort werden bezahlt.“ Einsteins Replik war kürzer:  „Ich glaube an den Gott Spinozas. An den Gott, der sich in der gesetzmässigen Harmonie der Welt offenbart, nicht an den Gott, der sich für das Schicksal und die Tätigkeiten der Menschen interessiert.“

Dieser kosmische Determinismus ist die Basis von Einsteins Religiosität. Sie basiert nicht auf Offenbarungen, Überlieferungen, Dogmen,  sie erwacht aus dem ehrfürchtigen Gefühl für eine alles Leben durchdringende Einheit. Dieses Gefühl allein erzeugt die Idee Gottes, freilich nicht eines personalen Gottes. Er manifestiert sich vielmehr in einer gesetzmässig geordneten Welt, weshalb die Entdeckung physikalischer Gesetzmässigkeiten für Einstein immer auch ein Weg hin zu Gott war:  „In der Wahrnehmung tiefgründiger Vernunft und Schönheit im Universum liegt die wahre Religiosität; in diesem, und nur in diesem Sinne bin ich ein tief religiöser Mensch.“

Zufall
Es fällt auf, wie sich Dürrenmatt immer wieder mit dieser Gottesperspektive beschäftigt hat. Gott nicht theologisch, sondern buchstäblich physikalisch aufgefasst. Dürrenmatts ganze Dramaturgie lebt von dieser Auseinandersetzung.  Und zwar, so vermute ich, weil er im Theater einen ähnlichen Bruch anstrebt, den auch die Physiker vollzogen haben: den Bruch mit einer deterministischen Welt und ihrer Gottesperspektive. Genau das tut eigentlich die Quantentheorie. Ihre zentrale Metapher ist nicht mehr das Uhrwerk-Universum, sondern der Würfelwurf: das Zufalls-Universum.

Dürrenmatt nimmt ein persönliches Erlebnis, nämlich einen Autounfall, als Beispiel. Bei einem Ausflug an den Genfersee wird er in einen schweren Unfall verwickelt, den er unbeschadet übersteht. Zwei Autos sind bei einem Überholmanöver neben ihm kollidiert, „Getöse, ein Klirren, Totenstille, dann Schreie, viel Blut, zwei blutüberströmte Männer, die aufeinander einschlugen, im ganzen fünf Schwerverletzte. Für Dürrenmatt eine dramaturgische Reflexion wert: Das Ereignis setzt sich auf den ersten Blick aus lauter Zufälligkeiten zusammen. Natürlich vermag ich die Kette der Zufälligkeiten nur von meiner Seite aus festzustellen: Ich hätte zu Hause bleiben können, ich hätte länger oder kürzer essen können, ich hätte überhaupt nicht ins Wallis oder: langsamer, oder schneller fahren können, ich hätte mich in Vevey nicht verfahren müssen usw. Eine ähnliche Kette von Zufälligkeiten liesse sich bei den anderen am Unfall beteiligten Wagen feststellen.“  

Der „reine“ Beobachter dankt ab
Man kann diese Überlegung auch umkehren. Das heisst, man könnte sich auf den Standpunkt stellen: Was wäre, wenn ich alles im Voraus gewusst hätte? Die klassische Physik spielt mit dieser alleswissenden, allesvorausschauenden Beobachterstandpunkt. Und deshalb ist die klassische Interpretation des Zufalls subjektiv: Etwas ist zufällig, weil ich nicht genügend weiss. Wir Menschen sind Schachfiguren in einem Spiel, das wir nicht völlig durchschauen. Der entscheidende Punkt ist: Wir können dieses Spiel nicht von aussen betrachten und begutachten. Wir sind Teile des Spiels. Das variiert Dürrenmatt immer wieder in seinen Erzählungen und Dramen. Und der Zufall erhält dadurch eine andere Rolle. Er wird im Grunde zum Regisseur.

Wenn ich mich entscheide, auf dem Velo in die Stadt zu fahren, und mir nun „zufällig“ ein Fussgänger vor die Räder läuft, dann ist dies ein „im Prinzip“ behebbarer Zufall; ein Beobachter mit dem nötigen Durchblick, der den Weltzustand vor dem Zusammenprall kennen würde, hätte dies vorausgesehen. Er könnte eine lückenlose Kausalkette von lokalen Ereignissen – von meinem Entscheid an bis zum Zusammenprall mit dem Fussgänger - rekonstruieren. Dieser allwissende Oberbeobachter dankt in der Quantentheorie ab. Selbst bei maximaler Quantenkenntnis – also einer Wellenfunktion, die quasi den Weltzustand vor der Kollision repräsentiert - könnte er den Zusammenstoss nicht mit völliger Gewissheit voraussagen, weil die Ungewissheit quasi in der Natur selbst liegt. Die Natur funktioniert auf fundamentalem Niveau nach dem Zufallsprinzip.  Einsteins Gott – der „Alte“ - würfelt.

Experiment und Kriminalfall
Wir lernen in der Schule, daß alle Körper auf der Erde mit der gleichen Beschleunigung fallen, daß die Fallstrecke mit der Fallzeit quadratisch zunimmt. Ein Gesetz der Natur, von Galilei entdeckt. Schauen wir genauer hin, werden wir bemerken, daß es nie genau gilt. Eine Feder und ein Hammer fallen unterschiedlich schnell. Galilei beeilte sich, uns zu belehren, daß die Gesetze der Natur nur unter Idealbedingungen gelten, d.h. nur dann, wenn wir uns alle Komplikationen wie etwa Luftwiderstand und andere störenden Einflüsse wegdenken. Die Gesetze sind für eine ideale Natur gedacht. Die reale Natur aber ist der Inbegriff aller Komplikationen.

Im Grunde hat die experimentelle Physik durchaus Dürrenmattsche Züge. Sie muss immer mit Komplikationen rechnen. Und die Kunst des Experimentierens besteht eigentlich darin, Zufälliges auszuschalten. Physik ist eine Wissenschaft, die Störungen vermeiden möchte. Aber die Welt, so könnte man mit Wittgenstein sagen, ist alles, was stört. Ein Experiment ist eine Falle, in der man die Natur einzufangen sucht. Aber sie spielt dieser Falle immer wieder einen Streich. Der Zufall unterwandert die Gesetzmässigkeit. Ein guter Experimentator weiss das auch.

Dürrenmatt hat diese Unterwanderung in seinem Kriminalstück „Das Versprechen“ parodistisch durchgespielt. Dem Experimentator entspricht hier der Ermittler, der mit allen kriminologischischen Wässerchen gewaschene Kommissar Matthäi. Er ist der klassische Detektiv, glaubt daran, mit wissenschaftlicher Rafinesse einen Serienmörder zur Strecke bringen zu können. Er stellt ihm eine Falle, indem er ihn mit einem weiteren potenziellen Opfer ködert. Nach der Theorie sollte der Täter in die Falle tappen. Nur rechnet die Theorie nicht mit der Möglichkeit, dass der Mörder durch einen banalen Unfall ums Leben kommen könnte. Und das geschieht tatsächlich. Der Kommissar glaubt an seine Theorie und wartet auf ihre Bestätigung und weiss nicht, dass der Täter, der die Theorie bestätigen könnte, unerkannt umgekommen ist.

Die Natur wird vom Zufall regiert
Das ist quantentheoretisch gedacht. Der quantentheoretische Detektiv rechnet nicht nur mit dem, was geschieht, sondern auch mit dem, was nicht geschieht, aber geschehen könnte. Das heisst, er denkt dürrenmattsch, in Wahrscheinlichkeiten oder besser: Unwahrscheinlichkeiten. Und er hat erst noch grossen Erfolg. Die Quantentheorie ist die am besten bestätigte physikalische Theorie, die wir haben. Das Irritierende an ihr ist, dass sich ihre physikalischen Interpreten bis heute nicht einig sind, warum dies so ist. Immerhin akzeptieren immer mehr Physiker die Ansicht, dass die Natur auf fundamentalstem Niveau nicht von deterministischen Gesetzmässigkeiten, sondern vom Zufall regiert wird.

Gott hat Dürrenmatt trotzdem nie ganz losgelassen. In einem seiner letzten Gespräche sagte er: Wenn man schreibt, ist man immer der Grosse Alte. Das heisst, man kann wie Gott ausserhalb des Schachspiels stehen. Aber wenn man vom Schreibtisch aufsteht, ist man nur eine kleine Schachfigur. Dürrenmatt hatte, als er dies sagte, sein Lachen gelacht.




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