NZZ, 7.4.2016
Die meisten von uns kennen wahrscheinlich das Gefühl der Melancholie.
Aber wie steht es mit der Matutolypie: der morgendlichen Beklommenheit beim
Erwachen (zusammengesetzt aus dem Namen der römischen Göttin des Morgens, Mater
Matuta, und dem griechischen „lype“: Bedrücktheit)? Die britische Kulturwissenschafterin
Tiffany Watt-Smith macht uns in ihrer kürzlich erschienenen „Enzyklopädie der
Gefühle“ mit solchen exotisch klingenden, letztlich aber durchaus vertrauten
Emotionen bekannt.[1]
Frau Watt-Smiths Enzyklopädie ist eine bunte, oft kuriose Kollektion von
Aufgelesenem aus den verschiedensten Kulturen, Räumen und Zeiten, von
„Ambigophobie“ (Unbehagen vor Mehrdeutigkeiten) bis zu „Żal“ (polnisch für eine Art von Melancholie, die sich in Chopins Musik
ausdrücken soll). Möglicherweise spürt man ein Gefühl tatsächlich deutlicher,
wenn man einen Namen dafür hat. Aber es geht nicht bloss um Namen. Wie die Autorin
schreibt: „Die Art, wie wir fühlen, ist tief geprägt von den Bedeutungen, die
wir (den Gefühlen, E.K.) zuschreiben, Bedeutungen, die sich über Zeiten und
Räume verschieben. Ich verstehe diese Sammlung als Geste wider jene Versuche,
die schöne Komplexität unseres inneren Lebens auf eine Handvoll Basisemotionen
zu reduzieren. Wenn ich etwas gelernt habe: Wir brauchen nicht weniger Worte
für unsere Gefühle. Wir brauchen mehr.“
***
Die Sprache der Gefühle ist eine Sprache des Scheiterns; ein Scheitern
der Sprache. Wir alle kennen die Schwierigkeit und Verlegenheit, das Gefühl zu
beschreiben, das uns in einer bestimmten Situation befällt, dieses
diffus-flüchtige und doch oft so verflixt reale Je-ne-sais-quoi in unserer
Innenwelt. Wir greifen dann meist notgedrungen zu Metaphern aus der Aussenwelt.
Oft scheint es, als gehörten wir mehr den Gefühlen an, als die Gefühle uns. Wir
geraten in sie wie in Landschaften. Deswegen beschreiben wir ja Landschaften in
Gefühlstönen. Nicht nur sind Wolken trübsinnig, unser Trübsinn hängt wie eine
Wolkenbank in uns. Und wir haben mit Gefühlen die gleichen Probleme wie mit
Landschaften: wir können deren atmosphärischen Charakter im Grunde nicht
adäquat wiedergeben, wir müssen „mittendrin“ sein. Gerade in derartigen
Momenten bemerken wir, wie stark Gefühle von den jeweiligen Situationen abhängen,
in denen wir uns befinden. Man achte überdies auf die Doppeldeutigkeit des
Wortes „befinden“: es weist auf einen inneren Zustand und zugleich auf einen
äusseren Ort. So gehört zum Beispiel der Zorn zu den Basisemotionen, er
übertüncht meist mit kräftigem Impasto unsere Gefühlslage. Aber Zorn ist
selbstverständlich nicht Zorn. Der Zorn angesichts der unfairen Behandlung
eines Mitmenschen ist nicht der Zorn in einer Demonstration gegen Umwelzverschmutzung;
auch nicht der Zorn über die unangemessene Beurteilung einer Prüfungsarbeit
oder der Zorn über den Verfall der Sitten. Will man die Emotion beschreiben,
dann kommt man nicht umhin, Umstände und Umwelt dieser Emotion zu beschreiben.
***
Gefühle, so
schreibt der Nestor der Kognitionspsychologie Jerome Bruner, haben ihre kulturelle
„Signatur“. Nehmen
wir das Beispiel der Acedia. Sie wird meist mit Trägheit, Langeweile, Traurigkeit, Apathie umschreiben - allesamt
Prüfungen und Herausforderungen für den christlichen Mönch des Mittelalters.
Acedia rangierte unter den Lastern, als „Mönchskrankheit“. Sie führt nicht nur
zu Trägheit, sondern macht auch anfällig für Heimsuchungen sexueller Art, die
den enthaltsamen Mönch vor allem zur schläfrigen Mittagszeit als
„Mittagsdämonen“ plagen. „Schweifung des
Geistes in Richtung des Unerlaubten“, wie das Thomas von Aquin nannte. Können
wir Acedia heute fühlen? Der argentinische Generalabt der Zisterzienser
Bernardo Olivera scheint dies zu können. In einem Rundbrief am seine
Mitgläubigen im Jahre 2007 schildert er ausführlich die „Traurigkeit, die das
Verlangen nach Gott zersetzt“. Aber eben: man müsste schon gläubiger Mit-Leidender
sein, um in sich dieses spezifische Gefühl resonieren zu lassen.
Umgekehrt
würde kein mittelalterlicher Mönch jene spezielle Regung kennen, die heute
unter Handybenutzern aufkommt: die Klingelneurose; auf Englisch „ringxiety“, aus
„ring“ (klingeln) und „anxiety“ (Besorgnis). Man hört Phantomgeräusche, hat
ständig das Gefühl, dass jemand einen anrufe. Wahrscheinlich gab es auch im
Mittelater Leute, die ständig Stimmen und Geräusche hörten und in einem
entsprechend wachsamen und alarmierten Zustand lebten. Hatten sie ein Gefühl
wie Klingelneurose? Schon die Frage ist eigentlich irreführend. Wie kann einer
eine Klingelneurose haben, wenn es die Klingel noch gar nicht gibt? Wie kann
einer auf Draht sein in einer Kultur ohne Telefon? Klingelneurose ist ein
innerer Zustand in einem spezifisch technischen Kontext. Man kann Kontext und
Zustand nicht trennen.
***
Aber,
so meldet sich der Einwand, gibt es denn nicht „etwas Gemeinsames“ zwischen
Mönch und Handybenutzer, schliesslich gehören beide unserer Spezies an und
verfügen daher über das nahezu gleiche evolutionäre Outfit. Dieser Einwand ist
fast 150 Jahre alt. Er bereitete sich mit Darwins Buch „Der Ausdruck der
Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren“ (1872) vor, genauer: mit der
kühnen These, dass unsere Emotionen das Ergebnis eines Jahrmillionen dauernden
Anpassungs- und Ausleseprozesses sind. Wir fühlen so, wie wir fühlen, weil uns
die Evolution auf diese Weise geholfen hat, zu überleben. Wir ekeln uns, weil
wir uns dadurch vor Vergiftung schützen; wir lieben uns, weil wir dadurch
kooperieren und für Nachwuchs sorgen. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts
hatte diese These von den Gefühlen als Garnitur im Überlebenskampf eine breite
Anhängerschaft gewonnen, sodass William James sagen konnte, wir würden nicht
zittern, weil wir Angst haben, sondern wir hätten Angst, weil wir zittern.
Zuerst die körperliche Reaktion, dann das Gefühl. Eine solche Ansicht – auch
wenn sie in dieser Extremform kaum haltbar ist – erfreut sich heute in der
Neurophysiologie einer gewissen argumentativen Attraktivität. Etwas vergröbert,
läuft sie auf das Schema hinaus: Weil in der neuronalen Kommandozentrale
unseres Gefühlslebens, in der Amygdala, die-und-die Prozesse ablaufen, fühle
ich das-und-das. Das heisst, wir brauchen nicht eine Enzyklopädie
der Gefühle, wir brauchen eine universelle Hirnsprache; statt blumiger
Umschreibungen eines Gefühls präzise Angaben über Serotoninspiegel,
Glukokortidoidhaushalt und Adrenalinausschüttung.
***
Wenn man die Enzyklopädie als Bemühen
versteht, die Sprache der Gefühle gegen deren Auflösung im neuronalen Idiom zu
verteidigen, dann muss man ein solches Bemühen nicht bloss linguistisch,
sondern anthropologisch weiter fassen. Es geht um die „Auflösung“ des Menschen
im neurobiologischen Blick. Selbstverständlich korrespondieren Emotionen mit
Hirnereignissen, aber ein Hirnereignis ist ein Hirnereignis ist ein
Hirnereignis, und auf dieser Ebene erkennen wir nichts, was an eine Emotion
erinnert. Eine Adrenalinausschüttung mag gleich bleiben, aber wie sie sich
anfühlt, hängt ab von je meinem Zustand des Zorns, der Traurigkeit oder der
Euphorie. Wenn Gefühl und Ausdruck untrennbar zusammenhängen, dann tötet man
das Gefühl in dem Augenblick, in dem man es verhirnt.
Zur Debatte steht nicht, ob die
Fortschritte der Neurowissenschaften uns über unser emotionales Leben belehren
können. Das Problem ist ein forschungspolitisches. Wir stecken Miliarden in
Projekte, die Gehirn und Gefühle künstlich nachzubauen suchen. Der renommierte
Latsis-Preis wurde 2013 dem Emotionsforscher David Sander verliehen, für seine
Studien über die Steuerungsfunktion der Amygdala bei Emotionen. Das ist in
Ordnung. Aber gibt es einen Preis zur Erforschung der emotionalen Diversität?
Wieviel Geld bekäme ein solches Projekt? Eine Antwort auf diese Frage könnte
uns als Mass dafür dienen, wie weit wir uns von dem entfernt haben, was man
einst „human“ nannte.
[1] Tiffany Watt-Smith: The Book of Human
Emotions: An Encyclopaedia of Feeling from Anger to Wanderlust, 2015.
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