Da
wir häufigem Vernehmen nach im Zeitalter des Bullshits leben, fehlt eigentlich
die dazugehörende Frage: Liegt das daran, dass es so viele Arschlöcher gibt?
Zweifellos
können wohl die meisten von uns aus dem Stegreif ein paar Exemplare nennen, für
die es im Grunde keine bessere Bezeichnung gibt. Gegenwärtig fallen einem
spontan Namen wie jener des republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten, der
Vorsitzenden des Front National, eines neuen SVP-Parlamentariers oder einer
Pegida-Frontfrau ein. Dieses spontane Indizieren ist typisch, wenn man von
einem Arschloch spricht. Als ob wir von Natur aus mit einem spezifischen
Sensoren für Arschlöcher ausgestattet wären. Man erkennt dies auch oft an einer
bemerkenswerten Einigkeit des Urteils: Arschlöcher bringen die meisten auf die
Palme. Die Frage liegt deshalb auf der Hand: Lässt sich ein Personentypus sui
generis charakterisieren, welcher diese besondere Kennzeichnung verdient?
Arschloch und Gegenüber
Es
existieren genügend gebräuchliche Kriterien, um eine Person mit „Arschloch“ zu
titulieren: Rüpelhaftigkeit, Arroganz, Alphatier-Gehabe, Rücksichtslosgkeit,
Narzissmus, um nur ein paar zu nennen. Den kleinsten gemeinsamen Nenner könnte
man darin sehen, dass das Arschloch Schwierigkeiten hat, Menschen in der
Zweiten-Person-Perspektive zu begegnen, als Du. Natürlich anerkennt auch das
Arschloch den anderen Menschen als Gegenüber, und es fällt ja auch oft genug mit
seiner geradezu schweissfeuchten Leutseligkeit auf, besonders wenn es sich in
der Politik betätigt. Insgeheim aber nimmt das Arschloch sein Gegenüber nicht
wahr, sondern braucht es gewissermassen als Echopartner. Das Du ist Übermittlungskanal für Botschaften
des Ich an sich selber. Rousseau nannte diese Selbstbezüglichkeit den „amour
propre“: Selbstliebe, die sich über den „Umweg“ des anderen bestätigt und
bekräftigt. Das Unvermögen, die Du-Perspektive einzunehmen, äussert sich
übrigens in einem vielfach beobachteten Merkmal des Arschschlochs: seiner
Humorlosigkeit. Humor und Ironie bestehen ja im Wesentlich darin, dass man sich
selber aus der Perspektive des Du wahrnimmt – und sich auch womöglich weniger
ernst nimmt.
Das Arschloch diktiert den Diskurs
Normalerweise
nehmen wir den anderen in der Zweiten-Person-Perspektive wahr, indem wir seine
Meinung, seinen Widerspruch ernst nehmen. Das heisst nicht, dass wir auf diesen
Widerspruch stets im Detail eingehen, sondern, dass an der anderen Meinung
durchaus „etwas dran sein kann“. Das äussert sich ja sinnenfällig etwa darin,
dass man den anderen in einem Gespräch ausreden lässt, selbst wenn man dann
schliesslich doch widerspricht oder das Ausredenlassen mit entsprechender
Gestik des Nichteinverstandenseins begleitet. Von einer solchen „Verfassung“
des zivilisierten Diskurses hält das Arschloch wenig. Es betritt mit dem Bewusstsein
des Apriori-Rechthabens die Gesprächsrunde. Arschlöcher sind immer die anderen.
Ihre Einwände prallen am Arschloch ab, sie werden meist gar nicht als Einwände
wahrgenommen, sondern als willkommene Anstösse, den eigenen Standpunkt zu
befestigen. Für das Arschloch existiert das Du vielleicht als körperliche
Person, aber nicht als Instanz einer ebenso legitimen Meinungsbildung. Deshalb
muss man in einer Debatte mit einem Arschloch oft zu rabiaten Mitteln greifen,
um überhaupt Beachtung und Gehör zu finden („Jetzt hören Sie mir doch einmal
zu!“), und auf diese Weise steigt man dann wohl oder übel auf ein Niveau ab,
auf dem sich das Arschloch zuhause fühlt. Wenn es im Urban Dictionary zum
Beispiel heisst, das Arschloch sei jemand, der ernsthaft ein paar Arschtritte
brauche, dann bekennt sich eine solche Charakterisierung genau zu jenem Umgang,
den das Arschloch diktiert. Auch wenn man während der Rede eines Arschlochs den
Parlamentssaal verlässt, handelt man schon unter seinen Bedingungen.
Das Arschloch ignoriert seine Ignoranz
Das
Arschloch biegt das Faktum, dass jede Person ihren Standpunkt hat, zum
Sonderrecht um: MEIN Standpunkt ist ein spezieller. Es mag vordergründig
durchaus die Gleichberechtigung der Perspektiven akzeptieren, aber implizite
unterläuft es diese Egalität ständig durch Polemik, Regelverstösse, Unhöflichkeiten,
Tiefschläge. Im Gegensatz zum Rüpel, der einfach kein oder ein verkümmertes
Sensorium für Zivilität hat, agiert das Arschloch aus dem Eigendünkel heraus,
zu solchen Taten berechtigt zu sein, weil es ja schliesslich eine Ausnahme-Position
einnimmt. Nicht selten geriert es sich als kultiviert und gebildet und belehrt
den anderen gern „eines Besseren“; zum Beispiel, dass die SVP in der Schweiz
wie die Juden unter den Nazis behandelt werde, dass jeder Gläubige vom
Gotteswahn befallen sei, oder Banker ihr exorbitantes Gehalt ihrer Intelligenz
verdanken. So wie der Blinde seine Blindheit nicht sieht, ignoriert das
Arschloch seine Ignoranz. Es gelingt ihm erstaunlich gut, seine Defizienz als
Trumpf auszuspielen.
Milieu und Arschloch
Man
kann sich fragen, ob das Arschloch durch ein besonderes (männliches?) Milieu
begünstigt werde, oder umgekehrt, ob bestimmte Milieus den Typus geradezu
brauchen. Man denkt heutzutage vor allem an die Subkultur von extremistischen
Schlägertrupps oder Fussballkravallanten, aber auch an Popstars, Politiker,
Manager. Eine Fernsehshow wie etwa „Deutschland sucht den Superstar“ hat ja quasi
den Typus des TV-Arschlochs kreiert. Das neue Hybrid aus Medien und Politik begünstigt
ein Klima, in dem die politische Arschlochpopulation ins Kraut schiesst.
Paradebeispiel: Berlusconi, der nicht in Staatsgeschäften, sondern in bombastischen
Partys, Minderjährigenverführung und Betrügereien zu glänzen wusste. Sein
ganzer, offen zur Schau getragener Habitus strahlte die Botschaft aus: Seht
doch nur, wie es sich für ein Arschloch gut leben lässt! Präsident Obama repräsentiert
eher den Gegentypus zum Arschloch, weshalb sich darüber spekulieren liesse, ob
denn der Zuspruch, welchen Donald Trump gegenwärtig geniesst, auf den
heimlichen Wunsch vieler Amerikaner zurückzuführen sei, endlich wieder einmal
ein echtes Arschloch als Präsidenten zu haben.
Wirtschaftsarschlöcher
Macht,
sagt man, korrumpiert. Sie bringt das latente Arschloch in uns allen zum
Vorschein. Viele Spitzenpositionen in der Wirtschaft werden heute von
Arschlöchern besetzt, da sie solche Vermögen wie die Zweite-Person-Perspektive
verkümmern lassen. Menschen können noch so viele „gute“ Seiten an sich
vorweisen, in einer entsprechend gearteten Unternehmenskultur werden sie
dennoch mit dem Arschloch-Virus infiziert. Die Spitzenposition ist ja ohnehin wie
geschaffen für die Erste-Person-Perspektive: Ich bin der Boss! Ich sage, wo’s
lang geht! Es gibt die Vorzeige-Arschlöcher wie Al Dunlap, einen der brutalsten
Manager Amerikas, der sich an Machtausübungen wie Massenentlassungen geradezu
delektierte. Die britische Kolumnistin Lucy Kellaway hat in ihrem Büro-Roman
„Depptop“ diesem Typus ein gesalzen satirisches Porträt gewidmet. Sie argumentiert
freilich auch, dass es die „Biester im Sitzungszimmer“ brauche, um einer Firma
den nötigen Adrenalinstoss für die freie Wildbahn des Wettbewerbs zu geben. Sie
zitiert eine Bekannte, Managerin in Führungsposition, die ihr sagte, sie schaue
immer, dass an jeder ihrer Sitzungen ein Scheisskerl teilnehme. Scheisse düngt
bekanntlich.
Arschloch und Bullshit
„Dummheit
ist nicht meine Stärke“, sagt Paul Valérys Monsieur Teste von sich. Das kann
auch das Arschloch von sich behaupten. Seine Stärke ist eher das Bullshitverbreiten.
Es hat ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit. Wir sollten uns aber hüten, den
Arschloch-Charakter generell einem kognitiven Defizit zuzuschreiben, also der
Dummheit oder einem Fehlen oder Verkümmern der Zweiten-Person-Perspektive. Besonders
Medien-Arschlöcher haben ein ausgesprochen feines Gespür dafür, wie sie
wahrgenommen werden, auch wenn es zu ihrem Geschäft gehört, eine taktische
Dickhäutigkeit zu entwicklen. Sie wissen genau um die Wirkung etwa ihrer
historischen Vergleiche, und gerade ihre instrumentierte Schamlosigkeit kann ja
durchaus als ein Symptom dafür gesehen werden, dass sie sich in den anderen
versetzen können. Aber zugleich ist diese Schamlosigkeit in der heutigen Ökonomie der Aufmerksamkeit zu
einem zentralen Faktor geworden, der sich unter Umständen in der Auflagenstärke
auszahlt. Sicher nicht im moralischen Sinn. Aber das ist dem Arschloch
selbstredend egal.
Arschloch und moralisches Handikap
Das kleine Wort „ich” birgt ein grosses
Rätsel. Jede Person hat das Privileg, das Wörtchen allein auf sich anzuwenden.
Aber keine Person kann dieses Privileg für sich allein beanspruchen. Man könnte
das Arschlochtum als Versuch bezeichnen, diesen alleinigen Anspruch zu
vertreten. Darin liegt eine moralische Verfehlung, wie dies schon Kant ganz klar
herausgestellt hat. Er fragt nämlich in seiner „Vorlesung über Ethik“: Was soll
das für ein Gesetz sein, aus dem ein Mensch seine Sonderrolle und –position
ableitet? Und in seiner Antwort redet Kant Fraktur: „Es ist nichts ärger und
abscheulicher, als sich ein falsches Gesetz zu erkünsteln, nach welchem man
unter dem Schutz des wahren Gesetzes Böses tun kann.“ Das wahre Gesetz ist der
bekannte kategorische Imperativ: Handle
nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein
allgemeines Gesetz werde. Das sogenannt „gute Recht“, welches das Arschloch für
sich herausnimmt, ist „erkünstelt“. Kant: „So lange der Mensch das moralische
Gesetz übertreten hat, allein es noch in seiner Reinigkeit erkennt, der kann
noch gebessert werden, weil er noch ein reines Gesetz vor sich hat; wer sich
aber ein günstiges und falsches Gesetz erkünstelt hat, der hat einen Grundsatz
zu seiner Bosheit und bei dem ist keine Besserung zu hoffen“.
Wenn moralischs Denken und Handeln den
Versuch darstellen, die Enge der Ich-Perspektive zu überwinden, dann hat das
Arschloch also ein moralisches Handikap: es kann sich nicht oder nur sehr wenig
aus der Ich-Perspektive lösen. Letztlich betrügt
also das Arschloch sich selbst. Es ist nicht zu bedauern.
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