Oder Kritik der schmeckenden Urteilskraft
Wer etwas auf sich hält, gibt sich heute gern als
Weinconnaisseur zu erkennen. Die demokratisch-egalitäre Gesellschaft hat zwar
die alten Standesunterschiede abgeschafft, aber der Wille zu Noblesse und
Dinstinktion ist geblieben und er scheint sich unter Genussbürgern nun im
Geschmacklichen zu etablieren. Geschmack, so lehrte uns Pierre Bourdieu in
seinem nunmehr klassischen Werk „Die feinen Unterschiede“, ist ein Indikator
für kulturelle Schichtung. Klasse misst sich also im Besonderen am Verständnis
für klassifiziertes Gewächs. So jedenfalls könnte man den gegenwärtigen Boom
der Weinseminarien, Weinmessen, Weinreisen, Weinblogs deuten. In den Buchhandlungen
reiht sich die Weinliteratur regalmeterweise. Die Zahl der Fachzeitschriften
wächst; auch jene der Önotheken. Im Lifestyleteil der Zeitungen nimmt der Wein
eine prominente Stellung ein. Inzwischen schenken auch die Philosophen dem Getränk
ihre Aufmerksamkeit. Dem griechischen Symposion nachempfundene Önosophieabende
werden veranstaltet. Und auf dem Buchmarkt erscheinen so verheissungsvolle Titel
wie „Ich trinke also bin ich“ (Roger Scruton), „Die Philosophie des Weins: Ein
Fall von Schönheit, Wahrheit und Vergiftung“ (Cain Todd, englisch) oder auch
einfach „Fragen des Geschmacks“ (Barry Smith, englisch). Die Philosophin Gloria
Origgi plädiert darin gar für eine „Wein-Epistemologie“, also für eine Untersuchung
dessen, was eigentlich die Kennerschaft auf diesem Gebiet ausmacht.
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Gerade dieses letzte Thema scheint mir einen tieferen Blick ins
Glas zu rechtfertigen. Denn jeder Schluck Wein repräsentiert im Grunde ein vertracktes
philosophisches Problem. Er ist eine gustatorische, olfaktorische und haptische
Gesamterfahrung, er mobilisiert mit Gaumen, Nase und Tastsinn jenen Teil
unseres Sensoriums, der „nur“ mein subjektives Empfinden, meine Geschmackspräferenz
ausdrückt. Aber das ist lediglich die eine Hälfte der Weinerfahrung. Ein
Weinkenner will selbstverständlich nicht einfach nur sagen: Der Tropfen gefällt
oder missfällt mir. Du magst Chateau
Lafite, ich mag Crozes-Hermitage, ein Dritter zieht einen Pinot Noir aus dem
Nappa Valley vor. Damit hat es sein Bewenden. Über Geschmack lässt sich nicht
streiten.
Diesen Relativismus des Gaumens straft die Weinwelt Lügen. Es
wird sehr wohl gestritten, und zwar heftig und in der höchsten Expertenliga. Einen
Sturm im Probierglas verursachten z.B. 2004 der amerikanische
Hochleistungstester Robert Parker und die Herausgeberin des Oxford Companion of
Wine, Jancis Robinson, als sie sich über
die Qualität des 2003er Jahrgangs von Chateau Pavie aus Saint-Emilion uneinig
waren. Für Parker einer der besten Weine überhaupt aus dieser Region, für
Robinson ein gebietsuntypischer „lächerlicher“ Tropfen. Parker warf Robinson
vor, den Wein gar nicht degustiert zu haben. „Wer meint, dies sei ein guter
Wein, braucht ein Hirn- und Gaumentransplat“, legte sich ein anderer
Grosskritiker, Michael Broadbent vom Auktionshaus Christie’s, für Robinson ins
Zeug. Weitere Kritiker stürzten sich in die Querele. Vorwürfe der Ignoranz, Inkompetenz,
Interessenverbandelung flogen mit gezielter Perfidie hin und her.
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Typisch für Pseudo-Expertismus, wird man vielleicht
sagen, nur zu bekannt aus all dem aufgeblasenen Bombast der Weinwerbung, bei der
man sich oft irritiert fragt, was denn eigentlich Vorrang habe: die Beschreibung oder der Wein. Aber wie sehr man
darüber lachen mag, der Konflikt enthüllt exemplarisch das zentrale Problem. Die
„direction of fit“ – wie der Fachterminus in der Sprachphilosophie lautet - des Weinexperten ist auf das Objekt gerichtet.
Er will sagen: Das ist ein guter oder weniger guter Tropfen; Wein von
bestimmtem Charakter und von besonderer Qualität. Gewiss, der Wein hat
materielle Eigenschaften, die man relativ objektiv untersuchen kann. Das ist
Sache der Önologie. Aber gut oder schlecht ist er nicht allein aufgrund dieser
Eigenschaften, auch nicht nur, weil er mir gefällt oder missfällt, sondern
aufgrund von etwas Drittem, der kollektiven Akzeptanz von Kriterien, z.B. eines
Benotungsystems. Die Güte eines Weins ist also ein komplexes, mindestens
dreidimensionales „Faktum“, das sich im Koordinatensystem von persönlichem
Geschmack, materiellen Eigenschaften und sozialem Kontext einer Kennergemeinschaft
verorten lässt.
Deshalb stellt ein Urteil über den Wert eines Weins stillschweigend
immer auch die Rückfrage nach dem Wert des Urteils. Und diese Frage wiederum
verweist auf eine tiefer liegende: Was ermächtigt
einen Weinkenner wie Parker zu seiner herausragenden Stellung? Zweifellos kann er
sich auf seine Erfahrung, sein Wissen und seine Kompetenz berufen; womöglich hebt
ihn auch die Exquisitheit seines physiologischen Apparats vom Normaltrinker ab.
Der Punkt ist aber nicht, wie der Kenner zu seinem Wissen kommt, sondern wie er
es rechtfertigt und verantwortet. Immanuel Kant versah solches Rückfragen mit
dem Etikett „quid juris“, also: Woher
nimmst du das Recht, so zu urteilen? Geschmack, so Kant, ist eine erworbene Fähigkeit des
Unterscheidens und Beurteilens. Und er bezeichnete sein Unternehmen als
„Kritik“, weil er mit ihm die Möglichkeiten und Grenzen dessen abzustecken
suchte, was wir Menschen aufgrund unserer Vermögen, seien sie intellektuell
oder sensorisch, überhaupt können.
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Eine derartige kritische Einschätzung von „Autoritäten“, in deren
Namen Wissensansprüche erhoben werden, erscheint dringlicher denn je. Denn die
Wissensgesellschaft wird immer „flacher“, d.h. die Grenze zwischen Amateur und
Experte verwischt sich zusehends. Heute ist jeder eine Autorität, den wir dafür
zu halten bereit sind. Und diese Bereitschaft ist gross. Die neuen Technologien
des Wissens – Enzyklopädien wie Wikipedia oder Suchmaschinen wie Google –
wiegen uns in einer Art von egalitärem Utopismus, dass im Grunde jeder ein
Experte auf jedem beliebigen Gebiet sein oder werden kann. Allfällige
natürliche Grenzen oder Defizite lassen sich durch künstliche Aufrüstung
überwinden. Wissen ist auf Klick zu haben. Das „Expertentum“ der neuen
Wissenstechnologien ist derart omnipräsent und -potent geworden, dass es zu
einem virulenten Problem auszuwuchern droht - zu einem Paradox: Je mehr wir
unser Wissen an künstliche Experten- und Wissenssysteme „outsourcen“, desto
mehr unterminieren wir seine Grundlage: die Vertrauenswürdigkeit.
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Das
Meiste, was wir vermeintlich wissen, glauben wir im Grunde. Das heisst, wir vertrauen
dem Urteil anderer, vornehmlich von Experten auf dem jeweiligen Gebiet, sei
dieses nun Weinkultur, Halbleiterphysik, Psychoanalyse oder christliche Lyrik
des 12. Jahrhunderts. Wissen und Vertrauen sind ein intimes Paar. Leonhard
Euler, einer der grössten Universalgelehrten der Neuzeit, unterschied in seinen
vielgelesenen „Briefen an eine deutsche Prinzessin“ (1773) drei Arten von
Glaubwürdigkeit. Alles, was wir wissen, schreibt er, „wissen wir entweder durch
die Erfahrung oder durch Vernunftschlüsse oder durch den Bericht eines andern
(..) Wenn wir nichts von dem glauben wollten, was uns andere sagen oder was wir
in ihren Schriften lesen, (würde) unsere Erkenntnis in einem sehr traurigen
Zustand (sein).“
Was also kennzeichnet den
Kenner? Sicher Wissen, Erfahrung, Unterscheidungsvermögen, Geschmack für das
Objekt seines Interesses und seiner Passion. Es gibt ein aus dem Gebrauch
gekommenes Wort dafür: Kunde. Weinkunde. Pflanzenkunde. Erdkunde. Völkerkunde.
Das Wort drückt sehr schön die subjektiv-objektive Doppeldeutigkeit des Wissens
aus: Ich habe Kunde von etwas und ich
bin kundig. Den Kundigen charakterisiert
immer auch seine Person. Sie
verkörpert den Ankerpunkt der Glaubwürdigkeit. Obwohl es idealerweise zutrifft,
dass die wissenschaftliche Diskussion das Sachargument vor Person, Namen und
Status stellt, spielt die Person eben durchaus eine Rolle als Bürgin von Qualität.
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Ich möchte von der
moralischen Dimension des Wissens
sprechen. Das heisst, neben die Frage: Ist das wahr? tritt die ebenso zentrale
Frage: Ist das glaubwürdig? Ihre Bedeutung wächst mit der Dimension des
Netzes, in dem sich mittlerweile, wie man hört, Information von der
Grössenordnung Zettabyte (1021 Bytes) ansammelt. Eine unvorstellbare
(und wachsende) Menge, die zu bewältigen – wenn überhaupt - nur noch mit
leistungsfähigen Algorithmen möglich ist. Information kann objektiviert,
ausgelagert, gespeichert, verwaltet und insofern auch von einer Maschine
verarbeitet werden. Wissen sagt man, ist Information mit Wert. Dieser Wert
misst sich allerdings nicht an der Anzahl von Links im dendritischen Labyrinth der
Netzverbindungen. Der oberste Wert ist Glaubwürdigkeit. Wissen braucht ein Subjekt, eine Person, die das Wissen
verantwortet, die einsteht für dessen Glaubwürdigkeit. Sie lässt sich nicht outsourcen.
Hiezu ein Beispiel. Will ich – sagen wir - etwas über
Kakadu-Zwergbuntbarsche wissen, klicke ich den einschlägigen Wikipedia-Artikel
an, und ich gehe davon aus, dass er aus vertrauenswürdiger Quelle stammt, die
möglicherweise auf weitere vertrauenswürdige Quellen verweist - undsoweiter.
Ich delegiere sozusagen die Vertrauenswürdigkeit. Aber dieses Delegieren muss
einen Halt haben, irgendwann und irgendwo im Netz muss sich eine Primärquelle
finden. Und diese Primärquellen sind kundige
Leute, die sozusagen in persona dafür garantieren, dass das Wissen über
Zwergbuntbarsche mit der Welt der Zwergbuntbarsche übereinstimmt.
Das Motto einer der ersten
neuzeitlichen Forschungsinstitutionen – der Royal Society - lautet „Nullius in
Verba“: auf niemandes Worte schwören. Auch wenn man darin eine deutliche
Willensbekundung zum experimentell Bewiesenen und gegen das Zitat von Autoritäten
sehen kann, muss doch daran erinnert werden, dass es im 17. Jahrhundert noch selbstverständlich
war, die Qualität von experimentellen Resultaten an der Vertrauenswürdigkeit
der Forscher zu messen. Ihr Anspruch auf wissenschaftliche Dignität basierte
auf gegenseitiger Anerkennung. Das heisst, der Wissenschafter war ein Gentleman, ein „Ehrenmann“ des Wissens.
Man sollte bei aller Hochhaltung unpersönlicher Objektivität diese eminent
wichtige Funktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit im Schaffen von
Glaubwürdigkeit nicht unterschätzen. Das gilt für jegliche Art von
Expertentum.
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Wie für den Wein wäre deshalb heute auch für Wissen so etwas
wie eine „Appellation d’Origine Contrôlée“ einzuführen. Von wem, woher stammt
es? Wie wurde es „produziert“? Wer garantiert für seine Qualität? So wie die
Verlässlichkeit der Wissenschaft letztlich auf dem wachsamen Vertrauen innerhalb der scientific community beruht, so wird es zum
dringlichen Erfordernis einer verflachenden Wissensgesellschaft, dass im Basar
der Experten der einzelne Wissensbürger sich ein eigenes Urteil zumutet und
zutraut. Analog zum Gespür
für die Qualität eines Weines, das sich nur entwickelt, wenn man ihn mit seinen
eigenen Sinnen prüft und sich selber ein Urteil zutraut, gilt es ein Gespür für
die Qualität all dessen zu entwickeln, was uns als Wissen angeboten wird – im
alten Sinne des Wortes „expertus“: ich habe es selber erfahren, erprobt,
geschmeckt.
Womit wir zum Schluss glücklich wieder zum Weinkenner zurückgekehrt
sind. Robert Parker sagt selbst, dass der individuelle Gaumen nicht zu
ersetzen sei und keine bessere Weinschulung existiere als das eigene Prüfen des
Weins. Das Motto der Aufklärung
lautete „sapere aude“. Wage zu wissen. Eingedenk der Etymologie des Wortes
„Wissen“, das ursprünglich auch „Schmecken“ bedeutet, müsste heute also eine
schmeckende Urteilskraft das Motto „Wage zu schmecken“ in sein Recht setzen. Wissen
genügt nicht. Man muss Geschmack an ihm finden. Aufklärung beginnt bei den
Geschmacksknospen.
Guten Tag Herr Kaeser,
AntwortenLöschenerst gestern bin ich auf Ihren Artikel zum Thema Religion und Wissenschaft in der 'Zeit' aufmerksam geworden.
Ehrlich gesagt, ich finde es lächerlich! In den letzten Jahren kommen immer häufiger christliche 'Naturwissenschaftler' aus ihren Löchern und versuchen irgendwo ihren Gott und damit ihre persönliche Privatmeinung in den Naturwissenschaften unterzubringen.
Ein Beispiel ist auch Anton Zeilinger und sein Quantengott.
Die Kopenhagener Deutung, die er so vehement vertritt muss nicht notwendigerweise die korrekte Sichtweise sein ! Es gibt beispielsweise auch noch die deBroglie-Bohm-Theorie.
Des Weiteren steht außer Frage, dass es in den naturwissenschaftlichen Theorien noch viele weiße Flecken oder sogar Fehler gibt, hier könnte man Gott vielleicht noch hinbugsieren, wenn man denn einen braucht.
Da Sie sich ja als 'Experte' für die Philosophie des Geistes ausweisen, möchte ich Ihnen den folgenden kurzen Überblick über einige psychologische Theorien für die Ursachen eines Gottesglaubens nahelegen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Gott#Psychologische_Erklärungsversuche
Als 'Experte' für die Philosophie des Geistes wissen sie ja sicher auch, dass so etwas wie eine 'Psychophysik' tatsächlich existiert. Starke Hinweise auf diese Tatsache liefern beispielsweise:
Mondtäuschung
http://de.wikipedia.org/wiki/Mondtäuschung
Wahrnehmungstäuschungen
http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Wahrnehmungstäuschung
Leggett-Garg-Ungleichung
http://en.wikipedia.org/wiki/Leggett%E2%80%93Garg_inequality
Wie Sie sehen, der KONSTRUKTIVISMUS ist auf dem Vormarsch !
Hat Jesus je etwas derartiges gelehrt ?? -- Ups, ich glaube nicht !
Aus der oben dargelegten Psychophysik, ergibt sich, dass auch Tiere und Pflanzen ihre Umwelt auf ähnlich den Menschen wahrnehmen.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Vegetarismus/Veganismus und eines schonenden Umgangs mit der Fauna.
Ihre Artikel über die böse Pop-Wissenschaft und den lieben Gott sind auch deshalb so köstlich, weil sie ein gutes Beispiel für einen Selbstbezug sind:
Ein bestenfalls auf popularwissenschaftlichem Niveau tätiger Schweizer Physiklehrer (Sie) schreibt in diversen Massenmedien über die böse Popularwissenschaft und zieht dabei noch über die wirklich Großen der Physik her.
Aber zum Thema Selbstbezüglichkeit habe ich etwas für Sie.
Auf meiner Wikipedia-Benutzerseite
http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Basti_Schneider
schreibe ich an einem kurzen Artikel wie man den Buddhismus (nicht das Christentum oder die anderen abrahamitischen Religionen !!) und die Naturwissenschaften noch näher zusammenbringen kann.
Es ist aber alles noch relativ ungeordnet und chaotisch.
Nach all den blauen AUGEN, die die christliche Religion in der Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaften schon kassiert hat (Erde Mittelpunkt des Weltalls etc.), können die Christen wohl auch dieses mal wieder ihre Sachen packen!
Ich persönlich helfe Euch gerne dabei (beim Packen)!
Viele Grüße auch an Ihre christlichen und weltoffenen (Minarette) Eidgenossen , beschützt weiter den Ratzinger Seppl so vorbildlich !
Und nicht vergessen, Gott ist immer anwesend, zumindest in den Wahnvorstellungen der Schweizer.
http://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerpsalm
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Schneider
Berlin, Deutschland
P.S. Weinbau ist aufgrund der riesigen Monokulturen ökologisch nicht besonders positiv.
Aber irgenwie muss man sich ja profilieren, nich..?