Hat der Fortschritt der Wissenschaft und Künste zur Läuterung
der Sitten beigetragen? Die Preisfrage der Académie de Dijon aus dem Jahre 1750
verdiente mehr denn unsere Aufmerksamkeit. Rousseausche Sätze aus seiner
preisgekrönten Schrift bieten sich geradezu an, auf aktuelle Zustände
angewendet zu werden. Etwa auf die Politik: „Die antiken Politiker sprachen
ohne Unterlass von den Sitten und der Tugend, die unseren sprechen nur vom
Handel und vom Geld“; oder auf das Internet: „Das Falsche lässt eine
Unendlichkeit von Kombinationen zu, die Wahrheit hat nur eine Weise des Seins.“
Rousseau, der zu seiner Zeit die ersten Vorboten der Industrialisierung
beobachtete, würde triumphierend den von ihm diagnostizierten kulturellen
Verfall bestätigt sehen. Technisierung unserer Lebenswelten, die Künstlichkeit
des sozialen Umgangs in den neuen Medien, die masslose Ausbeutung der Natur,
die Umweltzerstörung, der globale Konsumismus, die Aufrüstung – wenn wir solche
Phänomene etwas grosszügig als heute herrschende „Sitten“ verstehen, dann
liesse sich daraus ein zivilisatorisches Sündenregister erstellen, das überreif
ist, erneut ins Gebet einer rousseauistischen Sittenkritik genommen zu werden.
Kann man sie heute noch ernst nehmen? Sicher nicht im Namen des
vieldiskutierten „homme naturel“ und einer diffusen tugendhaften
Ursprünglichkeit. Ohne Rousseau nun als Kritiker postmoderner Zustände avant la
lettre feiern zu wollen, kann sein Ideengut gerade durch das Prisma der modernen
Wissenschafts- und Technikgeschichte betrachtet als erstaunlich aktuell
gewürdigt werden, und zwar in dem Verhältnis, in dem wir die Schlüsselfrage des
ersten Diskurses aktualisieren: Was bleibt vom Menschen in all den neuen Errungenschaften,
die ihm die Technik und die Wissenschaft gebracht haben? Ist der Fortschritt
wirklich so gross wie er ausschaut? In jeder Antwort auf diese Frage redet
Rousseau heimlich mit.
***
Betrachten wir das Beispiel zweier spektakulärer Naturereignisse,
die 250 Jahre auseinanderliegen: das Erdbeben von Lissabon 1755 und der Tsunami
in Japan 2011. Die Katastrophe von Lissabon erschütterte damals nicht nur den
Erdboden, sondern den Glaubensboden einer gottgegebenen kosmischen Ordnung. Wie
kann ein gütiger vorsehender Gott in der besten aller Welten ein solches Übel zulassen?
fragte Voltaire streitlustig. Diese Schuldfrage hat einen falschen Adressaten,
entgegnete Rousseau, sie sollte an den Menschen gerichtet werden. Rousseaus
Diagnose war genial und erstaunlich zukunftsweisend: Naturkatastrophen sind
eigentlich Zivilisationskatastrophen. „Gestehen Sie mir,“ schreibt er im Brief der Vorsehung, „dass nicht die
Natur zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken zusammengebaut
hatte, und dass, wenn die Einwohner dieser grossen Stadt gleichmässiger
zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, die Verheerung weit geringer
ausgefallen, und vielleicht gar nicht geschehen wäre.“ Rousseau würde heute ein
ähnliches Argument auch gegen den Bau von Kernkraftwerken in gefährdeten Zonen
erheben können. Seine Erwiderung ist der Prototyp der anthropogenen
Ursachenanalyse: Wenn die meisten Übel menschengemacht sind, sind sie auch
prinzipiell kurierbar. Bleibe die Vorsehung, wo sie will.
Rousseau ist ein Dissident des Fortschritts; einer, der die
Entwicklung von Wissenschaft und Technik in ihrer Doppelgesichtigkeit wahrnimmt.
Er interpretiert das Verhältnis von Früher und Heute nicht als ein Aufstieg, vielmehr
unterkellert er die Fortschrittsgeschichte seiner Zeit mit einer Gegenerzählung
des Verfalls - was tollkühn anmutet in einer enzyklopädistischen Epoche, die sich
(nicht unähnlich zu heute) im stolzen Selbstbewusstsein wiegt, durch Wissenschaft
und Technik eben erst auf eine höhere Entwicklungsstufe gehoben worden zu sein.
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Jede Technologie entwickelt ihr Potenzial an Entlastungen,
aber auch an Belastungen des Menschen. Auf die Zumutung dieser Ambivalenz
reagiert Technikkritik. Betrachten wir ein anderes aktuelles Beispiel. 2008
schrieb der amerikanische Publizist Nicolas Carr einen vieldiskutierten Artikel
mit dem Titel: „Macht Google uns dumm?“ Carr beschreibt darin einen
schleichenden Umwandlungsprozess in seinem Leseverhalten, der den meisten Computer-
und Internetbenutzern bekannt sein dürfte: den Schwund an Aufmerksamkeit, die Mühe,
an einem Text „dranzubleiben“. Carrs Diagnose lässt aufhorchen: „Indem wir uns
in unserem Verständnis der Welt auf Computer verlassen, verflacht unsere eigene
Intelligenz zunehmend zur künstlichen Intelligenz.“
Google macht uns dumm; die Technik macht das-und-das aus uns.
Das Lamento mutet wie die Reprise einer Grossdiskussion aus dem 18. Jahrhundert
an. Rousseau war Zeuge einer beginnenden Technisierung des Lebens. Dazu
gehörten Buchdruck und Buchmarkt, die Europa eroberten. Die Literaten empfanden
die Büchermassen auf eine Weise, wie wir heute die digitale „information
overload“ erfahren. Plötzlich gibt es ungeheuer viel mehr an Geschriebenem als
ein Einzelner verarbeiten kann. Und wie viele schreibende Zeitgenossen
echauffierte sich Rousseau über die Druckerpresse, die seiner Meinung nach die
„Auswüchse des menschlichen Geistes“, zumal die „gefährlichen Träumereien“ von
Philosophen wie Hobbes oder Spinoza „verewige“, und ohnehin in Europa bereits
„schreckliche Wirren“ angerichtet habe.
Carr und Rousseau operieren mit einem Argument, das typisch
ist für „dissidente“ Technikkritik. Eine neue Technologie – Buchdruck im Falle
Rousseaus, Googeln im Falle Carrs – wird zur Gewohnheit und „bringt“ die
Menschen „dazu“, nur noch oberflächlich zu lesen (Carrs neuestes Buch heisst
„The Shallows“: die „Seichtgebiete“). Das mag fallweise zutreffen. Aber das Argument
bastelt auf einer allgemeinen Ebene an einem schiefen Bild der Technik und
ihres Einflusses auf den Nutzer. Ob wir nun ein Buch lesen oder im Netz
googeln, wir werden nicht einseitig vom Gerät oder vom Medium „determiniert“,
vielmehr treten wir in ein komplexes Wechselverhältnis zu ihm. Wir können also
nicht Technik zur alleinigen Verursacherin allen Übels erklären, wir müssen
einen Blick auf uns selbst als Teil der Symbiose von Mensch und Technik werfen.
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Fragen wir also neo-rousseauistisch: Was bleibt vom Menschen?
Eine Beobachtung aus dem „Emile“ erweist sich als von weitreichender
analytischer Schärfe: „(Man) könnte meinen, sie hätten Angst, dass ihnen die
Arme und Finger zu etwas nütze sein könnten, so viele Werkzeuge erfinden sie, um
auf sie verzichten zu können (..) Vor lauter Apparaten, die wir um uns herum
aufstellen, entdecken wir keine mehr in uns selbst.“ Ein Satz, der auf fast
ungeheuerlich präzise Weise ins Mark unseres technisierten Lebens trifft. Ich
interpretiere ihn so: Technik ist Delegieren menschlichen Könnens an Geräte.
Mit zunehmender Potenz und Rafinesse der Geräte wächst auch die Gefahr, das
Delegieren als Verzicht auf eigene Fähigkeiten zu missverstehen. Rousseau
wendet sich nicht gegen die Technik schlechthin, er warnt nur vor einem
unbedachten Gebrauch, der unsere naturgegebenen Fähigkeiten verkümmern lässt:
„Wenn wir (..) zur Herstellung dieser Apparate die Geschicklichkeit anwenden,
die durch sie ersetzt wird, wenn wir, um die Apparate zu erfinden, den
Scharfsinn aufbieten, den wir nötig hätten, wenn wir sie entbehren müssten, so
gewinnen wir ohne zu verlieren, wir fügen zur Natur die Kunst und werden erfinderisch,
ohne darum weniger geschickt zu sein.“
Erneut blitzt hier die stupende Aktualität Rousseaus auf. Es
geht, wie man bemerkt, überhaupt nicht um ein „Zurück zur Natur“, sondern um
ein „Win-Win“-Verhältnis von Mensch und Technik. In dem Masse, in dem die
Geräte die Fähigkeiten der Menschen übernehmen, in dem Masse müssen die
Menschen dieser Fähigkeiten innewerden und zu bewahren wissen. So empfiehlt Rousseau,
ein Handwerk primär zu lernen, um die Vorurteile zu beseitigen, die es missachten.
Der heutige „natürliche Mensch“, könnte man sagen, ist der Mensch, der eine
Balance von eigenen Fertigkeiten und technischen Hilfsmitteln herzustellen
vermag; der statt ständig zu twittern auch einmal eine Gespräch von Angesicht
zu Angesicht führt; der statt zu googeln auch einmal konzentriert einen Text
liest; der statt sein GPS zu konsultieren auch einmal einen Blick in die Umgebung
wirft.
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Was bleibt vom Menschen? Eine solche Frage beruft sich im
Grunde auf eine normative Anthropologie, d.h. sie bringt ein Menschenbild als
Kontrastmittel ins Spiel, das Defizite und Verfallserscheinungen erkennbar
macht. Wer den Vorwurf der Verderbtheit erhebt, muss eine Vorstellung von
Unverderbtheit haben. Wer wie Rousseau von der Wissenschaft sagt: Das ist „eitle“
Neugier, die ist nicht gut!, der meint stillschweigend: Das sollte anders sein, wir sollten eine
„uneitle“ Neugier pflegen, sie ist besser!
Dieses Verfallsargument braucht quasi als Operationsbasis
einen Idealtypus des Menschen. Für Rousseau war dies der Bauern-Philosoph: der
Mensch, der arbeitet wie ein Bauer und denkt wie ein Philosoph. Die
viktorianischen Kulturkritiker des Industriezeitalters nach ihm – etwa Thomas
Carlyle oder John Ruskin – feierten den Ästheten, der gegen die hässliche
Massenproduktion des Maschinenzeitalters Kunst und Kunsthandwerk hochhält. Der
rechtsintellektuelle Philosoph Arnold Gehlen wiederum profilierte sich in der Mitte
des 20. Jahrhunderts geradezu als Anti-Rousseau, als er rief: „(Der) Mensch wird natürlich und alles wird
möglich. Es muss heissen: Zurück zur Kultur!“ Sein Idealtyp war der
Asketen-Philosoph, der Reduit-Intellektuelle einer „schöpferischen Minderheit“,
welcher der „sinnlosen Entwicklung“ zum „Wohlergehen auf Weltebene“ entsagt.
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Die Reihe dieser hochgezüchteten Blüten aus dem
philosophischen Florarium liesse sich beliebig fortsetzen. Die Frage stellt
sich unweigerlich: Und heute? Wir berühren hier eine äusserst neuralgische
Stelle postindustrieller Gesellschaften. Wir leben in Technotopen. Geräte und
Gadgets sinken ein in unsere Kommunikation, unsere Bewegungsformen, unser
Denken, ja unser Seelenleben. Und in diesem Rahmen versteht sich auch Anthropologie
zunehmend als Anthropo-Technik, als
Verbesserung – Enhancement – des Menschen, im Klartext: als seine Adaption an
technisierte Umwelten. Der Mensch wird zum Technikfortsatz. Für viele ist es
bereits unmöglich, sich ein Leben ohne Computer, Handy oder Auto vorzustellen. Überkandidelte
Techno-Visionen verkünden ein Zeitalter nach dem Menschen, eine Posthumanität als beste aller möglichen
Welten. Als Günther Anders von der „Antiquiertheit des Menschen“ sprach, meinte
er eigentlich, dass das Zeitalter der Menschenbilder vorbei sei. Der Mensch ist
auch nur ein App. In einem solchen Klima des erbarmungslosen Techno-Optimismus
(heute vor allem: des Informationsoptimismus) erscheint die Frage nach dem
Verbleib des Menschen obsolet. Und hier taucht
das Rousseausche Projekt in einer zeitgemässen Version wieder auf als der
Versuch, in der zunehmenden Autonomie
der Artefakte – sagen wir es vorsichtig - eine menschliche Teil-Autonomie zu
behaupten. Eigentlich sind wir alle Dissidenten des Fortschritts, in dem Masse,
in dem wir nur das wieder entdecken, was wir schon können. Deshalb heisst es
heute nicht „Zurück zur Natur“, sondern „Vorwärts zum Menschen“.
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