Warum die
Wissenschaft die Religion nicht überflüssig macht
Die Siegergeschichte des Fortschritts hat ihre Mythen. Dazu gehört die
Auffasssung, die wissenschaftliche Weltsicht habe die religiöse überwunden. Wir
sehen in Technik und Naturwissenschaften Hauptagenzien der Säkularisierung,
der „Entzauberung“ der Welt. Aber die Siegergeschichte des Fortschritts verdrängt
die Sub-Geschichte eines wissenschaftlichen „Unbewussten“, in dem wir auf eine
Vielzahl von Spuren des Religiösen stossen. Technik und Wissenschaft weisen
eine eigentümliche religiös-säkulare Ambivalenz auf. Man gewinnt sogar den
Eindruck, um hier den französischen Wissenschaftsphilosophen Bruno Latour zu
paraphrasieren („Wir sind nie modern gewesen“), dass wir gar nie säkular
gewesen sind. Diesen Eindruck möchte ich kurz am Beispiel zweier Hauptspuren etwas
verstärken.
Der Fortschrittsgedanke,
namentlich in der Idee der Perfektionierung des Menschen, speist sich aus einem
ursprünglich religiösen Kernmotiv, das die Moderne über eine verborgene
Traditionslinie mit dem ersten christlichen Jahrtausend verbindet. Damals sahen
sich die „mechanischen Künste“ von der kirchlichen Elite eher gering geschätzt.
Es war der Philosoph Johannes Scotus Eriugena (9.Jh.), der eine
Neuinterpretation vornahm und in der Nützlichkeit der technischen Artefakte nicht
nur eine praktische, sondern auch eine spirituelle Komponente erkannte. Das
Heil, so Eriugena, kann buchstäblich erarbeitet werden in weltlichen
Anstrengungen, nicht zuletzt durch technische Innovationen. Die mechanischen
Künste zu pflegen, zu verbessern und zu vervollkommnen heisst, den
„gottgleichen“ Zustand des Menschen wiederherzustellen.
Religio – die Rückbindung
des Menschen an Gott – wurde so auch zur technischen Aufgabe. Sie ist es, in
Kreisen moderner Techniker und Wissenschafter, heute noch. Das künftige
Paradies ist das technisch wiedergewonnene Paradies. Wernher von Braun, einer der
Väter der Raumfahrt, sah im Aufstieg der bemannten Raketen eine evangelisierende
Mission und einen milleniaristischen Neubeginn für die Menschheit. Der
angesehene Molekulargenetiker Robert Sinsheimer sprach davon, dass wir
die „Sprache entdeckt haben, in der Gott das Leben erschuf“. Und der
Nobelpreisträger Walter Gilbert sieht im menschlichen Genom schlicht den „heiligen
Gral“ der Humangenetik. Der Cyberspace nährt Unsterblichkeitsträume von einer
körperunabhängigen, in die Netzewigkeit geladenen elektronisch-spirituellen
Existenz. „Es wird sein wie der Himmel“, psalmodierte der MIT-Professor Marvin
Minsky.
***
Wir kennen Max Webers berühmtes
Wort von der Entzauberung der Welt. Schaut man aber etwas genauer hin, entdeckt
man, dass wir erstaunlich „entzauberungsresistent“ sind. Die Astrophysik lehrt
uns zwar, dass eine Sternschnuppe ein Meteorit ist, also ein Naturereignis,
viele Menschen lesen aber nach wie vor irgendwelche Zeichen darin. „Die Heiden
schreiben, der Comet entstehe auch natürlich, aber Gott schafft keinen, der nicht
bedeute ein gewisses Unglück,“ notierte Luther im 16. Jahrhundert. Und der
französische Arzt Ambroise Paré – ein Wegbereiter der modernen Chirurgie –
diskutierte zur selben Zeit Missbildungen bei Kindern in diesem doppelten Sinn:
Sie haben ihre Ursache im ausschweifenden Leben der Eltern und sind
gleichzeitig Missfallenszeichen Gottes für Lasterhaftigkeit.
Diese Mentalität lebt heute weiter, vielleicht sollte man
sagen: heute mehr denn je. Der Himmel wird nach wie vor von Astrophysikern nach
Signalen aus den Tiefen des Universums und von Astrologen nach Zeichen vor-
oder nachteiliger Sternenkonstellationen durchforscht. Evangelikale
Fundamentalisten deuten Aids als Strafe Gottes für Homosexualität. Dem scharfen
gläubigen Auge des ägyptischen Geologen
Zaghloul El-Naggar ist nicht entgangen, dass der Tsumani 2004 eine moralische
Intervention Gottes gegen den Westen war. Warum hat dann die Flut Südostasien
und nicht die amerikanische Westküste heimgesucht? Weil die betroffenen Länder
die Unmoral der Touristen zugelassen hätten.
***
Aus der These, dass wir nie
säkular gewesen sind, kann man mindestens zweierlei Schlüsse ziehen. Zum einen eine
„Rückkehr des Religiösen“. Jürgen Habermas beschreibt bekanntlich die fehlende
Dimension des Religiösen als dramatische Mangelerscheinung modernen Lebens. Er
spricht von einer „entgleisenden“ Säkularisierung, die sich speziell in den
überspannten bio- und neurowissenschaftlichen Erklärungsansprüchen äussere. Das
ist natürlich Wasser auf die Mühlen eines vormodernen religiösen Weltverständnisses,
das sich durch die Defizit-Diagnose bestätigt und beflügelt sieht, nunmehr den
Menschen wieder auf das Gleis der Rechtgläubigkeit zurückzuführen.
Angestrebt wird dies heute
im Geist einer Horizonterweiterung, in die Papst Benedikt XVI. gläubige und wissenschaftliche
Vernunft einzuspannen sucht. In seiner Regensburger Rede forderte er die moderne
Intelligenz auf, Wissenschaft und Glauben auf neue
Weise zusammenzuführen, indem „wir die selbst verfügte Beschränkung der
Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare überwinden und der Vernunft ihre
ganze Weite wieder eröffnen.“ Das klingt vordergründig gut und
versöhnlich, aber die „Weite der Vernunft“ meint natürlich Gottes Vernunft. Man
lese z.B. Folgendes: „Es gibt (..)
eine Rationalität der Materie selbst. Man kann sie lesen. Sie hat eine
Mathematik in sich, sie ist selbst vernünftig, selbst wenn es auf dem langen
Weg der Evolution Irrationales, Chaotisches und Zerstörerisches gibt. Aber als
solche ist Materie lesbar.“
Einem modernen
Naturwissenschafter sagen solchen Sätze schlechtweg nichts. Sein Naturkonzept,
das keine Vernunft in der Natur
kennt, ist inkompatibel mit einem Naturkonzept, das eine solche Vernunft „in
der Materie“ als evident voraussetzt. Selbstverständlich kann man Spuren göttlicher
Vernünftigkeit in der Natur lesen. Einen solchen
Anspruch erhöbe die „selbstbeschränkte“ wissenschaftliche Vernunft allerdings nie.
Wie aber kann sie dann einem Glaubensanspruch noch seriös begegnen, wenn dieser
ausdrücklich die Falsifikation „überwunden“ und das Nicht-Falsifizierbare in
den Zuständigkeitsbereich einer „weiten Vernunft“ hereingenommen hat? Die
Antwort fällt leicht: man begegnet sich nicht, man redet windschief aneinander
vorbei.
Im bedenklichsten
Fall streckt die wissenschaftliche Rationalität ihre Waffen der Kritik vor
einer „Rationalität“, die sich auf die Transzendenz, d.h. auf das
Nicht-Falsifizierbare, beruft. Habermas
ist dem religiösen Weltverständnis so weit entgegengekommen, dass er im Namen
eines Respekts vor der Authentizität religiösen Glaubens von säkular gesinnten
Wissenschaftern und Philosophen eine „kognitive Urteilsenthaltung“ einfordert. Das
ist – um das Mindeste zu sagen – höchst zweischneidig. Respekt gilt – wenn
überhaupt – der gläubigen Person,
nicht aber den Glaubensinhalten. Das käme der Rücknahme einer der wichtigsten
Errungenschaften der Aufklärung gleich. Der Berliner Philosoph Héctor Wittwer spricht
zu Recht spricht vom „skandalösen“ Ansinnen eines „falsch verstandenen
Respekts“ vor dem Glauben.
***
Falsch verstandener Respekt
– ihn gibt es auch vor der Wissenschaft, oder besser: vor einem heute oftmals
dreist und unsensibel auftretenden Szientismus, der Religion als ein zu
überwindendes Stadium der Menschheitsentwicklung betrachtet, Gott als
Nervensache oder das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz unter dem Aspekt
des Selektionsvorteils bzw. -nachteils abhakt. Diesem vulgären Aufkläricht gilt
es in Erinnerung zu rufen, dass, solange Menschen existieren, die Welt uns ein
sinnhaftes Gesicht zukehrt - wissenschaftlicher Entzauberung und
„Sinnentleerung“ zum Trotz. Nenne man diesen Trotz Atavismus, Irrationalität oder
geistige Unreife, der menschliche Hunger nach Bedeutung in Gestalt von Zeichen
und Wundern, aber auch nach narrativer
Nahrung in Gestalt von Erzählungen, Mythen, Legenden wird durch die
wissenschaftliche Erklärung nicht gestillt.
Religion hat eine Quelle,
aus der sie diesen Durst stillen kann: Transzendenz. Aber als Hüterin der
Transzendenz kann sie da, wo der weltliche Erklärungsübereifer in seine
Schranken gewiesen wird, nun nicht ihrerseits das Überweltliche bemühen, um den
exklusiven Anspruch auf Sinnstiftung und auf Fundierung etwa von Menschenrechten
theologisch zu zementieren. Hier setzt denn auch die Arbeit an der anderen
Front ein: Daran zu erinnern, dass Orientierung am Jenseits vielleicht für das
Zusammenleben im Diesseits hilfreich ist, es aber nicht verbindlich begründet.
***
Ich möchte also die These,
dass wir nie säkular gewesen sind, auf eine andere Art verstehen, nämlich als
Appell, die kritische Arbeit der Aufklärung neu aufzunehmen, nunmehr an zwei
Fronten: an der wissenschaftlichen und an der religiösen. Es gibt sowohl eine
falsche Feindschaft wie auch eine falsche Versöhnlichkeit zwischen Wissenschaft
und Religion. Wenn die erste Aufklärung den Menschen mittels wissenschaftlicher
Rationalität aus seiner Bevormundung durch Religion zu befreien suchte, müsste
eine zweite Aufklärung die Fortschritte der wissenschaftlichen Rationalität aus
der Perspektive des von ihr Verdrängten analysieren. Pointiert: Wir verstehen
das Projekt Wissenschaft nur, wenn wir es in seiner säkular-religiösen
Ambivalenz wahrnehmen. Zu begreifen wäre mit anderen Worten, dass Wissenschaft
und Religion Partnerinnen der Weltdeutung sind, die sich fremd bleiben müssen,
um sich zu vertragen. Wissenschaft überwindet nicht, sie verdrängt das
Religiöse, und bestärkt gerade dadurch das Bedürfnis nach ihm. Wir benötigen durchaus
die „Weite“ der Vernunft: einer Vernunft, die Wissenschaft und Religion als Versuche
des Menschen versteht, Gast, und nicht Fremder in dieser Welt zu sein. Ich
plädiere deshalb für einen neuen Typus des säkularen Bürgers - jenes nämlich, der
einsieht, dass die (totale) Säkularisierung misslingt.
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