Dienstag, 23. Juli 2024

 


NZZ, 8.8.24

Die Aura der athletischen Leistung

Über den Homo sportivus optimus

Angesichts der «übermenschlichen» Performance des Tour-de-France-Siegers Tadej Pogacar spricht der ehemalige Radrenntrainer Antoine Vayer von «Mutanten».  Damit bringt er ein Unbehagen zum Ausdruck, das viele Sportbeobachter schon einmal heimgesucht haben dürfte:  Handelt es sich bei diesen Athleten eigentlich um eine neue Gattung - sind das Hybride zwischen Mensch und Maschine? Und die Frage  stösst uns auf eine hundertjährige Sportgeschichte, die sich eigentlich als eine Technikgeschichte entpuppt. 

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Spitzensport ist das Verlangen nach physiologischer Transzendenz: man will über seinen eigenen Körper hinauswachsen, obwohl ihm natürliche Grenzen gesetzt sind. Noch 1927 schrieb der englische Physiologe und Nobelpreisträger Archibald V. Hill: «Es gibt einen Widerstand, der der Muskelsubstanz inhärent ist und der mit steigender Geschwindigkeit ebenfalls ansteigt. Dieser Widerstand fungiert als automatische Bremse, die ein Tier daran hindert, sich zu schnell fortzubewegen und auf diese Weise derart hohe Geschwindigkeiten seiner Extremitäten zu erreichen, dass diese unter ihren eigenen Trägheitsbelastungen brechen würden».

Als man aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Arenen und auf den Strassen vermehrt beobachtete, wie Athleten diesen «inhärenten» Widerstand überwanden, begann sich die Debatte der Sportmediziner um die «physiologische Pathologie» des Spitzensports zu drehen. In seinem Buch «Edu¬cation physique et la Race» schrieb etwa der französische Pionier der Sportmedizin Philippe Tissié unumwunden, dass «sportbedingte Erschöpfung beim gesunden Menschen so etwas wie eine experimentell verursachte Krankheit hervorruft (..) Der Athlet ist ein Kranker.»

Dabei sollte es freilich nicht bleiben. Mit der wachsenden gesellschaftlichen Anerkenung des Leistungssports wurde auch die Frage laut, was denn «biologische Grenze» der Leistung bedeute. Der Spitzensportler stösst eine herkömmliche Werteordnung um: Nicht die gesunde (normale) Physiologie definiert den Rekord, sondern der Rekord definiert die gesunde Physiologie. Immer gebieterischer begann das Experimentierfeld der Ultraphysiologie das Recht zu verlangen, Normen zu setzen. Wer weiss denn, wie weit man die Leistungsgrenze treiben kann, wenn nicht der Athlet selbst? Spitzensport ist die Freiheit, mit der Gesundheit Missbrauch zu treiben. Ganz nach Brecht: «Der grosse Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein». 

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Antoine Vayers Rede von den «Mutanten» weist auf eine andere Grenzauflösung hin. Athlet und Gerät gleichen sich zunehmend an. Der Sportlerkörper ist das Bild, das sich moderne Wissenschaft und Technologie von ihm machen: eine organische Maschine. Der Athlet ist nur zu bereit, die neuesten Errungenschaften der medizinischen und biochemischen Forschung zwecks Leistungssteigerung an sich zu testen. Dadurch liefert er sich – ob er will oder nicht – dem Maschinenbild aus und verhilft ihm gleichzeitig zu gesellschaftlich-kultureller Anerkennung. Er macht sich zum Verbündeten eines hochfahrenden Fortschrittsprojekts, welches die Maschine nicht nur als ebenbürtig zum Menschen betrachtet, sondern als weit leistungsfähiger. Die Entwicklung des Geräts ist nicht an biologische Grenzen gebunden. Wenn man den menschlichen Körper der Kategorie des Technischen zuschlägt, dann gibt man ihn frei zum scheinbar grenzenlosen Umbau. Sport wird Technologiefortsatz. 

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Sport strebt nach Exzellenz, und Exzellenz basiert auf einer Mixtur aus (genetischer) Lotterie und harter Arbeit. Die harte Arbeit wird nun freilich immer mehr unterstützt durch die neuen Mittel der Menschenverbesserung. Und hier liegt der entscheidende Punkt: Bis jetzt verstanden wir unter «menschlich» das, was wir aus dem von der Natur Gegebenen machen. Gewiss, wir ergänzen und verbessern diese Gabe seit alters mit Hilfsmitteln jeder Art. Trotzdem stand bislang unsere «Natur» nicht in Frage. Genau sie aber wird durch das Bio-Enhancement herausgefordert. Die Biologie kann technisch aufgerüstet werden. Menschsein bedeutet nun für eine Avantgarde, das Menschsein hinter sich zu lassen: Transhumanismus. Und in dieser Sicht werden wir uns abgewöhnen zu fragen, was von der Natur und was von der Technik stammt. 

Heute stehen Gentests zur Verfügung, die das Potenzial eines Menschen bestimmen lassen. Das  heisst, dass die Lotterie immer mehr beeinflusst werden kann. Und es gibt Philosophen wie zum Beispiel Julian Savulescu in Oxford, die diese Manipulation des natürlichen Zufalls nachgerade zum sportethischen Gebot der Aufhebung natürlicher Ungleichheit erheben: «Dadurch, dass wir allen leistungssteigernde Mittel erlauben, ebnen wir das Spielfeld». Wer nicht dopt, ist selber schuld.

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Antoine Vayer wünscht sich dagegen einen «wahrhaftigeren» Sport. Was soll man sich darunter vorstellen? Eine Enklave der «puren» sportlichen Leistung? Wenn wir von der tendenziellen Grenzauflösung zwischen Natürlichem – «Reinem» - und Künstlichem – «Gedoptem» - ausgehen, dann mutet der Appell an die Wahrhaftigkeit heute ziemlich nostalgisch  an. Wir bemerken hier eine Parallele zur Kunst. Auch sie wird durch Technologie «gedopt». Die neuesten Systeme der Künstlichen Intelligenz machen sich anheischig, nun selber kreativ zu sein, malerische, musikalische, literarische Werke zu produzieren. Die Künstler befürchten, dass diese Einmischung des Technischen die Wahrhaftigkeit ihrer Werke – ihre Aura - gefährdet. Das muss umso mehr für den Athleten gelten. Er ist Autor und Werk in Person, sein Rekord soll auf einmalige Weise demonstrieren, was er aus sich selbst gemacht hat. Walter Benjamins Feststellung über das Kunstwerk gilt besonders für das «Sportwerk»: Wird es technisch reproduzierbar, verliert es seine Aura.  

Wir wollen im Sport Eigenleistung unter der wachsenden Zudringlichkeit der künstlichen Fremdleistung sehen, Authentizität in zunehmend unauthetischeren Lebensumgebungen. Das Skandalon liegt gar nicht so sehr im Doping, sondern im Umstand, dass man dem wissenschaftlich-industriell-wirtschaftlich-medialen Riesenkomplex Spitzensport nach wie vor den Mantel der «sauberen» athletischen Eigenleistung umhängen möchte; dass man immer wieder so tut, als bekäme man das Hamsterrad unter Kontrolle, das der dopinggeständige Radfahrer Jörg Jaksche mit beissender Lakonie einmal so beschrieben hat: «Nur wer dopt, gewinnt. Nur wer gewinnt, kommt in die Medien. Nur wer in den Medien ist, macht seine Sponsoren glücklich. Nur glückliche Sponsoren geben auch im nächsten Jahr noch frisches Geld.»

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Im Grunde sind wir heute Zeugen eines tiefen und schleichenden Charakterwandels des Sports. Wenn wir bisher - und immer noch - in der sportlichen Leistung unsere natürlichen Gaben bewundern und schätzen, so ist doch festzustellen, dass die Technisierung und in ihrem Gefolge die Ökonomisierung auch das Ziel der sportlichen Aktivität umdefiniert. Die Süssholzraspler der hehren Werte täuschen uns kaum noch darüber hinweg, dass der Sport prioritär an seinem monetarisierbaren Unterhaltungswert gemessen wird. Für Pierre de Coubertin bedeutete das «schneller, höher, stärker» noch die Kultivierung einer «harten, geistig-sittlichen Muskulatur». Heute will das Publikum sich von «mutierten» Athleten faszinieren lassen. Und es zahlt dafür auch wacker. 

Natürlich betreiben wir Sport auch um des Vergnügens willen. Aber die intensive Bewirtschaftung des Vergnügens raubt ihm genau das, was man mit Schiller als sein Ethos definieren könnte: das spielerische Moment. Der Mensch ist nur da ganz Sportler, wo er spielt. Und gerade im Spiel liegt ja der Ansatz der Erziehung zur Freiheit. Heute verhält es sich eher so, dass der Sport diese Freiheit unter dem Zwang der Marktgesetze verliert. Und deshalb ist der technisch aufgerüstete «Homo sportivus optimus» die symptomatische Gestalt einer Gesellschaft, die im Begriff ist, dem Spiel seinen befreienden Charakter auszutreiben.  




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