Montag, 16. Juni 2025



Das Rudozän - Zeitalter des Mülls

Dass sich die Erde zunehmend in eine Müllhalde verwandelt, gehört zu den Trivia, die wir mehr oder weniger schuldbewusst abschütteln. Müll ist zwar Produkt aus Menschenhand, freilich will ihn niemand besitzen, bedenken oder sehen. Man kann ihn aber auch nicht ein-fach der Natur zuschlagen, jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem der vorindustrielle Abfall über Jahrtausende hinweg abbaubar war. Der neue Müll verträgt sich nicht mit der Erde – zu synthetisch, zu schädlich, zu haltbar, zu voluminös. 2020 war zu lesen, dass die anthropogene Masse auf der Erde die Biomasse zum ersten Mal übersteigt. 

Natur und Müll fusionieren, in planetarischer wie in mikrobiologischer Dimension. Es gibt im Pazifik eine riesige Platikmüllregion – den Great Pacific Garbage Patch - , und Plastikmüll findet sich bereits in kleinsten Dimensionen vermischt mit organischer Materie. Müll ist nicht mehr einfach «Abfall» der Kultur. Müll gehört zur Kultur. Wir unterscheiden Zeit-alter nach dem menschlichen Umgang mit Materie: Von der Steinzeit und Bronzezeit über die Dampfzeit und Elektrizitätszeit zur Informationszeit. So gesehen gewinnt man den Eindruck, dass die postindustrielle Arbeitswelt sich zunehmend «entmaterialisiert». Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Seit der Dampfzeit produzieren wir eine exponenziell wachsende Menge materieller Güter – und Müll. Wir sprechen heute vom Anthropozän, passender wäre: Rudozän – (lateinisch rudus = Abfall).

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Sein offensichtlichstes Symptom ist der lukrative globale Abfallhandel. Das alles absorbierende spätkapitalistische System produziert nicht einfach Müll, sondern schafft zugleich Anreize, sich am Müll eine goldene Nase zu verdienen. Der Journalist Alexander Clapp deckt in seinem Buch «Waste Wars» (deutsch September 2025) die Machenschaften eines Geschäfts auf, das sich gern «grünwäscht», aber mit Recycling eigentlich wenig am Hut hat. Vielmehr die Probleme der westlichen Konsumgesellschaft dadurch löst, dass es sie in gesundheitsschädliche  Mülldeponien in Ghana, Kenia, Indonesien, Indien und wo auch immer transferiert. Die Ironie ist schreiend. Früher lieferten solche Länder Rohstoffe für die industrielle Produktion des Westens. Nun liefert ihnen der Westen den Müll dieser Produktion zurück. Dieser Missstand hat grosses Empörungspotenzial. Unsere Anstrengungen der Mülltrennung, auf die wir uns so viel zugute halten,  ja, unser ganzes ökologisches Gewissen sieht sich durch solche Praktiken beleidigt und besudelt.

Dabei müssten wir gerade dieses «Gewissen» einer näheren Analyse unterziehen. Von einem Symptom zu sprechen meint: das Problem liegt tiefer. Und zwar nicht einfach im dominanten Wirtschaftssysstem, sondern in einem Denken, das sein Wurzelgrund ist. Der streitbare Kulturkritiker Ivan Illich legte schon 1989 im Buch «Ex und Hopp» den Finger auf den neuralgischen Punkt. Müll sei nicht das Ergebnis des industriellen Produktionsprozesses, sondern werde mit dem Produkt schon a priori mitgedacht. Gebrauchen heisst Verbrauchen und hat deshalb ein Ende, und das ist der Wegwurf. 

Müll ist Materie, aber er entsteht im Kopf, entspringt einem Denken. «Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen», liest man im Roman «Müll» von Wolf Haas. Wir kennen die berühmte Definition der Ethnologin Mary Douglas: Müll ist Materie am falschen Ort. Die Definition macht sogleich klar, dass Müll nicht bloss eine physikalische, chemische oder biologische Eigenschaft der Materie ist, sondern eine kulturelle. Erst eine Kultur definiert das Falsche, wertet oder entwertet. Und der Rumpf einer Kultur besteht in – meist unbewussten – Verhaltensweisen. Sie zu studieren ist die Disziplin der Anthropologen oder Ethnologen. Was also dringend not tut, ist eine Ethnologie unseres eigenen Müllverhaltens. 

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Betrachten wir als banales Beispiel unser «westliches» Essverhalten. Bekanntlich kämpfen wir auch hier mit dem Müll, mit Nahrungsmaterie am falschen Ort, nämlich ausserhalb unserer Mägen. Gewiss, das Verrotten von Nahrungsmitteln ist ein biochemischer Prozess, aber ebenso definiert unsere Esskultur, was Müll ist. Und in ihr gibt es ein dominantes binäres Denkraster: Entweder ist etwas zum Essen oder es ist nicht zum Essen, ergo Müll. Ein Drittes gibt es nicht.

Allmählich entdecken wir dieses Dritte zwischen Teller und Müll. «Food Waste» nennen wir es: brauchbaren Essmüll. Was wir entdecken, ist eigentlich nicht die Nahrungsmaterie, son-dern unser Denken darüber. Schon Daniel Spörri forderte es heraus, als er Essensreste an die Wand nagelte. «Empörend» daran war ja, dass er eine Blickumkehr provozierte: Das kann nicht weg, das ist Kunst! Er zeigte einen Umgang mit dem Müll, an den wir nicht «gedacht» hatten, weil das Wegwerfsystem «des Westens» zugleich eine Denkverhinderung ist. In allen Kulturen und zu allen Zeiten ging der Mensch mit den Nahrungsmitteln erfindungsreich und nachhaltig um. Es gibt im Übrigen eine wahre Grossindustrie an Nahrungsmittelverarbeitern, die wir leicht vergessen: die Natur. Hefe, Schimmel, Bakterien wachsen auf Essensresten. Ohne sie gäbe es weder Bier, noch Brot, noch Käse. Einige der verbreitetsten und beliebtesten Speisen – Saucen, Suppen, Aufläufe, Eintöpfe – sind «Deponien» von Essensabfällen.  

Die Kategorie der Nahrungsmaterie zwischen Tisch und Müll kann uns ein kritischeres Essverhalten lehren, das heisst, selber zu urteilen, unseren Sinnen zu trauen, Phantasie zu entwickeln und täglich die Frage zu stellen: Gehört das wirklich in die Tonne? Man könnte von einer nichtbinären Esskultur sprechen. Und auf ähnliche Weise liesse sich dieser Blick zwischen die gängigen Kategorien auch auf andere kulturelle Gewohnheiten übertragen, etwa auf die Kleidung: Ist das noch tragbar oder Lumpenware? Oder auf das Wohnen: Ist das noch bewohnbar oder gehört es abgebrochen? 

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Vergessen wir nicht den geistigen Müll. Er bedroht den Planeten ebenso wie der materielle. Und der grosse Unterschied liegt darin, dass der geistige Müll sich nicht in peripheren Deponien lagern lässt, er zirkuliert ungehemmt zwischen den Knoten des Internets. Seine Entsorgung erweist sich als grosses Problem. Denn Müll in Umlauf zu bringen ist sehr viel leichter, als ihn als solchen zu entlarven. Es braucht dazu die Anstrengung des Faktenchecks, des argumentativen Eintretens auf eine Behauptung. «Flood the zone with shit» lautet das Dreckschleuderprinzip des ehemaligen Trump-Beraters Steve Bannon: Die Medien und Debattenforen mit Lügen und Falschinformationen fluten, damit ein sich am Wahr-Falsch-Raster orientierendes Denken gar nicht mehr nachkommt, sie zu prüfen – bis im Meinungsmüll die Trennung von falsch und richtig versagt. «Enshittification» nennt sich die Entwicklung neuestens. 

Die Technologie der Textgeneratoren treibt sie voran. Das Internet wird zunehmend auch von KI-generiertem Output überschwemmt. Benutzt man diesen Output wiederum zum Training der Textgeneratoren, entsteht ein Loop, aus dem die «rein» menschengenerierten Texte tendenziell verschwinden. Der Textgenerator frisst dann seinen eigenen Müll, und gibt am Ende nur noch Blahblah heraus. In der Branche kursiert bereits ein einschlägiger Ausdruck dafür: «KI-Slop», KI-Schlabber.  Man kann Daten als «vermüllt» bezeichnen, wenn man nicht mehr verlässlich entscheiden kann, ob sie vom Menschen oder vom Computer stammen. So gesehen zeichnet sich eine grosse Netzvermüllung am Horizont ab.

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Man kann die Alltagsdinge aus mehr als einer Perspektive betrachten und beurteilen. Das entpuppt sich als eine revolutionäre Trivialität. Schon Karl Marx schlug im «Kapital» vor: «Jedes nützliche Ding ist ein Ganzes vieler Eigenschaften und kann daher nach verschiedenen Seiten nützlich sein. Diese verschiedenen Seiten und daher die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken, ist geschichtliche Tat». Rudozän oder Müllzeitalter ist ein expliziter Aufruf zu dieser Tat.



Freitag, 6. Juni 2025

 


Die Aare wartet. Der Sprung muss gewagt werden




Ein neues Wissenschaftsethos für eine postpostfaktische Ära

Nun schleicht sich auch in universitären Gefilden – im Reich der Ideenfreiheit, der Suche nach Wahrheit, der Faktentreue – die Kriegsmetapher ein. Sheila Jasanoff, Professorin für Wissenschaftspolitik an der Harvard University, spricht in einem rezenten Artikel der ZEIT vom «Bürgerkrieg der Ideen» : «Auf der einen Seite kämpfen die Verfechter des Glaubens, dass die Wissenschaft uns die besten Antworten auf die meisten sozialen Probleme gibt; auf der anderen Seite kämpfen Menschen, die glauben, dass die Wissenschaft in Amerika von einer ‘Big Government’-Ideologie vereinnahmt wurde. Sie wollen Forschungseinrichtungen wie die National Institutes of Health auflösen, um die Wissenschaft von Grund auf neu aufzubauen.» 

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Die Kriegsmetapher ist überspitzt, aber sie akzentuiert durchaus ein Problem. In modernen Gesellschaften gilt die wissenschaftliche Expertise als Erkenntnisautorität. Coronaepidemie und Klimawandel haben indes den Ruf der Experten nicht gefördert. Er wird vielmehr herausgefordert durch Leute, die glauben, mit einer zusammengestümperten Do-it-yourself-Theorie in Konkurrenz zum gesammelten Wissen einer Disziplin treten zu können; die zum Beispiel Bleichmittel gegen das Coronavirus einnehmen oder ihren Prostatakrebs mit einem Entwurmungsmittel für Pferde behandeln. Jeder ist frei, die Welt auf seine Weise zu deuten – und durch diese Deutung sich selbst zu beschädigen.

Solange die wissenschaftliche Autorität als unbestritten galt, liess sich eine solche «Querkopf»-Mentalität leicht marginalisieren. Aber das Klima hat sich gewandelt. Heute ist ein «Querkopf» Gesundheitsminister der USA. Bereits in der kurzen Amtszeit von Robert Kennedy Jr. deutet sich an, was Sheila Jasanoff mit der Auflösung von Forschungseinrichtungen und dem Neuaufbau der Wissenschaft meint. Kennedy hatte sich vor allem als Kritiker der Pharma- und Lebensmittelindustrie profiliert, allerdings auch mit wilden Hypothesen über den Zusammenhang von Massenschiesserei und Antidepressiva, Impfen und Autismus, Chemikalien im Wasser und sexueller Orientierung. Er scheint sich jetzt in der Rolle als «pain in the ass» des wissenschaftlichen Establishments zu gefallen. Er steht im Ruf des Schlangenölverkäufers  und Förderers von «Junk Science».   Kürzlich empfahl er bei einem Masernausbruch in Texas ein Präparat aus Kabeljauleber als Alternative zum Impfen.  Kennedy fördert nicht nur Pseudowissenschaftler, er attackiert zugleich ausgewiesene Forscher.  Man muss sich vor Augen halten: Das amerikanische Gesundheitsministerium – das Department of Health and Human Services - verfügt über ein gewaltiges Budget - um die 1.8 Billionen Dollar - , und sein Vorsteher hat eine entsprechende Machtfülle, die medizini-sche Forschung in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken, indem er Gelder für bestimmte Projekte kürzt und missliebige Wissenschaftler entlässt. Kennedys Parole «Make America Healthy Again» (MAHA) ist schon als «neuer Lyssenkoismus» bezeichnet worden , in Anspielung auf die dirigistische Forschungspolitik unter Stalin.

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Personalisieren wir das Problem nicht über Gebühr. Denn Kennedy ist eigentlich nur Symptom einer schon länger anhaltenden Krise des wissenschaftlichen Expertentums, allgemeiner: einer Krise der Erkenntnis. Man kann 1975 als das Schlüsseljahr betrachten, in dem diese Krise einsetzte. Damals erschien das Buch «Against Method» des Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend. Er leugnete darin den Anspruch der modernen Wissenschaft – primär der exakt-naturwissenschaftlichen Disziplinen – ,  die alleinige Erkenntnisinstanz zu sein. Vielmehr gelte: Anything goes.  Auch Alchemie, Astrologie oder paracelsische Medizin seien durchaus ernstzunehmende Ansätze in der Erklärung von Phänomenen, und ihre Disqualifizierung müsse einer arroganten wissenschaftlichen Siegergeschichtsschreibung angelastet werden. Im Geiste dieser «Anarchie» begannen in den 1990er Jahren die sogenannten Science studies die Deutungs- und Geltungsmacht der Wissenschaft schärfer zu analysieren. Insbesondere dekonstruierte man wissenschaftliche Fakten als «gemacht». Und damit war natürlich der logische Schritt zu den «alternativen» Fakten-Fabrikanten vorbereitet. 

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Nach gängiger Auffassung ist Wissenschaft  ein wertfreies, nur der Wahrheit verpflichtetes Erkenntnisunternehmen. Es ist ergebnisoffen, lernt aus Fehlern, heisst neue Ideen und neue evidence willkommen. Das ist ein schönes Ethos. Grundlagendisziplinen wie Physik, Mathematik, Chemie und Biologie verfahren angenähert nach ihm. Sie geniessen in der modernen Gesellschaft gewissermassen das Gnadentum reiner Erkenntnissuche – worunter zumal die öffentliche Finanzierung gehört. 

Aber dieses Ethos steht etwas verloren in der aktuellen Forschungswelt. Die Wissenschaft bekommt es zunehmend mit «verunreinigten» Phänomenen zu tun, die sich nicht in einzel-ne Fachdisziplinen aufdröseln lassen. Das hat die Coronapandemie exemplarisch vor Augen geführt. Auf den ersten Blick war das Interesse ein spezifisches: Krankheit eindämmen, den Tücken des Virus auf die Schliche kommen. Also fachliche Erkenntnis. Sie erfordert die Kompetenz von Virologen, Infektiologen, Epidemiologen, Pharmakologen. Im weiteren aber auch von Zoologen und Ökologen. Sie studieren die Ansteckungswege, die dem Virus über Wirttiere offen stehen, etwa Fledermäuse, Zibetkatzen oder Schuppentiere. Schliesslich tauchen soziale Kollateralprobleme auf, etwa die Frage, wie die wissenschaftlich empfohlenen Massnahmen das soziale Leben beeinträchtigt, die wirtschaftliche Grundlage von Menschen zu ruinieren droht, wie der Schulunterricht durchzuführen ist, wie man in Spitälern eine Triage vornehmen muss. Alle diese Fragen sind ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als die fachlichen – zumindest für den Laien. Denn er ist am Ende die «Labormaus», an der sich all die fachlichen Anstrengungen zu bewähren haben. Und er soll dabei einfach schweigen?

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Kurz, das Virus hat uns demonstriert, dass die im weitesten Sinn «virulenten» Probleme moderner Gesellschaften sich in der Regel nicht aus einer einzigen Perspektive definieren, geschweige denn lösen lassen. Der Virologe Christian Drosten drückte das kürzlich in einem Satz  aus: «Wenn die Gesellschaft ein Problem hat und man so oder eben auch so mit der Sache umgehen kann – oder sogar muss - , dann wird es politisch». 

Der Satz umreisst bündig die aktuelle Lage der Wissenschaft. Sie muss sich als ein Gesichtspunkt unter anderen profilieren. Sie kann ihre Glaubwürdigkeit nicht mehr einfach als letztgültige, «der» Wahrheit verpflichtete Instanz begründen, die dem politischen Alltag überhoben ist. Wie Drosten bemerkt, seien es «die Wissenschaftler noch nicht gewohnt, Faktizität verteidigen zu müssen. Unsere Ausbildung lag noch vor der postfaktischen Ära». Deshalb müssten die Wissenschaftler «dringend darüber reden, welche Verpflichtungen die Gesellschaft (ihnen) mit der Wissenschaftsfreiheit auferlegt». Objektivität ist sicher nach wie vor die Pflicht. Aber dazu tritt eine zweite, nämlich die Pflicht, offensiv den Tendenzen entgegenzuwirken, welche die Institutionen der Erkenntnissuche zu destabilisieren trachten. Das ist kein «Krieg», sondern die Aufgabe, ein neues wissenschaftliches Ethos zu formulie-ren, das die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft festigt -  für eine postpostfaktische Ära, die hoffentlich immer noch im Zeichen der Demokratie steht. 


Montag, 2. Juni 2025


Die Aufklärung misslingt

Der Mensch entwickelt sich vom Primitiven zum Neoprimitiven


Es gehört zur ethnologischen Folklore, Magie und Zauberglauben mit „primitiver“ Entwicklungsstufe des Menschen zu assoziieren. Nun beobachten die Ethnologen im globalen Süden immer wieder Praktiken, die moderne Technologie mit alten magischen Vorstellungen verschmelzen: Internet-basiertes Voodoo in Haiti; hellseherische Chirurgen in Brasilien; Aerosole, die den schützenden Geist der Santa Muerte in Mexiko versprühen; schwerbewaffnete Geistermedien in Uganda; nicht zu vergessen ein berüchtigtes Paar dämonisch besessener Unterhosen in Ghana. Solche Phänomene bekräftigen natürlich das Klischee von der „zurückgebliebenen“ Dritten Welt, deren Bevölkerung einfach nicht den Anschluss an die Moderne findet.  

Tun wir es, die vermeintlich Modernen oder Postmodernen? Schauen wir auf eine technologisch höchst avancierte Gesellschaft wie Japan. In Kotohira steht ein berühmtes altes shintoistisches Heiligtum, der Schrein Kotohira-gū. Dort findet man auch eine Tafel zu Ehren des ersten japanischen Kosmonauten, Akiyama Toyohiro. Genauer besehen, wird nicht nur Toyohiro Ehre bezeugt, sondern es wird auch Konpira, dem Gott der Seefahrer, für den sicheren Flug gedankt. Eine seltsame Verschränkung von alter Religiosität und moderner Technologie. Mit solchen religiös-technischen Hybriden ist die kulturelle Landschaft Japans gespickt. Es gibt Begräbnisrituale für Hunderoboter, iPhone-Apps für Exorzismus und Wahrsagerei, Speichersticks als magische Amulette, buddhistische Stupas (turm- oder glockenförmige Gebilde mit einer herausragenden Spitze), die Thomas Alva Edison und Heinrich Hertz als den „göttlichen Patriarchen der Elektrizität und der elektromagnetischen Wellen“ gewidmet sind. 

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Hüten wir uns hier vor einem anderen Klischee, jenem des „mystischen“ Asiens. In den USA herrscht geradezu eine „Okkultur“, um den gelungenen Neologismus des Religionswissenschaftlers Christopher Partridge zu verwenden. Im New-Age-Spiritualismus und der Popkultur wimmelt es seit den 1960ern nur so von Geistern, Dämonen, Ma-giern, Superhelden, und ohnehin spukt in den Köpfen der Amerikaner der Glaube an Telepathie, ESP, Ufos, Aliens, Hexen, Hellsehen, Reinkarantion, Astrologie. Aufs Ganze gesehen implizieren Umfragestatistiken, dass nur etwa ein Viertel der US-Bevölkerung nicht an das Paranormale glaubt. Mehr als ein Viertel soll dagegen dem Hexenglauben anhängen, obwohl – oder eher: weil - populäre Fernsehserien wie „Bewitched“ das Hexenbild sozusagen haushaltskompatibel gemacht haben. Nach wie vor führen allerdings christliche Fundamentalisten einen Feldzug gegen Hexen, und der evangelikale Sturmtruppführer Pat Robertson entblödet sich nicht, vor Frauen mit eher emanzipatorischen Anliegen zu warnen: sie würden Hexerei praktizieren.

Brüsten wir Europäer uns nur nicht vorschnell damit, im Kerngebiet der Aufklärung zu leben. Zwar kursiert das Gerücht, Gott sei im Engadin getötet worden, und nicht wenige Europäer suchen sich gegenüber Amerikanern gerade durch ihre Säkularität hervorzutun. Mehr als die Hälfte der Engländer soll nach einer jüngsten Umfrage nicht an Gott glauben. Zudem sorgt die agressive Bewegung der neuen Atheisten für ein Dawkinsches Windchen. Aber der Tod Gottes bedeutet nicht notwendig den Tod des Zauberglaubens. Statistische Vergleiche zeigen ein ähnliches Bild wie in den USA: Der Glaube an das Übernatürliche ist weitverbreitet. Auch auf dem Kontinent wimmelt es nach wie vor von verhexten Orten, Schutzengeln, Stimmen aus dem Jenseits, Geistheilern. Im entgotteten Vakuum tanzen fröhlich die Gespenster. 

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Nichts ist hartnäckiger als der Mythos der Aufklärung, der uns einredet, Wissenschaft und Technik hätten uns aus dem Entwicklungsstadium des „Primitiven“ gehoben. Max Weber gebrauchte 1913 zum ersten Mal den Begriff, der die Folgezeit charakterisieren sollte: Entzauberung der Welt. Das geschah in einer Zeit des blühenden Okkultismus, demgegenüber sich Weber übrigens aufgeschlossen zeigte. Ein Jahrhundert später zeigt schon ein kursorischer Blick: Die Welt des Kapitalismus ist verzaubert wie nie zuvor – durch Technik. Wir schaffen andauernd technische Wunderwerke. Verwunderlich dabei ist allerdings, wie wenig wir uns wundern. Wir lassen uns von den neuesten Apps und Gadgets durchaus verzaubern, aber diese Verzauberung verläuft in kommerzialisierbaren Bahnen. Der Zauber selbst ist nun zum Industrieprodukt geworden. Er führt meist kaum weiter als zum reibungslosen Gebrauch und zu einer fiebrigen Erwartung neuer Versionen und Updates; nur nicht zur Frage, wie das Ding funktioniert. Magie und technischer Analphabetismus bedingen einander wechselseitig. Von einem Klassiker der Science-Fiction, Arthur C. Clarke, stammt der vielzitierte Satz: „Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie ununterscheidbar.“

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Man könnte auch sagen: Technologie ist Magie mit modernen Mitteln. Wir leben in ei-ner Epoche der rationalisierten Magie. Das Wort ist altpersischer Herkunft: „maga“ bedeutet bestimmte aussergewöhnliche Fähigkeiten oder Kräfte von Menschen, Tieren oder Dingen. Diese Kräfte können beansprucht oder verliehen werden. Am besten denkt man bei Magie an Charisma. Charismatische Personen haben die „Magie“, andere zu „verzaubern“, das heisst auch, sich anderer zu bemächtigen. Heute läuft das Design der Artefakte primär in diesem Sinne darauf hinaus, sie charismatischer zu machen. Das iPad wurde als „magisch“ lanciert. Laut dem Chefdesigner von Apple, Jonathan Ive, sei die Aufgabe der Firma, harte, schwierige Probleme zu lösen, ohne die Komplexität der Probleme erscheinen zu lassen. Produkte-Design ist „Magifizierung“. Man betrachte das Smartphone: ein glatter, handlicher, undurchsichtiger Kleinmonolith. Mit einer leichten Berührung lässt sich alles herbeizaubern.  Magie heisst nach der Definition des Ethnologen Marcel Mauss: Kurzschluss zwischen Wunsch und Erfüllung. Das Wischen über das Display des Smartphones ist ein magischer Akt.

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Zurzeit wird bekanntlich viel über den „neuen“ posthumanen Menschen schwadroniert, der sich dank Technik auf ein nie dagewesenes Entwicklungsniveau hangelt. Nüchtern betrachtet, nähern wir uns aber eher animistischen früheren Kulturen, die wir doch überwunden zu haben glaubten. Wir sind magiegläubiger denn je. Statt unserem eige-nen Verstand vertrauen wir mehr dem „Verstand“ der Maschinen-Software, und in dieser Hinsicht gleichen wir dem „Primitiven“, der seine Baum- und Wassergeister be-schwört. Wahrscheinlich ist dieser „Primitive“ uns darin sogar voraus, dass er seine Lebensbedingungen ziemlich gut kennt und im Griff hat. Max Weber fragte seine Zuhörerschaft, ob sie eine grössere Kenntnis ihrer Lebensbedingungen habe, „als ein Indianer oder ein Hottentotte (..) Wie der Wilde es macht, um zu seiner täglichen Nahrung zu kommen, und welche Institutionen ihm dabei dienen, das weiss er.“ Wogegen die zunehmende Technisierung unserer Lebenswelten „nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen (bedeutet), (..) sondern (..) etwas anderes: (..) den Glauben daran: dass man alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.“ Der Glaube an das „im Prinzip“, wohlgemerkt. 

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Edward Burnett Tylor, ein Pionier der Religionsanthropologie, schrieb 1871 in seinem Buch „Primitive Cultures“: „Die Welt wimmelt erneut von intelligenten und mächtigen (..) spirituellen Wesen, deren direkte Wirkung auf Geist und Materie wir ebenso vertrauensvoll annehmen wie in jenen Zeiten und Ländern, in denen es der Physik (..)  noch nicht gelungen war, die Geister und deren Wirkungen aus der Natur auszustossen.“ Man ersetze „intelligente und mächtige spirituelle Wesen“ durch „intelligente und mächtige virtuelle Wesen“, und man hat einen prägnanten heutigen Lagebeschrieb. Wir werden die Geister auch weiterhin nicht los. Die Entzauberung, also die Aufklärung, misslingt uns. Wir sind Neoprimitive auf technisch avanciertestem Niveau.


Das Rudozän - Zeitalter des Mülls Dass sich die Erde zunehmend in eine Müllhalde verwandelt, gehört zu den Trivia, die wir mehr oder weniger...