Dienstag, 15. Oktober 2024

 


Der mathematische Beweis im Zeitalter der Algorithmen 

Was, wenn Mathematiker den Computer nicht mehr verstehen?

Was ist ein Beweis? Das ist das tiefste erkenntnistheoretische Problem der Mathematik. Der Beweis garantiert die Geltung mathematischer Sätze. Und in ihnen sieht man die höchste Art der Wahrheit. Unumstösslich, ewig, weil sie Sachverhalte beschreiben, die «nicht von dieser Welt» sind: platonisch. Der Satz von Pythagoras ist ein solcher Sachverhalt. Er existiert in einem Reich, über dessen Seinsweise die philosophierenden Mathematiker allerdings nie eins wurden. 

***

Aus diesem Grund wuchs um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Bedürfnis, das Fundament der Mathematik philosophisch zu «reinigen», indem man ihr eine logisch makellose Architektur zugrundelegt. Das ist die grandiose Idee einer Beweismaschine, die kraft einer Formalsprache sowie klarer Schlussregeln aus einer endlichen Anzahl von Axiomen alle mathemati-schen Sätze deduziert. Nach dem Konsens der Mathematiker geht die Mengenlehre - das Fundament der Mathematik - von 10 Standardannahmen aus, den sogenannten Zermelo-Fraenkel-Axiomen. Tatsächlich gibt es zahlreiche Sätze, deren Wahrheit man vermutet, deren Beweis aber aussteht. Eine Beweismaschine wäre ein Geschenk des platonischen Himmels. Man müsste ihr einfach ein Theorem vorlegen, und innert endlicher Frist würde sie das Theorem aus den Axiomen deduzieren. 

Ein Wunschtraum, den der Logiker Kurt Gödel in den 1930er Jahren zerstörte. Er zeigte, dass nur schon eine Maschine, in der sich die Arithmetik formalisieren lässt, nicht alle arithmetischen Sätze aus den zugrundegelegten Axiomen beweisen kann. Das System lässt sich erweitern, aber es bleibt in diesem Dilemma gefangen. Der britische Mathematiker Alan Turing doppelte in den 1950er Jahren nach, als er zeigte, dass es Sätze gibt, bei denen die Beweismaschine keine Antwort liefert, das heisst in unendlichen Leerlauf gerät. Wenn also schon die Arithmetik in diesem Sinn unvollständig ist, wie steht es um die ganze Mathematik? Was hat es für einen Sinn, von der Wahrheit eines Theorems zu sprechen, wenn es nicht beweisbar ist? 

***

Die Frage zielt direkt auf die Fundamente der Mathematik. Und sie hat den kanadischen Mathematiker Andrew Granville veranlasst, einen neuen, pragmatischeren Gesichtspunkt in die Debatte einzubringen. Kurz gesagt lautet seine These: Letztlich beruht der Beweis auf einer Übereinkunft unter den Mathematikern. Mathematik ist ein Sprachspiel mit Regeln und Normen, und die Objektivität – die «Wahrheit» - ihrer Sätze ist durch ein solches Sprachspiel be-gründet. Wie Granville schreibt, besteht das beste System in der Mathematik darin, «dass viele Forscher einen Beweis aus verschiedenen Perspektiven prüfen, und dass dieser Beweis gut in einen Kontext passt, den sie kennen und dem sie vertrauen. In einem gewissen Sinn sagen wir nicht, wir wüssten, der Satz sei wahr. Wir sagen, wir hofften, er sei korrekt, weil eine Vielzahl von Leuten ihn aus verschiedenen Blickwinkeln gestestet haben». So gibt es zum Beispiel über 400 Beweise des Satzes von Pythagoras.  Deshalb wäre es wahrscheinlich unverfänglicher, statt von der Wahrheit von Theoremen von ihrer Robustheit zu sprechen. 

***

Eine solche Sichtweise gewinnt nun an unerwarteter Aktualität, wenn wir die neuesten KI-Systeme in die Diskussion einbeziehen. Sie lernen ja immer mehr intellektuelle Fähigkeiten des Menschen, sie lernen auch Mathematik. Im gegenwärtigen Vertrauen in die Gelehrigkeit von Computern stellt sich die Frage, wie es denn um einen künstlichen Mathematiker stünde, um ein KI-System also, das Mathematik von den elementaren arithmetischen Grundlagen auf lernen und die rechnerischen, logischen und metamathematischen Kompetenzen schrittweise selbst erwerben und entwickeln würde, bis es schliesslich die Stufe eines künstlichen Supermathematikers erreicht hätte. Es wäre nicht nur in der Lage, die uns bekannten mathematischen Theoreme zu beweisen, es würde auch bisher ungelöste Probleme bewältigen, auf eine Art und Weise freilich, die den Mathematikern Kopfzerbrechen bereitet. Seine Spielzüge wären  für den Menschen eine Black Box. Was aber ist ein mathematischer Beweis, wenn die Mathematiker ihn nicht verstehen?

***

Die Frage ist brisant, denn sie ist vom fiktiven Szenario ins reale übergetreten. Kürzlich entwickelte Deep Mind von Google zwei KI-Systeme – Alpha Proof und Alpha Geometry 2 -, die komplexe Probleme lösen.  Und schon seit längerem lassen sich Mathematiker von Beweisassistenten helfen. Zum Beispiel von Lean, einem System, das 2013 entwickelt worden ist. Grosse Teile des mathematischen Wissens finden sich darin in eine Computersprache übersetzt. Schlägt man einen Beweis vor und formuliert ihn in Lean, vollzieht ihn das System Schritt für Schritt nach und versieht ihn mit dem Siegel «korrekt» oder «nicht korrekt». 

Aber wie robust ist der Beweis eines Theorems, der von einem KI-System geliefert wird? Bekanntlich können KI-Systeme «halluzinieren». Sie generieren Output, der nur scheinbar mit dem Input zusammenhängt: Fake-Beweise. Ein Bot lieferte zum Beispiel den «Beweis», dass zwischen zwei ganzen Zahlen unendlich viele ganze Zahlen existieren. 

Oder der Fall könnte eintreffen, dass ein Programmierer vergisst, den Trainingsalgorithmus eines neuronalen Netzwerks anzuhalten. So soll es vorgekommen sein, dass ein solcher «vergessener» Algorithmus selbständig eine neue Form der Addition herausgefunden hat (sogenannte modulare Addition), die man ihn nicht lehrte. Im Maschinenlernen nennt man diese neuen Einsichten des Computers «Grokking». Was also, wenn der Computer Beweise «grokkt», die unseren Begriffshorizont übersteigen? 

Hier nimmt eine neue Interaktionsform zwischen Mensch und Maschine Gestalt an, in der der Computer seinen «autonomen» Beitrag zum Wissenskorpus leistet. Die Mathematiker müssten ihm das Vertrauen in die Beweiskompetenz schenken, und das heisst, sie müssten ihn in ihre Community aufnehmen. Anzunehmen ist dabei, dass das Zusammenspiel von menschlichen und künstlichen Mathematikern durchaus den Beweis eines schwierigen Theorems erlaubt. Erneut stellt sich also die Frage der Übereinkunft als Basis des Beweises. Übereinkunft zwischen Mensch und Computer? Und wenn die Computer mit der Zeit die ganze Arbeit übernehmen würden? 

***

Das ist äusserst unwahrscheinlich. Denn gerade die Kooperation mit dem Computer kann möglicherweise den Unterschied zwischen Mensch und Maschine deutlicher hervortreten lassen. Mathematik ist eine geistige Terra incognita. Es zeugt von einem völlig falschen Verständnis für sie, wenn man den Beweis als Abschnurren formallogischer «maschineller» Schritte betrachtet. Er ist im Gegenteil ein hoch kreativer Prozess, der sehr viel an intuitiver Einsicht, Einfallsreichtum, Umgang mit Paradoxien, «unscharfem» Denken voraussetzt. KI-Modelle werden ja auf dem Korpus der niedergeschriebenen mathematischen Arbeiten trainiert. Aber wie die KI-Forscherin Katie Collins von der University of Cambridge bemerkt, sind «online wenig Daten über formalisierte Mathematik zu finden, verglichen mit Daten in natürlicher Sprache». Das ist kaum verwunderlich, denn kreative Mathematiker wissen in der Regel mehr, als sich in Programmsprachen codieren lässt. Und aus diesem Grund ist es fraglich, ob man diesen impliziten Rumpf der Mathematik jemals völlig explizite darstellen kann.  

Das heisst, die Mathematik wird sich im Zeitalter der KI als das zu erkennen geben, was sie schon immer war: als eine Kunst des Vermutens, die in glücklichen Fällen zu robusten Resultaten führt. 



Mittwoch, 9. Oktober 2024

 


NZZ,7.10.24

Diagnose: Naturanalphabetismus

Sprachverödung heisst Naturverödung


Das Lamento über das Verschwinden der Arten ist allbekannt. Mit dem Schwund in der Natur korrespondiert allerdings ein anderer, ebenso bedenklicher Schwund, nämlich in der Sprache. Dabei wuchert unser Wortschatz traditionell wohl nirgendwo üppiger und dichter als im Reich von Flora und Fauna. 

Zum Beispiel diese zarte und lustvoll exakte Annäherung an das Gewächs in alten Botanik-schwarten. Linnés „Pflanzensystem“ (deutsch 1787) beschreibt eine Flechtenart (Hunds-flechte) so: „Die Blätter sind zart, breit, flach, eben, einfach oder in ziemlich runde Lappen geteilt. Die Oberfläche derselben ist an der frischen (..) Pflanze braungrünlich oder bleich-bleifärbig, mit einem aschgrauen mehlartigen Staube bedeckt (..) An der aufgerichteten Spitze des Blattes sitzt ein Fingernagel-förmiges, eirundes, oberwärts konvexes, unterwärts konkaves bräunliches oder dunkelrötliches Schildchen, welches an seiner Unterfläche ebenfalls inkarnatrot ist.“ 

Oder dann Vogelbücher wie etwa Petersons „Die Vögel Europas“, wo über den Habichtsadler zu lesen ist: „Länglicher Schwanz mit einem halben Dutzend matter Binden und einer breiten dunklen Endbinde. Von unten gesehen hebt sich die schmal gestreifte, seidenweisse oder rahmfarbene Unterseite von den langen dunklen Flügeln ab. Junge mit rostfarbenem Kopf, dicht röstlichbraun gestreifter Unterseite und eng gebändertem Schwanz.“ Und erst noch die Lautmalerei. Seine Stimme: ein schnatterndes „kai, kai, kikiki.“ 

***

Immer, wenn ich solches lese, beschleicht mich eine unbestimmte leise Trauer: Habe ich das je beobachtet, je gehört? Der britische Reiseschriftsteller Robert Macfarlane betreibt eine Art von Archäologie der Landschaftssprache und er macht in seinem neuen Buch „Landmarks“ (2015) auf ein generelles Symptom in unserem Verhältnis zur Natur aufmerksam: Wir verlernen diese Sprache. Auf den Hebriden fand er zum Beispiel ein „Torf-Glossar“, eine Sammlung von über hundert gälischen Ausdrücken für das Moorland. Er stiess auf Wörter für feinen Eisfilm auf Blättern und Zweigen, für den leisen Windhauch auf der Oberfläche eines stillen Gewässers, für den Tunnel am Grund einer Hecke, den kleine Tiere für ihren regelmässigen Durchgang schaffen. „Landspeak“ nennt Macfarlane diese Sprache. Nun wird aber unsere Ökologie zunehmend überformt von technischen Systemen, und das schlägt sich notgedrungen im Sprachgebrauch nieder. Mit Videos auf Youtube brauchen wir kein Vokabular der Landschaftsbeschreibung mehr. Wie der amerikanische Umwelthistoriker William Cronon bemerkt hat, besteht das beste Verständnis der Natur um uns im Verständnis der Natur in uns; und dazu gehört Sprache: „Die Natur in unseren Köpfen ist ebenso wichtig wie die Natur, die uns umgibt, denn die eine gestaltet und filtert ständig die Art und Weise, wie wir die andere wahrnehmen.“ 

***

Macfarlane weist auf ein anderes Phänomen hin, das mit dem Sprachverlust für die Natur einhergeht: auf die Kompensation oder vielmehr den Ersatz durch ein neues universelles Technospeak. Der Oxford Junior Dictionary, ein Nachschlagewerk für Kinder, hat eine Vielzahl von Wörtern für die Natur getilgt. Sie seien für ein Leben in den heutigen Umwelten nicht mehr relevant: zum Beispiel Eichel, Kreuzotter, Esche, Buche, Weidenkätzchen, Löwenzahn, Heide, Efeu, Mistel Wiese. An ihrer statt nimmt der Diktionär jetzt Begriffe auf wie Attachment, Block-Graph, Blog, Breitband, Chatroom, Cut-and-Paste, MP3-Player, Voice-Mail. 

Eine fundamentale Verschiebung. Wie Macfarlane schreibt, manifestiert sich darin nicht nur ein Schwinden unseres Gespürs für die Natur, sondern auch der Verlust einer „Art von Wortmagie: einer Kraft, die bestimmte Begriffe besitzen, um unser Verhältnis zur Natur und ihren Orten zu verzaubern.“ Wir vermüllen die Natur nicht zuletzt dadurch, dass wir das Vokabular der Imagination zum Abfall werfen. Wir bemerken nicht, dass Sprachverödung nur die eine Seite der Naturverödung ist. 

***

Ein Einspruch wie jener Macfarlanes wird heute schnell als pastorales Genre, als „romantisch“ oder „nostalgisch“ abgetan. Aber das verunglimpft die Romantik, die alles andere als rückwärtsgewandt war. Adalbert von Chamisso zum Beispiel schrieb nicht nur „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, er war Botaniker; er entdeckte unter anderen den Goldmohn -  die kalifornische Wappenblume – und nach ihm ist etwa auch eine Heidelbeerart - Vaccinium chamissonis – benannt. Er verfasste ein Lehrbuch mit dem ziemlich un-romantischen Titel: Übersicht über die nutzbarsten und schädlichsten Gewächse, die wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen (1827). 

Chamisso wäre heute wohl am ehesten den Ökologen zuzurechnen - allerdings wäre er ein besonderer Ökologe. Immer hatte er auch die Verschränkung von Natur und Kultur – also Sprache - im Blick. Die Pflanze war für ihn nie nur Forschungsobjekt, sondern ein Natur-subjekt, das „mächtig auf die Geistesrichtung einzelner Individuen, wie die Kulturgeschichte ganzer Völker eingewirkt hat (..) Die Vegetation ist es, die an den Boden gefesselt, den festen Teil der Erdoberfläche mit einem grünen Teppich bekleidend, so mächtig Geist und Gemüt anregt. Sie ist es, die vorzugsweise der Erdoberfläche das Ansehen einer belebten gibt und den Eindruck der allverbreiteten Lebensfülle hervorruft.“ Das gleiche liesse sich auch von der Sprache sagen. Eine Landschaft ist eine  geologische und linguistische Sedimentation.

***

Hoffnung besteht allerdings. Die Tilgung der Naturwörter aus dem Oxford Junior Dictiona-ry hat den Protest von – zum Teil bekannten - Autorinnen und Autoren hervorgerufen. Der Schriftsteller und Photograph Tim Robinson stellte das Bedürfnis nach einer Sprache fest, die einer „säkularen Zelebrierung von Orten“ angemessen sei. Ein anderer Photograph, Dominick Tyler, veröffentlichte einen prachtvollen Band über englische Landschaften („Uncommon Grounds“), in dem paarweise 100 Wörter für Naturszenen mit entsprechen-den Bildern zusammengestellt sind. Vom Botaniker Richard Mabey stammt das Buch „The Cabaret of Plants“, in dem er für eine „neue Sprache“ plädiert, welche die Pflanze in ihrer spezifischen Individualität würdigt.

***

Dann gibt es natürlich immer noch die Naturlyrik, etwa Marion Poschmanns „Geliehene Landschaften“ (2016). Sie nennt ihre Lyrik „Lehrgedichte und Elegien“. Ihr Blick auf die Natur ist von der Stadt geprägt. Er weiss vom Vordringen des Technischen und Urbanen, zum Beispiel in die ehemals besungene Pracht der Alpen. Die Sprache ist kalt und technisch. Mönch und Jungfrau im Berner Oberland werden da direkt angesprochen:

„Du schläfst in stabiler Seitenlage am Rande

der Alpen, am Rand der Verbreitungskarten 

rotkarierter Lawinengefahr. Thermikzieher

schrauben sich durch die Habitusbilder der Skigebiete,

und Abluft in haushaltsüblichen Mengen verfängt sich 

in Hecken, steigt auf zu den glitzernden Wolken der Welt.“

Die Eroberung der Alpenwelt ist hier längst Banalität. Es mischen sich das Erhabene der „glitzernden Wolken der Welt“ und die „haushaltsüblichen Mengen“ an Abluft. Das Gedicht handelt vom Anthropozän, von der Dominanz des Menschen über die Natur. Aber trotz ihres „elegischen“ Charakters hört man aus dieser Lyrik einen trotzigen Appell heraus: Schaut doch mal hin, in was für einer Umwelt ihr lebt! Und ich liefere euch das Vokabular für die Sichtbarmachung dieser Umwelt! 

***

Hoffnung kommt auch von einer anderen Seite. Macfarlane erzählt von einem fünfjährigen Mädchen, das für die weichen Grassamen in seinen Händen eine eigene Bezeichnung aus-heckte: „Honigpelz“ („honeyfur“). Oder, als er seinem kleinen Sohn sagte, dass es keinen Ausdruck für den schimmernden Buckel gibt, der entsteht, wenn Wasser über einen Stein strömt, antwortete der Kleine spontan: Strömungspopo („currentbum“). Wunderschön. Kinder haben diese magische Fähigkeit, die Erde mit Sprache stets wieder neu zu verzaubern. Treiben wir ihnen diese Fähigkeit nicht aus. Die Rettung der Natur liegt nicht zuletzt in der Auswilderung unserer Sprache für die Natur. 


Mittwoch, 2. Oktober 2024



Schwierigkeiten mit der Identität

Das Unbehagen vor dem Uneindeutigen


Jeder Mensch ist jemand: eine Person. So weit, so banal. Fragt man aber, warum ich der bin, der ich bin, gerät man schnell in die Bredouille. Schon der geläufige Sprachgebrauch hilft wenig. Wir verbinden unser Personsein leicht mit der Vorstellung eines Besitzes. Ich bin der, der ich bin, weil ich eben eine Identität «habe», die mich zu dem macht, was ich bin. Aber was versteckt sich hinter dieser «Habe»?

***

Man kann zur Beantwortung der Frage auf zwei etwas abgehobene Begriffe im philosophischen Vokabular zurückgreifen: Essenzialismus und Voluntarismus. Essenzialismus bedeutet: Meine Identität ist definiert durch etwas, das nicht meiner Bestimmung unterliegt: durch den Willen Gottes, durch mein Genom, meine gesellschaftliche Rolle - mein «Wesen». Der Wesensbegriff ist perfid. Er nagelt eine Person an ganz bestimmten, scheinbar unveränderlichen Merkmalen fest. Er beschreibt nicht Eigenschaften einer Person, er schreibt sie ihr diktatorisch zu. So bist du und so hast du zu sein! Amartya Sen hat dafür den treffenden Begriff der Identitätsfalle geprägt. Einmal Schwarzer, immer Schwarzer. Einmal Frau, immer Frau. Einmal Jude, immer Jude! Und das bedeutet nicht selten, dass man mit der «Verwesentlichung» eine Person gedank-lich vergewaltigt – in letzter Konsequenz auch physisch. 

Voluntarismus bedeutet: Meine Identität ist Sache meines Willens, meiner Wahl. Wer ich bin, bestimme letztlich ich. Ich bin nicht der, als den ihr mich festzunageln versucht! Ich bin nicht Stiller! Man erkennt sofort das Aufbegehren gegen den Essenzialismus. Ich wehre mich gegen Kategorien, die in einer Gesellschaft als normative Macht wirken. Ich bin frei, mich so auszudrücken und auszuleben, wie ich es für gut befinde, unabhängig von all den Identitätsfutteralen, die eine Gesellschaft bereithält. 

***

Die Positionen schliessen einander nicht aus, sie markieren Pole eines Spektrums. Am einen Pol liegt die «plombierte» Identität: Du bist notwendig der, der du bist! Am anderen liegt die «frei flottierende» Identität: Wähle dich, der du bist! Die meisten Menschen situieren sich im Mittelbereich. Sie bewegen sich in einer gewissen Instabilität zwischen Selbst- und Fremdidentifikation, nach der berühmten Devise Rimbauds «Ich ist ein Anderer». Die Instabilität auszuhalten kennzeichnet die robuste Person.  

Dieses Spektrum der Identitäten ist heute durch beide Extreme akut bedroht. Ganz offenkundig von Hardcore-Essenzialisten, die die Person aufgrund einer Weltanschauung oder Ideologie ein für allemal festgelegt haben möchten. Andererseits aber auch von «Libertinisten», die sich frei fühlen, ihre Identitäten wie Hemden und Hosen zu wechseln. 

***

Und unversehens landen wir in der aktuellen Genderdebatte. Die queere Gemeinschaft wehrt sich gegen einen biologischen Essenzialismus, gegen die Zuschreibung der Geschlechtsidentität allein im Namen der «Natur». Kritikerinnen und Kritiker der Binarität «dekonstruieren» diese «Natur» als eine soziale Macht, die Andersartige in das Prokrustesbett von traditionellen Normen zu zwängen sucht. Normen aber sind keine Fakten, sie beruhen auf einer Übereinkunft der Menschen. Und die Legitimität einer Übereinkunft ist stets hinterfragbar. 

Nun beobachten wir freilich eine Verhärtung der Fronten. Gegen nichtbinäre Identitäten wappnen sich erstarkende reaktionäre Kräfte. Autoritäre Regimes haben in der Gendertheorie ihre Lieblingsfeindin entdeckt. Als Unterwanderin der «natürlichen» Weltordnung. Putin und Orban zum Beispiel sehen die Staatssicherheit durch die queere Community gefährdet. Papst Franziskus entblödete sich nicht, die Gendertheorie mit der Atombombe zu vergleichen.  

***

Ich stelle als Vermutung eine These auf: Dieser intellektuelle Backlash drückt ein Unbehagen vor dem Uneindeutigen aus. Es geht dabei um weit mehr als bloss um die Geschlechtsidentität. Gerade die Freiheit, zu sagen «Ich bin nicht so, ich bin auch anders», macht aus uns lebende, weil «uneindeutige» Personen - und nicht abstrakte, statistisch verwertbare Kategorien. Unserer «natürlichen» Persönlichkeit moduliert sich ja zunehmend eine digitale, von der Technoindustrie manipulierbare Identität auf. Identifizierung ist immer auch ein Instrument der Machtausübung, durch Unternehmen, staatliche Behörden oder andere Institutionen. Im Uneindeutigen steckt eine heimliche Subversion gegen das Gleichmacherische. Wir sollten sie angesichts immer potenterer Identifizierungs- und Überwachungstechnologien gerade heutzutage bewahren und pflegen. 

«Ich bin nicht der, der ich bin (zu sein habe)!» wird deshalb zur Losung eines Aufstands des Uneindeutigen in der digitalen Ära. 









  Der mathematische Beweis im Zeitalter der Algorithmen   Was, wenn Mathematiker den Computer nicht mehr verstehen? Was ist ein Beweis? Das ...