NZZ, 30.10.24
Der Wille zur Rache
Das Erstarken des Vergeltungsgedankens in der Politik
Wir erinnern uns: Anfangs Mai 2011 exekutierte eine Spezialeinheit der US-Navy Osama Bin Laden in dessen Heim in Pakistan. Präsident Obama verkündete dem amerikanischen Volk: «Justice has been done». Und damit bediente er ein vorherrschendes Gefühl, das eine populäre Zeitung so zum Ausdruck brachte: «Wir haben ihn! Endlich wurden wir gerächt!» Solche Wortwahl erinnert an Vendettas. Besonnenere Zeitgenossen wunderten sich, wie Obama, im-merhin ein ausgebildeter Jurist, sich an einer solchen Formulierung vergreifen konnte. Meinte er nun «Gerechtigkeit» als Rache?
Der Terrorismus ist bedrohlich genug. Noch bedrohlicher ist eine allgemeinere Entwicklung: des Wiederauflebens und Erstarkens des Rachegedankens in der Politik. Die Islamisten sind die Pioniere. Ihre Ideologen des modernen Terrors wollen primär keinen Krieg gewinnen, sie wollen Vergeltung als Antwort auf die Erniedrigung und Kränkung der islamischen Kultur durch die Entwicklung der modernen Zivilisation, die ja nun tatsächlich primär in Europa und Nordamerika stattgefunden hat.
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Dieses Gefühl der Erniedrigung ist die eigentliche Brutstätte des Racheaffekts. Demagogen aller Art verwenden eine Dreischritt-Taktik zur Weckung dieses Affekts. Man redet dem Publikum zunächst ein, wie stark es gedemütigt werde. Dann sucht man nach den Urhebern dieser Erniedrigung. Schliesslich inszeniert man sich als die Figur, die Vergeltung verspricht.
Ein Schulbeispiel lieferte Donald Trump in seinem Wahlkampf 2016. Er begann auf dem Regis-ter der Erniedrigung und Bedrohtheit: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (..) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (..) und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (..) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, sondern von überall her aus dem Süden (..) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten». Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nach-richten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (..) einen wirklich grossen Führer (..), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär». Diesem Niveau bleibt Trump bis heute treu. Er spielt den Rächer der Erniedrigten. An einer Konferenz der Konservativen 2023 sagte er: «Für all die, denen Unrecht getan wurde: Ich bin eure Vergeltung».
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Es verlockt, zumindest hypothetisch, das Aufleben des Rachegedankens mit der globalen Lage in Zusammenhang zu bringen. Die Welt ist ethnisch-kulturell zersplittert, trotz UNO-Charta. Heute spricht man schon fast abschätzig über eine sogenannte regelbasierte Weltordnung. Wo aber die Fundamente eines internationalen Regelwerks bröckeln, kann der Rachegedanken ungehindert Fuss fassen.
Ganz offensichtlich im Israel-Hamas/Hizbullah-Konflikt. Die Medien gebrauchen gerne das Bild der unaufhaltsamen Eskalationsspirale. Beide Parteien «müssen» vergelten, aber nach unterschiedlicher Logik. Die islamistische Logik sieht im Terror Vergeltungsaktionen gegen die «Kolonialmacht» Israel, letztlich gegen «den Westen». Und die Rache trifft mit wahlloser Grausamkeit Zivilisten. Die israelische Logik sieht sich gezwungen, darauf zu reagieren. Aber wie? Soll man Gleiches mit Gleichem vergelten? Palästinensische und libanesische Zivilisten eben-falls wahllos «bestrafen»? Das kollaterale Leid, das israelische Gegenschläge verursachen, ist entsetzlich, und gewiss spielen auch Rachemotive mit. Aber der Staat Israel steckt in der Zwickmühle. Er hängt von westlicher Unterstützung ab, und er sieht sich im Gegensatz zur Hamas und dem Hizbullah einem Internationalen Gerichtshof verpflichtet. Das Urteil des Genozid-Staates hängt über allen seinen Aktionen.
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Abgesehen von solcher Rechtfertigungsproblematik vernimmt man in Zeitungskommentaren nun Atavismus-Alarm; die Warnung vor biblischen Zeiten des «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Also letztlich vor kompromisslosen Vergeltungskriegen. Zeigt sich hier das Modell für ähnliche politische Konflikte? Spekulationen über kulturelle Rückschritte sind stets abenteuerlich. Aber mich sucht in diesen Tagen die Erinnerung an Francis Fukujamas These vom Ende der Geschichte heim, die den globalen Siegeszug der liberalen Demokratie – und damit auch der Rechtsstaatlichkeit - verkündete. Man konnte die These als Lob «westlicher» politischer Reife lesen, die das Zeitalter der Vergeltung endlich überwindet, und uns «Aufgeklärten» erlaubt, die Welt dank Recht und Gesetz zu regulieren.
Nichts gegen Aufklärung, aber hüten wir uns vor leichtfertigem Idealismus. Ressentiment und Rache lassen sich durch Recht und Gesetz nicht überwinden, nur verdrängen. Und gerade im Souterrain des Verdrängten entfaltet der Wille zur Rache seine diabolische Potenz.
Also potenziell in uns allen.