Freitag, 31. Mai 2024



NZZ, 30.5.24

Das Monster in uns

Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich

Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – das Monster von Gaza». Solche Dämonisierung – oder genauer «Monsterisierung» -  hat Tradition. Ein Buch über den Massenmörder Anders Breivik trägt den Titel «The Utoya Monster», ein Film über den Inzesttäter Josef Fritzl «Geschichte eines Monsters». Regelmässig bezeichnet man Untaten, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, als «monströs». Den Titel «Monster» reservieren wir – oft mit heimlichem erotischem Schaudern - für Menschen, deren psychisches und intellektuelles Universum sich unserem Verständnis entzieht. Deshalb ist der Begriff auch eine Warnung; «monstrare» bedeutet zeigen und warnen. 

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Wovor eigentlich? Sicher vor physischer Bedrohung. Monster wollen Böses, sie wollen von uns Besitz ergreifen, uns vergewaltigen, unser Blut saugen, uns töten. Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten. Aber physische Gefahr allein genügt nicht, um sie von anderen Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Krokodil kann durchaus eine physische Gefahr darstellen, ist aber kein Monster. Und warum nicht? Weil man es einer eindeutigen Kategorie zuschlagen kann. Das Krokodil ist ein Tier. 

Zum Monstersein braucht es eine andere Aura der Gefahr. Man könnte sie die Gefahr der Uneindeutigkeit nennen. Monster passen in kein Kategoriensystem, sei dies natürlich oder kulturell. Sie sind ein Affront gegen die Natur, die Sitte, das Recht. Wir wissen kognitiv nicht, was wir mit diesem uneindeutigen Ding anfangen sollen. Wenn es keine reelle Gefahr anzeigt, so doch eine virtuelle. Und gerade diese Virtualität – das Gerücht, der Verdacht, die Imagination - macht jemanden zum Monster. Als Zwitterkategorie eignet es sich gut zur Dämonisierung des Anderen. Transmenschen werden oft als solche «uneindeutige» Wesen wahrgenommen. 

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Die britische Fernsehserie «Black Mirror» schildert dystopische Zukunftsszenarien einer völlig technisierten Gesellschaft. In einem Szenario ist die menschliche Spezies von monströsen humanoiden Wesen bedroht. Ein spezieller Trupp von Monsterjägern verfolgt und eliminiert sie. Wie sich allerdings herausstellt, ist den Monsterjägern ein Modul ins Gehirn implantiert worden, das sie andere Menschen als Monster wahrnehmen lässt. Beim Helden der Geschichte funktioniert dieses Modul nicht, weshalb er entdeckt, dass er kein tapferer Verteidiger der menschlichen Spezies ist, sondern am Vernichtungsfeldzug einer verachteten Bevölkerungsgruppe teilnimmt. 

Das ist Science Fiction. Freilich brauchen wir gar keine fiktiven Gehirnimplantate, um in anderen Menschen Monster zu sehen. Gewöhnlich nehmen wir Artgenossen spontan als Mitmenschen wahr. Aber immer wieder mischt die Ideologie des «Untermenschentums» mit, die uns suggeriert, gewisse Mitglieder unserer Spezies seien nicht «eigentlich» menschlich. Wir kennen die Ideologie sattsam aus den Traktaten der Nazis oder der weissen Suprematisten. Jüngst auch aus dem Mund des stellvertretenden Bürgermeisters von Jerusalem, Arieh King. Er erklärte angesichts von fast nackten Palästinensern, die in einer Sandgrube festgesetzt worden waren: Könnte er entscheiden hätte er die Gefangenen mit Bulldozern lebendig begraben; sie seien keine Menschen oder menschliche Tiere, sondern Untermenschen.  

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Wie stark und nachhaltig freilich dieses Ideengezücht in unseren Köpfen wuchern mag, es verdrängt den mitmenschlichen Urblick nie völlig. Oder eher, es spaltet ihn auf in zwei Teilblicke, die sich unter Umständen nicht mehr vertragen. Dieser unheimliche Zwiespalt ist in uns allen angelegt. Und er wird in dem Moment zur Monstrosität, in dem die Ideologie unsere Wahrnehmung derart in Bann schlägt, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die innere Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren. Dann geschieht etwas, das im Tierreich eine Ausnahme ist: die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet nahezu total. Die Hamas-Terroristen sahen in ihren Opfern zweifellos Menschen, und gerade weil die Opfer Menschen waren, wurden sie unmenschlich massakriert. Ein japanischer Veteran des Zweiten Weltkriegs sagte in einem Interview: «Wenn wir chinesische Frauen vergewaltigten, dann betrachteten wir sie als Menschen; wenn wir sie töteten, als Schweine». 

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Wir sind offenbar anfällig für diese «normale» Geistesgestörtheit. Es bedarf dazu gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tiefverwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten. 1993 wütete der Mob im rumänischen Dorf Hadareni pogromartig gegen Roma. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, drei Roma getötet. Eine Dorfbewohnerin äusserte sich dazu wie folgt: «Wir sind stolz auf unsere Taten. Eigentlich wäre es sogar besser gewesen, wenn wir mehr Leute verbrannt hätten und nicht nur deren Häuser. Wir verübten keinen Mord – wie kann man das Töten von Zigeunern Mord nennen? Zigeuner sind nicht wirkliche Menschen, weisst du. Sie töten einander. Sie sind Kriminelle, untermenschlich, Ungeziefer».   

Das Vokabular des letzten Satzes enthüllt den ganzen monströsen Widerspruch: Roma sind Kriminelle, also Menschen, und gleichzeitig Ungeziefer, also nicht Menschen – eigentlich sind sie weder noch, nämlich untermenschlich. Die Frau lebt mit diesem Widerspruch in Seelenruhe. Sie demonstriert die «einleuchtende» Logik der Unmenschlichkeit, deren Spur sich vom Dorfpogrom in Rumänien bis zum Genozid in Ruanda zieht. Das teuflische Motiv, andere Menschen als Ungeziefer zu behandeln, liegt exakt darin, dass sie kein Ungeziefer sind. 

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Entmenschlichung beginnt im Kopf. Im Denken und Reden über andere, nicht im Behandeln an-derer, obwohl beides untrennbar zusammenhängt. Der Hang zur Unmenschlichkeit ist menschlich, und ihm wohnt oft eine mörderische logische Stringenz inne. Wir sollten also Humanität auch, nein, vor allem von ihrem entgegengesetzten Pol - der Monstrosität - her denken. Adorno nannte diesen Pol «Auschwitz» und schrieb: «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung». Aber zu dieser Erziehung gehört notwendig das Memento, dass Ansätze zu Auschwitz immer möglich sind. 

Das forderte Susan Sontag eindringlich: «Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden. Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf soviel Unwissenheit oder Vergesslichkeit». 

Moralische Reife erlangen wir also, indem wir das Monster in den Horizont des Menschenmöglichen einbeziehen. Dann können wir ihm ins Auge sehen – in uns selbst. Fürchten müssen wir es immer. 

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