Montag, 6. Mai 2024

 


NZZ, 30.4.24

Wir schrecklichen Verallgemeinerer

«Alle Weissen sind Rassisten». Den Satz schrieb 2017 das Transgender-Model Munroe Bergdorf auf Facebook. Natürlich erhob sich umgehend ein Shitstorm. Man kann den Satz simpel, dumm, falsch, beleidigend, selber rassistisch finden. Das ist breitgetretener Quark. 

Interessanter ist der Satz als Symptom einer Denkdisposition: der falschen Verallgemeinerung. «Alle Weissen sind Rassisten» - wie viele Weisse kennt Munroe Bergdorf? Alle? Oder ist Munroe Bergdorf bisher einfach keinem nichtrassistischen Weissen begegnet? Wir stossen hier auf ein altes und vertracktes erkenntnistheoretisches Problem. Unser Urteil stützt sich ab auf eine endliche Zahl von Erfahrungen. Von welcher Zahl an sind wir berechtigt, «bottom up» zu generalisieren? Wir bilden gewöhnlich ein Urteil, bevor wir die nötige Evidenz dazu haben, mit Kant gesprochen: «Die Notwendigkeit, zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit, zu erkennen».  

Wir generalisierenden Tiere können nicht nicht verallgemeinern. Wir tun das beinahe reflexartig. Und das heisst: Wir denken nicht nach, vor allem, wenn wir über andere urteilen. Munroe Bergdorf könnte sich auf Richard Wagner berufen. Er äusserte sich abfällig über Robert Schumann, und auf den Vorwurf, er kenne doch Schumann gar nicht zur Genüge, entgegnete Wagner mit dem Totschlagargument, wer alles kennen müsse, ehe er schimpfen dürfe, der würde nie zum Schimpfen kommen, und das sei nicht zumutbar. 

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Wagners Replik eignet sich geradezu als das Erkennungszeichen einer gegenwärtig beliebten Kommunikationsform, nämlich den Satz «Alle X sind …» zum Schimpfen, Canceln, Diffamieren verwenden. Eine Gruppe von Menschen in den Sack von «Gleichen» stecken, und wacker drauf-hauen. Dabei geht man in der Regel wie folgt vor: Man wählt ein paar Merkmale a,b,c .. aus, die man bei einer Gruppe X häufig beobachtet, und verallgemeinert dann hypothetisch: Alle X sind a,b,c.. Das erscheint auf den ersten Blick harmlos. Aber man kann der Verallgemeinerung einen tückischen Dreh geben, indem man sie als Wesensmerkmal der Gruppe auffasst. Dann verliert die Charakterisierung ihre Unschuld. Dann heisst es «Alle Weissen sind ihrem Wesen nach Rassisten». Man kann sie nicht ändern. Sie tragen den Rassismus als unauslöschliches Kainsmal auf sich. Unsere Geschichte ist voll von solch unseligen «Verwesentlichungen»: das Wesen des Juden, des Islam, des Zigeuners, der Frau, des Schweizers. Letzteres definierte ein Bundesrat einmal so: genau, pünktlich, solide, kein Blender. Mir persönlich fehlt so betrachtet das wesensmässig Schweizerische.

Es gibt die abgemilderte Version, den strukturellen Rassismus: Wer Teil eines gesellschaftlichen Systems ist, das Ethnien, Gender und was auch für Gruppen diskriminiert, ist selber Rassist, drehe und wende er sich, wie er will. Eine Journalistin schreibt kürzlich: «Ich bin Rassistin, weil es rassistische Strukturen gibt, und ich von denen profitiere». Das tun wir Weissen wahrscheinlich ausnahmslos, und so gesehen sind wir alle Rassisten. Irgendwie. Aber wie genau? Die Verallgemeinerung bedarf unbedingt einer Differenzierung, sonst verkommt sie zum Affichen-Moralismus, der gegenwärtig ohnehin grassiert. 

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Vom Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stammt bekanntlich der Begriff «terrible simplificateur»:  schrecklicher Vereinfacher. Zu dieser Kategorie gehört erst recht der schreckliche Verallgemeinerer. Er hält seinen Denkhorizont – oft beschränkt genug – für die Welt, und was nicht in diesen Horizont passt, existiert nicht. Er will nicht falsifiziert werden, aus Mutwillen, Ignoranz oder Dummheit. Sein Blick ist getrübt vom intellektuellen grauen Star. Er sieht nur «den» alten weissen Mann, «den» Linken, «den» Klimaleugner, «den» Juden, nicht einzelne Personen. Dabei unterläuft ihm gar nicht so selten der Lapsus, dass er wider besseres Wissen allgemein urteilt. Niemand ist davor gefeit. Auch ein Autor wie Theodor Fontane nicht. Er sprach von den Juden als von einem «Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaftes Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen» könne. Im gleichen Zug fügte er an: «All das sage ich (muss es sagen), der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren habe».  

Jeder Mensch hat das Recht, ein Einzelfall zu sein. Und dieser Einzelfall verlangt den Effort zur Demontage von Verallgemeinerungen. Das Abstraktionsvermögen ist eine eminente intellektuelle Gabe und zugleich voller Hinterlist. Soll der Gebrauch des Satzes «Alle X sind ..» nicht zum argumentativen Kampfmodus degenerieren, verlangt er nach geistiger Reife und Redlichkeit. Ihr Erkennungsmerkmal: den Antagonismus zwischen zwei Denkvermögen aushalten, zwischen Verallgemeinerung und Unterscheidung. Nicht unterscheiden wollen ist eine subtile Form von Gewaltausübung. Wir erliegen ihr immer wieder. 





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