Donnerstag, 10. November 2022

 






Genug geschwärmt

Über Schwarmintelligenz und Fragen, die sie angeblich beantwortet



Dem Menschen in der Masse traut man vieles zu, für das man ihn als Individuum nicht fähig hält. Vor allem Ungutes. Friedrich Nietzsche erkannte mit seinem typischem Scharfblick: «Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen die Regel». Gustave Le Bons Klassiker «Psychologie der Massen» (1895) nahm sich dieses «Irrsinns» zum ersten Mal analytisch an. «Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern die Mittelmässigkeit in sich auf», schreibt Le Bon, und: «Die Massen können nie Handlungen ausführen, die eine besondere Intelligenz beanspruchen»; sie sind «dem allein stehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet».


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Das kann man bezweifeln. In neuerer Zeit entdecken Komplexitäts- und Netzwerkforscher – vor allem auch dank elaborierter Computermodelle und ihren Simulationen – durchaus Aspekte des Kollektivverhaltens, die nicht nur nicht dumm sind, sondern das intellektuelle Vermögen des allein stehenden Menschen übersteigen. Und weil der Begriff der Masse ziemlich vorbelastet ist, spricht man nun vom Schwarm und seiner «Intelligenz». Allerdings stellt sich ein Problem. Nach herkömmlichem Verständnis attestieren wir Intelligenz Individuen; was aber ist die Intelligenz eines überindividuellen Schwarms?


Produkte der Schwarmintelligenz gibt es seit langem. Eines der ältesten ist die Bibel. Ein neueres - der Duden – definiert Schwarmintelligenz so: die Fähigkeit eines Kollektivs zu sinnvoll erscheinendem Verhalten. Und der Duden hat recht, wenn er das «erscheinen» betont. Gern unterläuft einem nämlich ein Kategorienfehler, also die falsche Verwendung eines Begriffs. Typisches Beispiel: Jemand sucht im Bundeshaus nach der Demokratie, als ob es sich um ein besonderes Zimmer handeln würde. Analog schreibt man dem Kollektiv eine Intelligenz zu, als handle es sich um einen nebulösen individuellen Akteur namens «Schwarm». 


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Nun haben wir es hier nicht bloss mit einer begrifflichen Frage zu tun. Tatsächlich beobachtet man bei Kollektiven immer wieder Verhaltensmuster, die sich spontan einstellen –  «emergieren» - und nicht auf das Einzelverhalten zurückführbar sind: kollektive Entscheidungsprozesse bei Insekten, Fischen, Vögeln. Das ist ein faszinierendes Gebiet, und es verlockt, die Beobachtungen auf den Menschen auszuweiten. 


Hier wenden aber nicht wenige ein, der Mensch sei doch mehr als ein instinktgeleitetes Tier und er treffe seine Entscheide aus rationalen Erwägungen heraus. Der Einwand verfehlt den Punkt. Der Mensch kann ein vernunftgeleitetes Individuum sein, und trotzdem entgleitet ihm diese Leitung unter bestimmten Bedingungen. Schwarmvorgänge können wir nicht rational steuern. Das Individuum «verflüssigt» sich in der Menge und ist quasi der Irrationalität der sozialen Physik ausgeliefert. Bekannt sind vor allem Kalamitäten und Katastrophen wie die Loveparade 1989 in Duisburg oder die Massenpanik im Pilgerstrom in Mekka 2006. In beiden Fällen handelte es sich um sogenannte «Crowd Turbulence» - Wirbelbildung in der Menge. Der Einzelne kommt zwar im Gedränge nicht voran, und dennoch bewegt sich die Menge mit teils hoher Geschwindigkeit. Bei genügender Dichte können extreme Drucke auftreten, so dass Menschen ersticken, zerquetscht oder sogar aus der Masse herauskatapultiert werden. 


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Zur Frage stehen aber nicht physische, sondern intellektuelle Schwarmphänomene. Kann das Denken im Kollektiv zu Effekten führen, die die intellektuelle Kapazität des Einzelnen übersteigen? Auch hier ist die Antwort: Scheint so. Ich erwähne zwei Beispiele. In den 1990er Jahren sprach man in Informatikerkreisen vom sogenannten Linus-Gesetz, benannt nach Linus Torvalds, dem Pionier der Open-Source-Bewegung: Genügend viele Augenpaare machen jedes Problem trivial, das heisst lösbar. Spezifischer: Jeder Programmierfehler lässt sich durch eine hinreichende Anzahl Tester und Analytiker beheben. Eigentlich eine Trivialität, möchte man vermuten. Das Gesetz ist bisher nicht befriedigend bestätigt worden. Es handelt sich wohl um kaum mehr als um eine spekulative Verallgemeinerung anekdotischer Erfahrung. 


Beispiel zwei. Eine Studie aus dem Jahr 2016 analysierte 20’000 Diagnosen von 140 Brust- und Hautkrebsspezialistinnen und -spezialisten.  Und zwar bewertete sie die Diagnosen anhand zwei-er quantitativer Kriterien, der Sensitivität und der Spezifität. Die Sensitivität antwortet auf die Frage: Wie häufig trifft die Diagnose «Krebs» im Krankheitsfall zu? Die Spezifität antwortet auf die Frage: Wie häufig trifft die Diagnose «Kein Krebs» im Nichtkrankheitsfall zu? Hohe Sensitivität und Spezifität kennzeichnen also hohe diagnostische Genauigkeit. Die Studie fasste die Ärztinnen und Ärzte zu kleinen «Pools»  zusammen. Ihr Resumee lautet: «Wir stellen fest, dass Ähnlichkeit in der diagnostischen Genauigkeit eine Schlüsselbedingung für kollektive Intelligenz ist. Die Verbindung der unabhängigen ärztlichen Urteile übertrifft die beste Fachkraft in einer Gruppe, wenn die diagnostischen Genauigkeiten der Einzelnen nahe beieinanderliegen, nicht aber, wenn sie zu sehr differieren». 

Auch hier gilt die Trivialitätsvermutung. Die Kollaboration von Fachleuten mit ähnlich hoher Kompetenz kann zu besserer Urteilsfindung führen. Ein statistischer Befund. Mehr nicht. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Die Komplexitätsforschung ersinnt heute immer raffiniertere Computermodelle zur Simulation von Schwarmphänomenen. Man schraubt an den Modellbedingungen und – Simsalabim! - beobachtet einen Schwarmeffekt. So weit, so gut. Aber dass ein solcher Effekt auftritt, erklärt nicht, warum er auftritt. Wer dies tut, dreht sich im Kreis. 

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Kurz, Schwarmintelligenz ist das Problem, für dessen Erklärung sie sich hält: Was ist überhaupt Intelligenz, und wie entsteht sie? Im Grunde beruhen auch unsere geistigen Fähigkeiten auf dem Verhalten eines Riesenschwarms von Neuronen und Neuronenclustern, und wie daraus so etwas wie intelligentes Verhalten entsteht, gilt in einschlägigen Kreisen als das «harte Problem». Es stellt sich ebenfalls in der KI-Forschung, heute bei lernenden Maschinen mit ihren künstlichen Neuronen. Sie sind ja zu Erstaunlichem fähig, vor allem bei spezifischen Aufgaben. Ihre Leistung über-trifft oft die menschliche. Das heisst, aus der immensen Zahl von Daten und Rechenschritten in einem KI-System resultiert ein Kollektivverhalten, das uns Menschen so vorkommt, als walte darin eine Superintelligenz. 


Man könnte solche anthropomorphen Beschreibungen einfach als Verständnishilfen für Maschinenprozesse betrachten. In der Redewendung «Der Schwarm entscheidet» ist das Wort «entscheidet» ein solches Kürzel für komplexe Abläufe. Die Verlockung ist dabei gross - selbst unter Softwaredesignern - , dass man sich auf diese Weise ein Verständnis vortäuscht. Meldungen über «Durchbrüche» in der KI-Forschung sind schon fast ein Ritual. Ebenso wie die schwärmerische Litanei, endlich eine Maschine mit Bewusstsein entwickelt zu haben. Ohnehin gehört es im digitalen Kapitalismus zum festen Bestandteil der Werbung von Grossunternehmen, uns mit dem Nimbus ihrer «Wunderwerke» einzuseifen und die Technikfrömmigkeit zu nähren.


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A propos Wunder. Mir schwebt in diesem Zusammenhang immer ein Bild des amerikanischen Cartoonisten Stanley Harris vor Augen. Zwei Wissenschafter stehen vor einer Wandtafel. Links ein Haufen Formeln, rechts ein Haufen Formeln. Die Forscher diskutieren offensichtlich die Frage, wie man von links nach rechts gerät. Als Missing Link steht dazwischen der Satz: «Dann geschieht ein Wunder..». Der zweite Forscher sagt zum ersten: «Ich glaube, Sie sollten in diesem Schritt etwas expliziter sein». Das gilt auch für Schwarmintelligenz. Zwischen Individuum und Kollektiv geschieht ein «Wunder», das noch lange nicht explizit gemacht ist. Eric Horvitz, Direktor des Microsoft Research Lab, schrieb 2017 über KI-Forschung: «Zurzeit ist das, was wir tun, nicht Wissenschaft, sondern Alchimie». Also an die Arbeit, ihr KI-Alchimisten, und genug geschwärmt!



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