Donnerstag, 17. November 2022

 





Canceln – Ende der Kritik?

Im amerikanischen «Harper’s Magazine» erschien 2020 ein offener Brief, der zwar nicht explizit, aber doch implizit die Praktiken der Cancel Culture und ihrer Bedrohung der freien Debatte aufs Korn nahm. Die Unterzeichnenden waren über 150 Intellektuelle aus Journalismus, Kunst und Universität. Die junge afroamerikanische Journalistin Erin B. Logan stiess sich am Brief, und sie erinnerte in einer Kolumne der «Los Angeles Times»  an die mediale Misere vieler «journalists of color», die auf Gedeih und Verderb von ihren Bossen abhängig, oft infolge falscher Urteile und Entscheide vor die Tür gesetzt – gecancelt – worden seien. Cancel Culture schlage nun gegen die «Türhüter des akzeptierten Diskurses» zurück.

Die Kontroverse ist Schnappschuss einer ziemlich heftigen Debatte, die auch auf Europa übergeschwappt ist. Die einen sehen im Canceln eine Lappalie,  die anderen eine Bedrohung fundamentaler Bürgerrechte.  Da Erin B. Logan auf den «akzeptierten Diskurs» anspielt, wäre ein Begriff von Michel Foucault vielleicht unverfänglicher: Diskurskritik. Und ein Anlass, den Unterschied zwischen Canceln und Kritik etwas genauer unter die Lupe nehmen. Viel zu wenig bedacht wird nämlich eine andere Herausforderung, die das Canceln darstellt: die epistemische. Canceln richtet sich gegen die Basis der fairen kritischen Auseinandersetzung, der Erkenntnissuche. Oft ist es schwierig, eine Grenze zu ziehen. Aber man kann fallweise Symptome erkennen, wo Kritik in Canceln kippt. 

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Kritik zielt auf Meinungen, Canceln zielt auf die Meinenden. Es beleidigt, beschämt, schüchtert sie ein, macht sie lächerlich. Man geht gar nicht ein auf das zu Kritisierende. In der feministischen Fachzeitschrift «Hypatia» plädierte zum Beispiel die Philosophin Rebecca Tuvel 2017 für «Transrassismus». Der Entscheid von Individuen, das Geschlecht zu wählen, sollte auf die ethnische Zugehörigkeit ausgeweitet werden. Ein zumindest diskussionswertes Postulat. Möchte man meinen. Einer Soziologiestudentin gefiel der Artikel gar nicht, und sie schrieb in einem Post pikiert, sie weigere sich, zu erlauben, dass solcher «Müll Fuss fasse». Der Post ging viral. Hunderte von Akademikern forderten in einen offenen Brief an die Zeitschrift, den Artikel zurückzunehmen. Ein Kommentar verstieg sich zur unvermeidlichen Frage: Wie können wir erreichen, dass diese Person gefeuert wird? Der Shitstorm figuriert seither als Beispiel «moderner Hexenjagd». 

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Es gibt viele solcher Fälle. Auch Prominenz gerät ins Visier. 2020 sandten fast 600 Mitglieder einer nicht öffentlich bekannten «linguistischen Gemeinschaft» einen Brief an die «Linguistic Society of America», in dem sie forderten, den renommierten Kognitionswissenschafter Steven Pinker von «ihrer Liste hervorragender akademischer Kollegen» zu streichen. Das «Sündenregister» Pinkers listet zum Beispiel auf, dass er in einem seiner Bücher einen schwarzen Soziologen zitiert, der über die Abnahme öffentlichen Rassismus’ schrieb.   

Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied: Kritik an der Idee von Frau Tuvel würde bedeuten, dass man sie im Kontext der «Trans-Diskussion» behandelt, was man von dieser auch halten mag. Canceln reisst sie aus dem Kontext, um sie zu missdeuten und zu verzerren. Das Manöver ist auch bekannt als Strohmann-Bashing. Hat man keine Argumente oder kommt nicht an gegen einen Opponenten, baut man stattdessen einen Strohmann auf und greift diesen an; schreibt ihm etwa Äusserungen zu, die er nicht getan hat. Tatsächlich schützt das Personenrecht am eigenen (geschriebenen) Wort solche Unterstellungen. Aber in der freien Wildbahn der sozialen Netzwerke dürfte es schwierig sein, diesem Recht zur Geltung zu verhelfen. Nicht zuletzt verschafft einem das Strohmann-Bashing Ersatzbefriedigung. Und der Lustgewinn wächst proportional zur Anzahl mitbeteiligter Haudraufs.

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Das bringt ein hässliches Merkmal des Cancelns zum Vorschein, das natürlich den Charakter der Interaktion im Netz spiegelt: Gruppendenken, im Fall des Cancelns libidinöses «Groupshaming» - eine Form von moralischer Bandenvergewaltigung. Dabei spielt vermutlich nicht einmal die gecancelte Person eine Rolle, sondern das cancelnde Ego. Es geht um Effekthascherei, die Aufmerksamkeit heischende Bestärkung eigener Rechtschaffenheit. Man cancelt für die – realen oder eingebildeten - Follower hinter einem, posiert als moralisierende Rampensau. Wie ein Student über seine Erfahrung in einer Queer-Aktivisten-Gruppe schreibt: «Wir waren alle einer Meinung über ein verdächtig breites Spektrum von Themen. Interne Uneinigkeit kam selten vor. Die isolierte Community diente als Brutkasten von extremen, irrationalen Ansichten».

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Kritik ist ein zivilisierter Ersatz für soziale und physische Gewalt. Diskurs bedeutet: Kampf der Ideen, nicht der Menschen. Man eliminiert bestenfalls Ideen. Kritik korrigiert Irrtümer, Canceln bestraft den «inkriminierten» Irrenden, zum Beispiel dadurch, dass man ihm Plattformen der Meinungsäusserung entzieht, Vorträge absagt oder Publikationsorgane verweigert, ihm mit Kündigung oder Schlimmerem droht. Canceln ist soziale Gewalt. Sie eliminiert schlimmstenfalls Personen. Man kann in Ajatholla Khomeini den Ur-Canceler in der jüngeren Geschichte menschlicher Niedertracht sehen. Seine perfide Fatwa richtete sich nicht einfach gegen Salman Rushdi, sondern gegen alle auf «Rushdis Seite». Und sie zeitigte die gewünschte Wirkung in einem Klima allgegenwärtiger diffuser Bedrohung, in dem man sich zweimal überlegt, was man über die «Satanischen Verse» sagt und schreibt. Dass diese Bedrohung urplötzlich real werden kann, demonstrierte jüngst die fatale Attacke auf Rushdi selbst. 

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Kritik ist ein kooperatives Unternehmen, eine soziale Tätigkeit, die von bestimmten, meist impliziten Maximen geregelt ist. Eine Maxime wie etwa: Setze ebenso viel Vertrauen in die andere Vernunft wie in die eigene. Oder: Sag nicht etwas, wofür du keine hinreichenden faktischen Belege hast. Solche Maximen bilden eine Verfassung der fairen Kritik. Wir alle brechen diese Verfassung immer wieder. Aber wir halten dennoch zentrale Werte hoch, die sie hütet: Wahrheit, Objektivität, Faktentreue, Schlüssigkeit, Informationsoffenheit. Es braucht keine Türhüter für einen solchen Diskurs, es braucht möglichst viele intelligente Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmer. Und es gibt sie. Sie sind in der Mehrheit.

Canceln verhöhnt diese Verfassung. Es erweist sich dadurch als die schwerste intellektuelle Verachtung des Anderen. Man könnte sie als Prinzip der fiesen Interpretation bezeichnen: Im Zweifel gegen den Angeklagten – du stehst unter dem Verdacht einer «schuldigen» Haltung, bis deine Unschuld bewiesen ist. Und Canceln versucht gerade das zu verunmöglichen. Dem Anderen wird unterstellt: Eigentlich denkst du nicht, sondern zeigst nur Symptome täuschenden Vorsatzes, feindlicher Haltung, übler Absichten oder Irrationalität. 

Diese Voreingenommenheit infiziert heute den viral um sich greifenden Verdächtigungs-, Beschuldigungs- und Bedrohungsdiskurs des Cancelns. Kritik dagegen beruft sich auf ein anderes Prinzip. Der amerikanische Philosoph Donald Davidson nannte es das Prinzip des Wohlwollens («charity»), das den Debattengegner im besten Licht erscheinen lässt: «Die Worte und Gedanken Anderer ergeben den meisten Sinn, wenn wir sie so interpretieren, dass wir ihnen am ehesten zustimmen können». Auch wenn es uns oft schwer fällt, uns an dieses Prinzip zu halten, so haben wir es bitter nötig, fürwahr. 






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