Dienstag, 29. November 2022

 





«Alle Weissen sind Rassisten»

Über die Tücken der Verallgemeinerung


Den Satz schrieb 2017 das Transgender-Model Munroe Bergdorf auf Facebook. Natürlich erhob sich umgehend ein Shitstorm. Man kann den Satz simpel, dumm, falsch, beleidigend, selber rassistisch finden. Das ist breitgetretener Quark. Darauf möchte ich hier nicht eingehen, sondern auf etwas Unsichtbares, Unscheinbares: die logische Struktur der Aussage. Sie enthält selber auch einigen Zunder. Der Satz lässt sich nämlich umformulieren in einen logisch gleichwertigen: «Alle Nicht-Rassisten sind nicht weiss». Das erscheint auf dem ersten Blick unverfänglich – bis wir nach Evidenz für die Aussage suchen. 

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Wenn mich jemand nach bestätigenden Beispielen für den Satz «Alle Weissen sind Rassisten» fragt, könnte ich nämlich antworten: «Dieser Japaner, dieser Inder, dieser Senegalese, dieser Puertoricaner sind alle nicht rassistisch». Sie alle verifizieren den zweiten Satz, und damit auch den logisch gleichwertigen Satz «Alle Weissen sind Rassisten». Ich brauche mich gar nicht unter Weissen umzuschauen. Die ganze farbige Community von Nicht-Rassisten stützt meine Aussage. Klingt paradox. Ist es auch. 

Ein typische Problem aus dem Philosophieseminar? Der britische Philosoph George Berkeley sagte einmal selbstkritisch über seine Zunft,  Philosophen würden eine Menge Staub aufwirbeln und sich dann beklagen, sie sähen nichts mehr. Tatsächlich hat das Paradox einigen Staub unter Philosophen aufgewirbelt. Es trägt den Namen – nach seinem Entdecker Carl Gustav Hempel - «Hempel-Paradox». Es tritt automatisch dann auf, wenn wir eine allgemeine Aussage machen und nach Bestätigung suchen. In der Regel berufen wir uns auf ein paar Fälle. Und deshalb steht die Aussage stets auf unfester Basis. Wir können noch so viele verifizierende Beispiele anführen –  sie liefern keinen definitiven Beweis. Man muss stets mit Gegenbeispielen rechnen. Es gibt natürlich heute ausgefeilte statistische Methoden und Modelle, die mit repräsentativen zufälligen Samples arbeiten und errechnen, wie solide eine Hypothese durch die Daten dieses Samples gestützt ist. Aber sie bleibt fehlbar.

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Nun gibt es ein patentes Rezept, eine allgemeine Aussage zu prüfen, nicht indem man Bestätigung sucht, sondern Widerlegung: Falsifikation. Bestätigung und Falsifikation sind asymmetrisch. Dies eine Einsicht des Philosophen Karl Popper. Ich kann eine allgemeine Aussage nie endgültig bestätigen, aber ich kann sie endgültig falsifizieren. Theoretisch genügt ein Fall. Ich brauche nur einen einzigen nicht rassistischen Weissen vorzuweisen, und die Aussage von Frau Bergdorf ist erledigt. So einfach das erscheint, so schwierig ist die Praxis. 

Denn wir sind kognitiv träge. Wir alle haben Überzeugungen, die wir nicht oder nur unter grösstem Widerstreben aufzugeben bereit sind. Auch nicht, wenn Fakten gegen sie sprechen. Das sogenannte postfaktische Zeitalter hat diesen tiefverwurzelten renitenten Charakterzug unseres geistigen Lebens zum Vorschein gebracht. Wir sind schlechte Falsifizierer. Ein Grund liegt darin, dass wir mit dem Wissenswachstum, trotz enorm verbesserter Zugangsmöglichkeiten zu Informationen, nicht Schritt halten. Wir können und wollen unser Weltbild nicht ständig umbauen. Eher denken wir in der gemütlichen Balance des Vertrauten falsch, als dass wir die Falschheit entdecken und das Vertraute in Schieflage bringen. Das gilt im Übrigen für Laien wie Wissenschafter.

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Uns sucht immer wieder ein Denkfehler heim: das Bestätigungs-Bias, die Neigung, nur Beispiele anzuerkennen, die unsere Aussagen oder Vorurteile bestätigen. Rassismus ist in der Tat eine mentale Disposition, die das Bias festigt. Rassismus weist die typische logische Struktur des «Alle X sind …» auf, wobei X eine ethnische, soziale, religiöse oder Gender-Gruppe bezeichnen kann. Das Bestätigungs-Bias hat die hinterhältige Tendenz der Selbstverstärkung. Etabliert sich das Stereotyp einmal als «Commonsense», kann es dazu führen, dass sich die X auch «stereotyp» zu verhalten beginnen. «Dass einer Jude heisst, wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht», schreiben Horkheimer und Adorno.

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Selbstverständlich verallgemeinern wir ständig. Wir generalisierenden Tiere sind mit dem nötigen kognitiven Apparat dazu ausgestattet. Wir speichern nicht jedes einzelne Exemplar von Stühlen in unserem Gedächtnis, wir bilden den Begriff des Stuhls. Damit navigieren wir durch die «Wildnis» vieler einzelner Stühle. Herbert George Wells, ein Klassiker der Science Fiction, hat das vor über einem Jahrhundert in einem immer  noch lesenswerten Aufsatz («Die Wiederentdeckung des Einzigartigen», 1891) so beschrieben: «Nur weil wir nicht einen Geist von unbegrenztem Fassungsvermögen besitzen, nur weil unser Hirn nur eine beschränkte Menge von Ablagefächern für die Übereinstimmung mit dem unbegrenzten Universum an Einzeldingen bereit stellt, müssen wir uns vormachen, dass es so etwas wie ein gemeinsames Merkmal für Stuhlheit in der Gattung aller Stühle gibt».

Die «Stuhlheit des Stuhls» - hier gerät man auf gefährliches Terrain. Wie Wells schreibt, macht man sich etwas vor. Man hebt bestimmte gemeinsame Merkmale hervor und erklärt sie zum Wesen von etwas. Alle Stühle bieten eine Sitzfläche an. Auch die Umkehrung gilt: Was keine Sitzfläche anbietet, ist kein Stuhl. Die Sitzfläche gehört zum Wesen des Stuhls, nicht aber, dass er vier Beine hat oder aus Holz gefertigt ist. Bei Sachen ist diese Verwesentlichung – der «Essenzialismus» - harmlos. 

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Bei Menschen nicht. Der Essenzialismus beginnt meist unscheinbar. Man wählt ein paar Merk-male aus, die man bei einer Gruppe X häufig beobachtet und verallgemeinert dann hypothetisch: Alle X sind so und so. Nun kann man aber der Verallgemeinerung einen essenzialistischen Dreh geben, indem man sie nicht bloss als empirisch feststellbare Häufigkeit, sondern quasi als Wesensmerkmal der Gruppe auffasst. Dann verliert die Charakterisierung ihre Unschuld. Dann lautet «Alle Weissen sind Rassisten» essenzialistisch interpretiert: Alle Weissen sind ihrem Wesen nach Rassisten. Man kann sie nicht ändern. Sie sind unbelehrbar. Sie tragen den Rassismus als unauslöschliches Kainsmal auf sich. Das Argument durchzieht als unselige Spur unsere ganze Denkgeschichte: das «Wesen des Juden», das «Wesen der Frau», das «Wesen der westlichen Denkart», das «Wesen des Schweizers». Letzteres definierte ein Bundesrat einmal so: genau, pünktlich, solide, kein Blender. Ich zum Beispiel bin nicht pünktlich, unsolide, machmal ein Blender. Also kann ich kein Schweizer sein. 

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Gewiss, das ist Hardcore-Essenzialismus. Es gibt die abgemilderte Version, den strukturellen Rassismus: Wer Teil eines gesellschaftlichen Systems ist, das Ethnien, Gender und was auch für Gruppen diskriminiert, ist selber Rassist, drehe und wende er sich, wie er will. Eine Journalistin schreibt kürzlich: «Wenn es um Rassismus geht, haben wir Weissen den Reflex zu sagen: Ja, ja, das ist alles schlimm. Aber ich bin ja nicht rassistisch. Ich achte auf meine Sprache und mir ist die Hautfarbe egal. Es gibt zwar Rassisten, aber ich bin hier ganz sicher nicht das Problem». Das sieht die Journalistin anders: «Ich bin Rassistin, weil es rassistische Strukturen gibt, und ich von denen profitiere». Das tun wir Weissen wahrscheinlich alle, und so gesehen sind wir alle Rassisten. Irgendwie. Bin ich Rassist, wenn ich Kaffee von einer Plantage kaufe, die ein Rassist führt? Ist Rassist, wer an die Fussball-WM in Katar fliegt, die von einem Minderheiten diskrimierenden Regime organisiert worden ist? Die Verallgemeinerung bedarf einer Differenzierung, sonst verhängt sie als Pauschalcharakteristikum ein kollektives Schuldurteil über die Weissen. Ein duseliger Moralismus, letztlich Denkfaulheit.

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Vom Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stammt bekanntlich der Begriff «terrible simplificateur»:  schrecklicher Vereinfacher. Zu dieser Kategorie gehört erst recht der schreckliche Verallgemeiner. Er steckt eine Gruppe in den Sack von «Gleichen» und schlägt darauf ein mit seiner Keule der Verallgemeinerung. Er sieht nur «den» Stuhl, keine einzelnen Stühle. Aber jeder Mensch hat das Recht, ein Einzelfall zu sein. Und dieser Einzelfall verlangt Geduld, Sorgfalt und Denkschärfe. Der Satz «Alle X sind ..» ist Segen und Fluch zugleich. Er ermöglicht uns den Auf-stieg zu einer Sicht auf die Welt als Ganzes, und er verzerrt immer wieder die Sicht auf die Einzelheiten und Unterschiede. Der Statistiker und Mediziner Hans Rosling spricht in seinem lesenwerten Buch «Factfulness» (2018) vom «Instinkt der Verallgemeinerung». Ich sehe in Verallgemeinerung und Vereinzelung eher zwei antagonistische Denkkräfte. Ihren Antagonismus auszuhalten kennzeichnet intellektuelle Reife.

Der Kampf gegen den Rassismus beginnt also bei der Logik: bei der Verhexung unseres Verstandes durch den Allgemeinbegriff. 


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