Montag, 14. März 2022






NZZ, 12.3.2022

Fast Science

Ein neuer Forschungsstil greift Platz: Fast Science. Nichts demonstriert das deutlicher als der Ausbruch der Pandemie. Hier ist der Imperativ der «schnellen» Forschung sicher angezeigt. Er gebietet ein rasches anwendungsorientiertes Wissenswachstum, nicht nur über das Virus, sondern auch über die individuellen und kollektiven Kollateralfolgen seiner Verbreitung. Dadurch ändern sich wissenschaftliche Normen, und mit ihnen wandelt sich der erkenntnistheoretische Charakter der Forschung. 

Einen offensichtlichen Zug dieses Charakters beobachtet man gegenwärtig in der Flut der einschlägigen Publikationen. Medizinische Fachzeitschriften wie «The Lancet» müssen ein Vielfaches der üblichen Anzahl von Artikeln bewältigen. Forscher beginnen zudem, ihre Resultate nicht über traditionelle «esoterische» Fachkanäle mitzuteilen, sondern in «exoterischen» sozialen Medien oder Online-Preprints ohne Peer-Review. Schnelle Meinung und Stellungnahme sind gefragt. Virologen und Epidemiologen brechen auf Twitter Streitigkeiten vom Zaun. Und Laien fühlen sich ermuntert, mitzureden. Alle muten sich eine Expertise zu, es entsteht eine wilde Peer-Community aus Qualifizierten und Unqualifizierten. 

Ein anderes Symptom ist die schnelle Verlautbarung von Resultaten. Ein Pharmaunternehmen gab jüngst die Pressemitteilung heraus, dass ein orales Mittel gegen Covid-19 – Molnupiravir – sich in der Testphase befinde. Die Tests sind nicht abgeschlossen, Peer-Reviews fehlen, aber prompt war in der Zeitung der aufgepimpte Titel «Nun gibt es die Pille gegen Covid» zu lesen. Eine vorläufige «Lösung» macht die Runde, ohne dass man deren Auswirkungen bereits solide studiert hätte. Nur schon die Ankündigung ist sexy. Fast Science dient auch mehr oder weniger transparenten politischen Absichten. Richard Horton, Chefredaktor des «Lancet», verhehlte seine Abneigung gegen Trump nicht. Als eine Studie die Unwirksamkeit von Hydrochloroquin – ein von Trump gepriesenes Mittel – «belegte», wurde sie im Schnellverfahren publiziert. Sie erwies sich als Fake. 

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Den anderen eine Nasenlänge voraus sein - das galt natürlich schon in früheren Zeiten, zumal in «heissen» Gebieten wie etwa der Teilchenphysik oder der Mikrobiologie. Die Erkennnissuche ist getrieben von Neugier, sagt man. Aber man muss sich diese Neugier genauer vorknöpfen. Ist sie von Hektik getrieben, richtet sie sich häufig nicht primär darauf, was die Dinge im Innersten zusammenhält, sondern darauf, wie man die Dinge möglichst schnell in den Griff kriegen kann. Opportune «Tasks» anstelle von offenem Problematisieren. Das Schielen auf Spin-offs. «Instrumentalisierte» Kreativität auf Nachfrage, im Dienst absehbarer Anwendbarkeit.


Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler produzieren Wissen. Dieses spezifische Produkt hat in der Regel das Format von Hypothesen oder Modellen, nicht von ausgearbeiteten Theorien. Zum Ausformulieren bräuchte man Zeit. Vielleicht ist die Ära der Grosstheorien ohnehin vorbei. Es gab sie ja eigentlich auch nur in der Physik. Modelle, die Prognosen gestatten, genügen. Ein tieferes Verständnis der kausalen Zusammenhänge erfordert viel Aufwand – finanziellen, organisatorischen und eben: zeitlichen. Stattdessen stehen heute  immense Datenmassen zur Verfügung. Sie sind nur noch algorithmisch, also statistisch zu bewältigen. Statistik aber erklärt nicht, sie liefert bloss Material – Korrelationen - für den Modellbau. 


Und hier tritt ein weiteres Problem zutage. Forscher, die in den Datengewässern fischen, können mit dem Netz effizienter statistischer und computerisierter Methoden eine Unmenge «schneller» Korrelationen fangen. Der Neurowissenschaftler und Schriftsteller Erik Hoel sieht darin eine Mutation der Wissenschaft zum «Science Game»: «Man stelle sich vor, eine Wählscheibe zu bedienen, und jedes Mal, wenn man sie leicht dreht, produziert man ein besonderes wissenschaftliches Papier.» Und selbstkritisch spricht Hoel über seine eigene Disziplin: «Die meisten von uns Neurowissenschaftlern sehen in der Magnetresonanzmaschine nicht ein Multmillionen-Gerät. Wir sehen überhaupt kaum etwas Physikalisches. Für die meisten von uns handelt es sich um eine praktische Wählscheibe, um Papers am laufenden Band zu produzieren. Stecke Leute in die Maschine und publiziere jedes hübsche Bild, das sie ausspuckt.» 


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Fast Science zementiert überdies ein Machtgefälle zwischen Erster und Dritter Welt. Das zeigt vor allem die Agrarforschung. Viele internationale, nationale und private Geldgeber sind in reichen, technisch hochentwickelten Ländern beheimatet, und sie unterstützen den «heimischen» Forschungsstil. Die Ökologinnen Marci Baranski und Mary Ollenberger beleuchten in ihrem lesenswerten Artikel über die Grüne Revolution den Hang zur «Westlastigkeit», das heisst, zu einem Forschungsstil, der von avancierten Wissenschaften wie Biochemie und Molekularbiologie, so-wie deren technologischen Anwendungen geprägt ist.  Ein Ziel liegt zum Beispiel in möglichst universell anpflanzbaren Getreidesorten – künftig wahrscheinlich auch vermehrt genmodifizierten. Dazu führt man Tests auf «schnellen» Böden durch, das heisst im Gelände, dessen Randbedingungen man gut kennt und kontrollieren kann. Aber meist sind die Felder der armen Kleinbauern in der Dritten Welt nicht von solch idealer Art. Im Gegensatz zu den Testfeldern von Forschungsinstituten erweisen sie sich als «verunreinigt» durch Wildwuchs, Unebenheiten, Unkraut, unterschiedliche Bodenbeschaffenheit von Sand bis Lehm, Schädlings¬befall, unvorhersehbare Wetterbedingungen und durch was noch für Unwägbarkeiten. In der Regel wissen die einheimischen Bauern über solche lokalen Parameter am besten Bescheid. Das führt allerdings zu einem Zielkonflikt: Will man (relativ) schnelle Lösungen via avancierter Agrartechnologie, erhält man Resultate, die oft lokal nicht verlässlich und anwendbar sind; will man lokal verlässliche und anwendbare Resultate, muss man die Kompetenz der einheimischen «Barfussexperten» miteinbeziehen, was den Forschungsgang sehr wahrscheinlich verlangsamt. Wo die Präferenz in diesem Zielkonflikt bei vorwiegend westlichen Investoren und Sponsoren liegt, dürfte leicht zu erraten sein.


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Das ist nur eine Auswahl von Symptomen der Ausbreitung von Fast Science. Weitere Beispiele wären die Unterbewertung von Scheitern und Misserfolgen im Erkenntnisprozess, ethische Konflikte, das Ausblenden der Wissenschaftsgeschichte, die heutigen Curricula zur «schnellen» Professionalisierung und Spezialisierung, die «schnellen» Symposien und Konferenzen, die einen Austausch über Fachgrenzen hinweg kaum zulassen. Ein irreversibler Prozess? 


Es gibt durchaus Anzeichen, dass das Problem erkannt wird. Eine Gruppe von deutschen Wissenschaftlern – «Slow Science Academy» - publizierte vor zehn Jahren ein Manifest, das mit den Worten beginnt «Wir sind Wissenschaftler. Wir bloggen nicht. Wir twittern nicht. Wir nehmen uns Zeit.» Und es endet mit «Habt Geduld mit uns, wenn wir denken».  2013 erschien das Buch «Une autre science est possible. Manifeste pour un ralentissement des sciences » der belgischen Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers. Und im April 2021 plädierten die Psychologin Luciana Leite und die Biologin Luisa Maria Diele-Vegas für ein ausgewogenes «Jonglieren» zwischen schneller und langsamer Forschung.  

Es wäre falsch - nein, fatal, in solchen Interventionen bloss Marginalitäten zu sehen. Von den Rändern her kommen oft die wichtigsten Impulse. Das Kernproblem ist nicht die Dynamik, sondern das Ethos der Forschung. Es geht weniger um Beschleunigung als um mangelnde Zeit. Fast Science sieht in allem Ausserdisziplinären blosse Zeitverschwendung. Und damit stellt sich die Frage, ob denn nicht genau diese «Verschwendung» das Wesen des kreativen Prozesses aus-macht. Was, wenn uns die Zeit ausgeht, uns mit dieser Frage zu beschäftigen? Wir tun gut daran, hier eine langfristige forschungs- und bildungspolitische Aufgabe zu erkennen, um einem heimlichen Degenerationsprozess vorzubeugen: der Verdrängung der Neugier durch die Gier nach Neuem. 






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