Sonntag, 2. Januar 2022





Würmer, Quallen, Kraken

Wo Intelligenz beginnt

Charles Darwins letztes Werk war einem unscheinbaren Tier gewidmet: dem Erdwurm. «Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer» hiess das 1881, ein Jahr vor seinem Tod erschienene Buch. Darin äussert Darwin den höchst bemerkenswerten Satz: «(Wir) können die Folgerung kaum vermeiden, dass Würmer in der Art und Weise, wie sie ihre Röhren zustopfen, einen gewissen Grad von Intelligenz entfalten.» 


Bemerkenswert ist die Äusserung deshalb, weil Darwin damit eine Tradition begründete, die Intelligenz nicht bloss «höheren» Arten zuschrieb, sondern schon zuunterst auf der Scala naturae ansetzte. George Romanes, ein Schüler und Freund Darwins, studierte die Nervensysteme von Quallen, Seesternen und Seeigeln, und kam zum Schluss, dass wo immer wir dieses System antreffen, seine «fundamentale Struktur im Wesentlichen die gleiche (ist), ob wir sie nun in einer Qualle, einer Auster, in einem Insekt, einem Vogel oder im Menschen vorfinden.» Zur gleichen Zeit verglich ein überzeugter Darwinist mit Namen Sigmund Freud das Nervensystem eines primitiven Wirbeltiers – des Neunauges – mit dem eines Wirbellosen – des Flusskrebses. Sein Befund: Es sind Zahl und Organisation der Nervenzellen, welche die Arten unterscheiden. Neuerdings sorgt der «Intelligenzler» unter den Wirbellosen – der Oktopus - für Aufsehen unter Zoologen und Publizisten. Er zeichnet sich durch ein untypisch grosses Nervensystem aus und erweist sich, so gesehen, als ein höchst interessantes erratisches Evolutionsprodukt. Er ist ein Meister der Tarnung, lernfähig, erfinderisch, intelligent auf Krakenart.


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Wenn nun aber diese neuronale Prädisposition zu artspezifischem Geistesleben in der ganzen Natur verteilt ist; wenn man geneigt ist, zu sagen, dass Tiere auf ihre Weise intelligent sind, müsste man ihnen dann nicht eine artspezifische Subjektivität attestieren? Lange vor Tierethikern wie Peter Singer oder Tom Regan hatte ein Pionier der Ökologie, Jakob von Uexküll, den Begriff des Tiersubjekts in die Zoologie eingeführt und vom «Naturfaktor» Subjektivität gesprochen. Die Frage lässt aufhorchen, weil sie einem gängigen biologischen Paradigma diametral widerspricht: dem Tier als Objekt eines physiologischen und ethologischen Blicks; dem Tier als organischem Automaten, ohne «Innenleben». Auch wenn Zoo-logen eine solche Sicht als nützliche methodische Fiktion abschwächen, so prägt die Fiktion doch das neuzeitliche wissenschaftliche Denken über das Tier bis heute tief und nachhaltig. 


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Sie beruht vor allem auf einem erkenntnistheoretischen Abwehrreflex. Denn der Schluss vom Menschen auf das Tier fällt leicht, allzu leicht. Notorisch geworden ist etwa der Fall des «Klugen Hans» zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eines Pferdes, das angeblich sprechen und rechnen konnte. Wie sich allerdings herausstellte, bestand diese Klugheit darin, dass das Tier unscheinbare Bewegungen des Versuchsleiters als Signale wahrnahm und darauf reagierte; was der Beobachter seinerseits als das erwähnte Sprach- und Rechenvermögen des Pferdes missdeutete. In der Folge schrieben ganze Zoologengenerationen die Frage des Mentallebens von Tieren als ernstzunehmendes Thema ab. Viel bequemer war und ist es, die Tierseele sozusagen als eine Enklave des Ignoramus zu betrachten, um die herum dann mit erleichtertem Forschergewissen Verhaltensphysiologie und behavioristische Psychologie betrieben werden kann. Darin äussert sich ein Grunddilemma der Zoologie: Beschreibt sie das Tier als Subjekt mentalen Lebens, dann treibt sie nicht Wissenschaft, sondern bestenfalls quasiwissenschaftlichen Animismus oder Anthropomorphismus des artfremden Lebens; beschreibt sie dagegen das Tier in «akkreditierten» wissenschaftlichen Formen, dann hat sein subjektives mentales Leben darin keinen Platz. 


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Nun sind es vor allem die modernen Neuro- und Kognitionswissenschaften, welche die alte «Tierpsychologie» von ihrem Geruch des Anthropomorphismus zu befreien suchen. Die sogenannte kognitive Ethologie hat in den letzten fünzig Jahren ein beeindruckendes Palmarès an Forschungsresultaten gesammelt, die in der Einsicht konvergieren, dass das Tier sehr viel mehr ist als ein «physiologischer Sack». Die Wissenschafter können heute das mentale Leben von Tier und Mensch bis auf molekulare elektrophysiologische und –chemische Prozesse ausbuchstabieren. Was natürlich zur Frage veranlasst: Gibt es nicht ebenso viele Arten von Mentalleben wie Stämme im Tierreich? 


Die Frage manövriert uns geradewegs auf ein philosophisches Minenfeld zwischen Mensch und Tier. Sie wurde auch gern mit dem Totschlag-Argument niedergeknüppelt, sie führe zu nichts, weil es darauf ankomme, wie man «Geist» definiert. Das stimmt bestenfalls zur Hälfte, denn das Mentalleben anderer Arten ist keinesfalls eine Sache der Semantik allein. Wenn mein Hund winselt, weil er sich eine Scherbe eingetreten hat, überlege ich da zuerst, ob «Schmerzen» der richtige Ausdruck für das sei, was sich in seinem Innern abspielt? Gewiss, es gibt objektive physiologische Bedingungen der Schmerzempfindung. Und man kann untersuchen und daran zweifeln, ob sie bei Würmern, Quallen oder Kraken erfüllt sind. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem konzentriert sich in der Frage, ob das physiologisch-objektiv Erfahrbare über das Lebewesen «alles» Wissen bedeute.


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In einem ganz bestimmten Sinn kann man durchaus sagen: Wie Tiere denken, hängt davon ab, wie wir Menschen über Tiere denken. Wer hat sich nicht schon einmal vor dem Aquarium oder Terrarium darüber gewundert, was denn «dort drinnen» im Tier eigentlich vor-gehe. Seit alters fasziniert dieses Fremde, das uns bei aller Nähe unerreichbar bleibt. Gewiss, wir können nicht in die Schuppen des Fischs, die Federn des Vogels oder das Fell des Hundes schlüpfen, aber finden wir wirklich keinen Zugang zu ihnen? Ist es in der Tat nicht seltsam, dass wir Abkömmlinge einer grossen «Manufaktur der Arten» (Darwin) sind, und trotzdem in artspezifische Black-Boxes eingeschlossen bleiben? - Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Die Frage hat in Philosophenkreisen eine bereits notorische Berühmtheit erlangt, seit sie einer der originellsten und profundesten Denker unserer Zeit, Thomas Nagel, vor über 40 Jahren gleich im Titel eines Aufsatzes stellte. Nagel wollte damit nicht behaupten, dass wir diese Frage beantworten können. Vielmehr ging es ihm um eine inhärente Unvollständigkeit der naturwissenschaftlichen Sichtweise, um eine alles abdeckende Einseitigkeit, die gerade dadurch, dass sie Tierverhalten zu Ethologie und Neurobiologie objektiviere, die wesentliche Frage nach dem «Standpunkt» des Tiersubjekts ausspare. 


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Denken wir das Leben ohne Subjekt, denken wir es bloss zur Hälfte. Betrachten wir das Beispiel des Menschen. Es gibt eine Wissenschaft vom Menschen, aufgefächert in zahlreiche Disziplinen, von der Biochemie bis zur Neurokybernetik, die einen stets wachsenden objektiven Wissensfundus zusammentragen. Wissen wir dadurch alles über den Menschen, zumal wie es ist, ein anderer Mensch zu sein? Lohnt es sich, die Frage überhaupt noch zu stellen? Wer dies verneint, gerät unter Zombieverdacht. Die Frage, wie es ist, ein Mensch zu sein, gilt unter unseresgleichen – einstweilen noch – als selbstverständlich. Auch bei vielen Haustieren. Sie ist quasi der Indikator eines «inneren» Zusammenhalts von Mensch und Tier. Je weiter die Art von uns entfernt ist, desto schwieriger fällt uns die Frage. Warum aber sollten wir diesen Kreis von «unseresgleichen» nicht auch auf Würmer, Quallen und Kraken ausweiten? Donald Griffin, der Fledermausforscher, dessen bahnbrechenden Studien Nagel zu seinem Aufsatz inspiriert hatten, spricht von «Spezies-Solipsismus»: «Es mag logisch unmöglich sein, die Behauptung zu widerlegen, alle Tiere seien gedankenlose Roboter. Aber wir können diesem paralysierenden Dilemma entrinnen, indem wir uns auf dieselben Kriterien vernünftiger Plausibilität verlassen, die uns dazu führen, die Realität des Bewusstseins bei anderen Menschen anzuerkennen.»


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Die Frage nach der Subjektivität ist also primär keine Frage nach dem Zugewinn an objektiver Erkenntnis, sondern, wie man sagen könnte, eine Frage nach Zuerkenntnis. Wir fragen nicht: Wie kommt der Geist in die Natur?, sondern: Wie ist Natur zu denken, wenn man in ihr immer schon «Geist» voraussetzt, in Gestalt von Tiersubjekten? Wir gewinnen mit dem Tier als Subjekt eine Perspektive, die uns erlaubt, den wissenschaftlichen Naturalismus selbst zu hinterfragen. Er ist ja nicht selbstverständlich. Er beruht auf der bekennenden Wahl einer bestimmten Erkenntniseinstellung, zur Welt im Allgemeinen, zum Tier im Besonderen. Und diese Wahl schreibt sich als ein Apriori unserem Blick ein. Unterziehen wir es nicht permanent der Prüfung aus einer anderen, komplementären Perspektive, erstarrt es zum Dogma. Die Mensch-Tier-Beziehung hat zwei Enden. Das Tier als Subjekt bringt uns Aufklärung vom andern Ende her. 


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