Dienstag, 7. Dezember 2021




NZZ, 3.12.21

Die postmoderne Blase ist nicht geplatzt

Der Sokal Hoax revisited



Vor 25 Jahrern suchte der Physiker Alan Sokal die Blase des als verquast geltenden postmodernen Diskurses zum Platzen zu bringen, indem er sich einen Jux – einen «hoax» - ausdachte.  Er stellte eine Collage von Zitaten namhafter postmoderner Denkerinnen und Denker zusammen, die glaubten, jeden Schwachsinn aus der Wissenschaft destillieren zu können. Sokal tat so, als stimmte er ihnen zu. Sein Artikel erschien in einer damals trendigen Fachzeitschrift für postmodernes Denken. Ein paar Wochen nach dem Erscheinen machte Sokal publik, sein Lesepublikum auf die Schippe genommen zu haben. Die Empörung in der einen Hälfte der akademischen Galerie war ebenso gross wie die Häme auf der anderen. Ein regelrechtes Kulturscharmützel entbrannte zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. 


Ich lese den Text nach wie vor mit Vergnügen. Aber gleichzeitig mischt sich in dieses Vergnügen die Ernüchterung: die Blase ist nicht geplatzt. Vor allem aus zwei Gründen. Erstens hat Sokal durchaus den Finger auf eine kulturelle Wunde gelegt, aber sich die Sache zu leicht gemacht. Das Thema lässt sich nicht einfach durch den Stich in eine vermeintliche Blase erledigen. Und zweitens hat sich die Blase inzwischen ausgedehnt, über die akademischen Querelen hinaus. Der all-gegenwärtige Diskurs über Identität, Ethnizität, Diversität, Intersektionalität ist ebenso aufgepumpt wie der Diskurs, den Sokal damals ins Visier nahm.


***


Seine Parodie maskierte sich mit dem Plädoyer für eine sogenannte «befreiende postmoderne Wissenschaft». «Befreiung» bedeutete dabei konkret die Loslösung von Faktenbasiertheit. Sokal zitierte die feministische Philosophin Kelly Oliver: «Um revolutionär zu sein, kann eine feministische Theorie nicht beschreiben, was ist: keine ‘natürlichen Fakten’ (..) Das Ziel ist (..), strategische Theorien zu entwickeln –  nicht wahre Theorien,  falsche Theorien.» 


Das liest sich mala fide wie das, was man heute als «postfaktisch» oder «post truth» bezeichnet. Aber es gibt eine Bona-fide-Interpretation. Sie anerkennt durchaus, dass Wissenschaft sich an Fakten zu halten hat, ordnet aber diese Fakten einer Strategie unter, die über die Wissenschaft hinausreicht. Die Klimawissenschaften geben ein gutes Beispiel. Die übergeordnete Strategie lautet bündig: Erhaltung des Planeten als gemeinsames Habitat aller Spezies. Und darin manifestiert sich natürlich die Vertracktheit des Problems. Die meisten klimatologischen, meteorologischen, ozeanologischen und was noch für Fakten sind nicht «reine» Laborsachverhalte, die sagen, «was ist». Sie sind vielmehr eingebettet in einen planetarischen Verwendungs- und Deutungszusammenhang. Sie sagen auch, was «sein soll» oder «nicht sein soll». Sie sind interesse- und interpretationsgeladen.  Und damit verlassen wir das Terrain traditioneller, «normaler»  Wissenschaft.  


***


Ein Axiom des postmodernen Denkens lautet: Die Welt ist nicht ein Gefüge aus Fakten, sondern aus Texten. Darin findet natürlich eine altehrwürdige philosophische Tradition ihren kürzestmöglichen Ausdruck: die Hermeneutik, die Textauslegung. Sie hätte das Potenzial zu einer  «Komparatistik» von Natur- und Geisteswissenschaften, denn schliesslich steht die ganze Naturforschung seit Galilei im Zeichen der Buchmetapher der Natur. Hermeneutik meldete sich im 20. Jahrhundert immer wieder als Korrektiv zur positivistischen Tradition zu Wort, auch wenn letztere die Vorherrschaft reklamierte. Es gab durchaus Versuche, fruchtbare Verknüpfungen zwischen bei-den Formen des Weltverständnisses zu finden, aber sie sind kaum erfolgreich gewesen. Das zeigt sich exemplarisch an zwei Ansätzen mit grossem postmodernem «Impact»: an der «Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» (1962) des Physikers und Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn, und am «Spiegel der Natur» des Philosophen Richard Rorty (1979). Die Bücher markieren eine entscheidende Wende in der Wissenschafts- und Kulturgeschichte, bedauerlicherweise aber eher im Sinne eines Missverständnisses. Das heisst, sie wurden in der postmodernen Rezeption als Absage an Objektivität, Realismus, Wahrheitsorientierung interpretiert – kurz, als Verabschiedung der Idee, es gäbe eine für alle Menschen verbindliche «Welt». 


***


Das kommt in einer Passage von Sokals Artikel so zum Ausdruck: «Wie sich immer offensichtlicher zeigt, ist die physikalische ‘Realität’, nicht weniger als die soziale ‘Realität’, im Grunde ein soziales und linguistisches Konstrukt. Weit davon entfernt, objektiv zu sein, spiegelt und kodiert das wissenschaftliche ‘Wissen’ vielmehr die vorherrschenden Ideologien und Machtverhältnisse von Kulturen, die es produzieren. (..) Deshalb kann der Diskurs der Scientific Community – ungeachtet seines unbezweifelbaren Werts – keinen privilegierten erkenntnistheoretischen Status gegenüber antihegemonialen Narrativen reklamieren, die aus dissidenten und marginalisierten Gemeinschaften stammen.» Von solchen «dissidenten» und «marginalisierten» Gemeinschaften wimmelt es heute nur so, von den Freiheitstreichlern auf der Strasse bis zu den Konspirationisten in ihren digitalen Rattenlöchern. Sie alle reklamieren ihr «Narrativ» gegen die «Hegemonie» wissenschaftlicher und politischer Institutionen.


Nun sind allerdings die wenigsten Wissenschaftler so naiv, zu glauben, Forschung spiele sich in einem macht- und kulturfreien Vakuum ab. Es sind immer Menschen, die entscheiden, welche Evidenz relevant ist, und sie lernen dadurch auch die Standards der Evidenz besser einzuschätzen und einzusetzen. An das Ende dieses Prozesses gelangen wir nie. Aber nach der Pandemie schreiben wir uns mit Vorteil hinter die Ohren, dass das Faktische bei Gelegenheit Vorrang vor dem kulturell «Konstruierten» hat;  dass viele Dinge nicht einfach durch die Kultur bestimmt sind, sondern durch unsere Interaktion mit etwas, das nicht von der Kultur abhängt – nennen wir dieses Etwas Natur, Realität, ökologisches Ganzes oder wie auch immer. Philosophien, die dies leugnen, verdienen nach wie vor keine seriöse, sondern bestenfalls parodistische Beachtung à la Sokal. 


***


In einem ganz bestimmten und beunruhigenden Sinn ist Sokal aktueller denn je. Er schloss seinen Jux ab mit einem Appell an die «jüngere Generation»: «Das fundamentale Ziel jeder emanzipatorischen Bewegung muss in der Entmystifizierung und Demokratisierung des wissenschaftlichen Wissens liegen; im Niederreissen von Barrieren, die ‘Wissenschaftler’ von der ‘Öffentlich-keit’ trennen. Realistischerweise muss diese Emanzipation mit der jüngeren Generation beginnen, durch tiefe Reformen des Bildungssystems. Wir müssen den Unterricht von Wissenschaft und Mathematik von seinen autoritären und elitären Charakterzügen säubern, und die Fächer mit den Erkenntnissen aus feministischer, queerer, multikultureller und ökologischer Kritik anreichern.»  


Nun, genau das spielt sich heute ab auf den Campus der Universitäten. Das «Säubern von autoritären und elitären Charakterzügen» mutiert zum Säubern von nicht genehmen Themen. Erst jüngst machte der Fall der Philosophin Kathleen Stock von sich reden, einer Feministin an der University of Sussex. Sie vertritt die  «Vintage»-Meinung, dass gewisse menschliche Merkmale primär von der Biologie und nicht von der Kultur bestimmt würden. Eine zumindest debattierbare Ansicht, sollte man annehmen. Und welche Institution, wenn nicht eine Universität, könnte die Bedingungen für eine solche Debatte anbieten. Ein «aufgewachter» studentischer Mob aus dem Lager mit dem adretten Akronym LGBTQIA2+ forderte den Rücktritt von Frau Stock. Sie trüge zur «Verunsicherung von Trans-Personen in diesem kolonialistischen Drecksloch» bei, wie ein Flugblatt mit postpubertärem Charme verkündete. Frau Stock trat im Oktober 2021 zurück. 


Sokals Artikel war eine Parodie. Heute ist die Parodie bitterer Ernst. Man verunglimpft Leute im Namen der Anti-Verunglimpfung. Vielleicht ist das die Rache der postmodernen «Emanzipation». 

 





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Das Monster in uns Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – da...