Montag, 10. Januar 2022

 



Die Manie des Überzeugtseins

NZZ, 7.1.22

Im Basar gibt es keine fixen Preise, nur erfeilschte. In den sozialen Medien gilt ähnlich: Es gibt keine «fixen» Fakten, nur «erfeilschte» Meinungen.  Ein Sprichwort sagt «Viel Meinung bricht Einung». Wir beobachten irritiert, wie selbst Epidemiologen, Virologen, Infektiologen und andere Experten sich um die «richtige» Interpretation der Pandemie raufen. Leicht weckt das den Ein-druck, auch Experten verträten bloss Meinungen. Und schnell lässt sich daraus eine zeitgemässe Definition des Experten destillieren: eine Person, die zur Uneinigkeit der Meinungen beiträgt. Also, sagt sich da der pfiffige Laie, kann auch ich meinen Senf dazu geben. Resultat: Man muss elementare biochemische Fakten etwa über Impfstoffe nicht primär verstehen, man muss eine Meinung über sie haben, sprich: «für oder gegen sie» sein, sie einbetten in konspirative Erzäh-lungen, als Bevormundung des Bürgers und Bedrohung der Freiheit verschreien. 


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Was ist das eigentlich: eine Meinung? Klassisch bedeutete sie ein Fürwahrhalten, im Gegensatz zum Wissen der Wahrheit. Fürwahrhalten trägt die Signatur des Subjektiven, des «Für mich ist das so». Im Gegensatz etwa zum apodiktischen «Das ist so» klingt «Für mich ist das so» zurück-haltend. Aber die Floskel hat ihre Tücken. Man setze vor irgendeine Aussage «Für mich..»,  und die Aussage wird unangreifbar. «Der Mond besteht aus Gorgonzola»: falsch. «Für mich besteht der Mond aus Gorgonzola»: wahr. Denn damit sagt man nichts über den Mond, sondern etwas Selbstbezügliches: Was ich behaupte, behaupte ich. Eine Tautologie. Wenn also Meinung immer ein kaschiertes «Für mich» bedeutet, dann ist sie eigentlich eine Tautologie. 


Doch so einfach ist die Sache nicht. Im Grunde sind Menschen – ausser Mystikern, Monomanen oder Marktschreiern alternativer Fakten - «Meiner», nicht Wisser. Und das liegt an der simplen Tatsache, dass eine Meinung stets jemandes Meinung ist. Also muss dieser Jemand, wenn er im Basar der Meinungen eine gewisse Pole-Position zu erlangen sucht, einen besonderen Status reklamieren, sich einen Nimbus zulegen. In der griechischen Antike war das der Nimbus des Philosophen. Er «wusste», der Rest «meinte». Platon hielt nicht viel von Meinungen, musste jedoch zugeben, dass oft auch die «richtige» Meinung den Menschen führen kann, dies allerdings eher zufällig. Im Dialog «Menon» gibt es eine Passage, die höchst eingängig den Unterschied festhält: «Denn auch richtige Meinungen sind eine schöne Sache, und bewirken Gutes, solange sie bleiben. Lange wollen sie aber nicht bleiben, sondern entwischen aus der Seele des Menschen, so dass sie nicht viel wert sind, bis sie jemand anbindet durch eine begründende Argumentation (..) Wenn die Meinungen dann gebunden sind, werden sie erstens Erkenntnisse, zweitens bleibend. Deshalb ist Wissen wertvoller als richtige Meinung, und durch das Anbinden unterscheidet sich Wissen von richtiger Meinung.»


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Ein höchst einprägsamer Vergleich. Eine Meinung ist unbeständig, verdunstet bald. Auch wenn sie viele Follower hat. Wissen dagegen ist Meinung, die man nicht «davonfliegen» lässt. Das gilt immer noch. Aber Wissen erwartet man im modernen Kontext eher vom Wissenschaftler, nicht vom Philosophen. Genauer betrachtet, klingt in der Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen immer auch eine andere Differenz an, nämlich zwischen «harten» Wissenschaften (inklusive Mathematik) und dem ganzen Rest. Man sagt nicht «Für mich sind 2 + 2 = 4 » oder «Für mich wirkt zwischen Sonne und Erde die Gravitation»; wohl aber «Für mich ist Nietzsche der erste postmoderne Denker» oder «Für mich spielt Tukur in diesem ‘Tatort’ mässig». 


So zumindest lautete das dominante Narrativ im 20. Jahrhundert, bis der Philosoph Jean-François Lyotard 1979 mit seinem Buch «La condition postmoderne» auch diesen Unterschied niederriss. Er verabschiedete die «grossen Erzählungen» der europäischen Philosophiegeschichte, zu denen im Besonderen die strikte Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen gehört. Und damit war ein Zeitalter eingeläutet, das sich von all den Parametern der grossen Erzählungen - Wahrheit, Wissen, Objektivität, Tatsache - «emanzipierte». Alles ist im Grunde Meinung. Alle haben «irgendwie» recht, weil niemand «richtig» recht hat. Auch die Wissenschaft gehört zum Basar. 


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Man sollte diese «Emanzipation» nicht verwechseln mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung. Denn dieses Recht ist negativ: Niemand kann mich daran hindern, meine Meinung zu äussern. Daraus leitet sich freilich nicht das positive Recht auf die Richtigkeit meiner Meinung ab. Sie setzt das Anerkennen von Regeln und Gepflogenheiten voraus, ein Schiedsgericht, an das ich appellieren kann, und das mir bescheinigt: Du hast recht oder du hast nicht recht. 


Der Basar der Meinungen negiert eine solche Instanz. Hier stossen wir auf einen tiefen Widerspruch, der nicht erst in der «Condition postmoderne» aufbrach. Der antimoderne Publizist Ortega y Gasset analysierte ihn schon 1930 in «Der Aufstand der Massen» scharfsichtig. Zum ersten Mal sei in Europa ein Menschentypus aufgetreten, «der darauf verzichtet, Gründe anzugeben (..) und sich schlechtweg entschlossen zeigt, seine Meinung durchzusetzen.» Dieser neue Menschentyp «will ‘meinen’, aber er will die Bedingungen und Voraussetzungen allen Meinens nicht anerkennen. Darum sind seine Gedanken in Wahrheit nur Triebe in logischer Verkleidung.» Das war polemisch, gewiss, und auf den «Massenmenschen» gemünzt. Aber das Phänomen ist ein allgemeineres: das Fehlen eines unabhängigen Schiedsgerichts bei Meinungsdifferenz. Nochmals Ortega: «Es gibt kein Denken, noch Meinen, das nicht an eine solche Instanz appelliert, sich ihr beugt, ihren Kodex und Wahrspruch anerkennt.»


Das klingt heute ziemlich pathetisch. Aber ich sehe darin keinen Grund, der Wahrheit, Objektivität, Tatsache abzuschwören - nur deren Absolutheitsanspruch. Die Alternative ist nicht ein Beliebigkeitsanspruch, sondern die Aufforderung, ein anderes erkenntnistheoretisches «Framing» als das postmoderne zu finden. Und darin muss man der Meinung eine zentrale Rolle zuweisen. 


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Die digitalen Medien fördern Meinungsverklumpung. Sie bedroht das fragile «Wir» einer freien, offenen, rechtstaatlich und demokratisch geregelten Gesellschaft. In diesem Zusammenhang stiess ich kürzlich auf einen interessanten etymologischen Fingerzeig. Ursprünglich soll nämlich das deutsche Wort «meinen» wenig mit behaupten zu tun gehabt haben. Es ist vielmehr verwandt mit Gemeinschaft, Allgemeinheit, Gemeinsinn. Wer eine Meinung vertritt, signalisert den Willen, einen Beitrag zu einer gemeinsamen Sache zu leisten. So gesehen kann man durchaus mit der These leben, alles sei Meinung. Die entscheidende Frage ist: Wie sind beständige Meinungen möglich; wie festigen wir Meinungen, ohne sie an den Pflock der absoluten Wahrheit zu binden? 


Ich wage eine paradoxe These: Wir festigen Meinungen gerade dadurch, dass wir sie nicht zu fest werden lassen. Das heisst, wir spielen das alte sokratische Spiel: Wider das Überzeugtsein. Mei-nungsstreitigkeiten kranken viel zu oft daran, dass die Kombattanten ihre Meinung bereits «gemacht» haben, um damit auf die Gegner einzuprügeln. Es entsteht die Subspezies der Wut- und Kampfmeiner. Eine Meinung «haben» bedeutet dann letztlich Selbstsuspendierung vom Denken. Das sokratische Spiel verlangt hingegen nichts weiter als die radikale Bescheidenheit, unsere Meinung auf den Prüfstand zu stellen, sprich: einen solchen Prüfstand überhaupt zu akzeptieren. Das tun nicht nur die Wissenschaftler, das tun alle Menschen mit Vernunft. Vernunft, nicht primär verstanden als eine individuelle Eigenschaft, sondern als eine gemeinsame Errungenschaft, als ein Metier, das tägliches intellektuelles Training verlangt. Maxime: Die eigene Meinung ist antastbar. Das Metier hat eine lange, aber prekäre Tradition. Sie verkümmert im Basar zusehends. Und mit ihr ein robuster Meinungskonsens, der Boden der Res publica. Denn wohin man blickt: Manisch Überzeugte allenthalben. 





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