Mittwoch, 29. September 2021




NZZ, 25.9.2021

Die neue Normalität heisst Komplexitätskrise 

In bestimmten Phasen des Zweiten Weltkriegs schickten die Briten täglich Bomber über den Ärmelkanal. Die Flugzeuge kehrten meist mit vielen Einschusslöchern zurück. Um die Maschinen zu verstärken, panzerten die Techniker sie an Stellen mit der  grössten Löcherhäufigkeit. Wider Erwarten nützte das jedoch kaum. Der amerikanisch-österreichische Statistiker Abraham Wald – so die Legende – machte daraufhin einen kontraintuitiven Vorschlag: Panzert die Maschinen an den Stellen mit den wenigsten Einschusslöchern. Seine Begründung: Maschinen mit sichtbarem Schaden sind wahrscheinlich an harmlosen Stellen getroffen worden, sonst wären sie gar nicht zurückgekehrt. Die verletzlichsten Stellen liegen daher nicht im Sichtbaren. 


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Der Fall verlockt zu einer Analogie. Unsere hochvernetzte Welt ist eine Maschine mit sehr vielen Schwachstellen. Die sichtbaren Einschusslöcher in der Pandemie sind das Virus, seine Varianten und ihre Übertragung. Erwartungsgemäss mobilisiert und intensiviert man die Forschung in den einschlägigen Disziplinen: Virologie, Immunologie, Epidemiologie, Pharmakologie. Die Hoffnung auf eine kurzfristige Lösung der Krise baut darauf. Aber wie steht es mit der längerfristigen Lösung? Wie steht es mit der Erkennung von weiteren Auswirkungen der Pandemie, generell von unsichtbaren verletzlichen Stellen in jenem komplexen globalen System, das heute die Länder des Planeten verbindet? 


Könnte sich 2020 immer wieder ereignen? Fragen nach unsichtbaren Schwachstellen werden zweifellos künftig im Fokus stehen. Das heisst: Komplexe Systeme verlangen nach einer ihnen angemessenen Erkenntniseinstellung. Der Mathematiker John Allen Paulos hat sie prägnant um-schrieben: Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist Ungewissheit; und das Wissen, wie mit Unsicherheit umzugehen ist, bietet die einzige Sicherheit. Nennen wir die Einstellung Risiko-Agnostizismus. Betrachten wir an vier Schlüsselmerkmalen komplexer Systeme, was das konkreter heisst.


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Ein erstes, trivial erscheinendes Merkmal ist die kollektive Kopplung der Komponenten. Bleiben wir hier bei der «Komponente» Mensch. Menschen agieren gekoppelt, das heisst ihre Wahrnehmungen und Handlungen hängen von den Wahrnehmungen und Handlungen anderer ab. Wenn mein Verhalten Wirkung beim anderen zeigt, kann die Wirkung wiederum mein Verhalten beeinflussen. Das führt oft zu einer rückgekoppelten Kollektivdynamik, die sich nicht linear aus den Einzeldynamiken zusammensetzt. Zum Beispiel bei Panikkäufen. Ich sehe, wie jemand Klopapier hamstert, was bewirkt, dass ich auch hamstere, was Ursache für eine Drittperson sein kann, zu hamstern, was mich womöglich veranlasst, noch mehr zu hamstern … ad infinitum. Es wäre irre-führend, zu sagen, das Virus sei die Ursache. «Ursache» ist vielmehr das ganze System.


Damit hängt ein zweites Merkmal zusammen. Komplexe Systeme unterliegen nicht deterministischen Gesetzen. Aber sie haben durchaus eine Geschichte. Das heisst, sie sind zu dem geworden, was sie sind, aufgrund eines ganz spezifischen kontingenten Entwicklungspfades. Dadurch wird es schwierig, vorauszusagen, wie sich das System weiterentwickelt. Insbesondere erweist sich die Annahme als falsch und oft fatal, die Vergangenheit eines komplexen Systems halte die beste Information für die Zukunft bereit. Diesen Fehlschluss erleben wir gegenwärtig brutal in Fiasko von Afghanistan. Die westliche Hauptstrategie orientiert sich seit zwanzig Jahren rückwärts am letzten «üblen» Weltereignis, am 11. September 2001. Terrorismusbekämpfung lautet das primäre Ziel. Nun ist der Terrorismus sicher ein globales Übel, aber das Fokussieren auf ein einziges Weltereignis erzeugt blinde Flecken für andere bestehende und vorausliegende Übel in Ländern der Dritten Welt: Mangelnde Bildung und Gesundheitsfürsorge, korrupte Eliten und Kader, Armut, Hunger, «Disruptionen» von eingewurzelten Wirtschaftszweigen, Abhängigkeit von globalen Märkten.  Bezeichnend die Aussage des US-Befehlshabers der Region: «Was ich heute über Afghanistan weiss, kommt nicht einmal in die Nähe dessen, was ich vor 180 Tagen wusste.»


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Ein drittes Schlüsselmerkmal komplexer Systeme sind die nicht-stationären Gleichgewichtszustände. Wir vernehmen täglich aus den Medien, wie Regierungen den R-Wert unter 1 zu drücken suchen. Der Wert funktioniert wie ein sozialer Thermostat, der die Infektionsrate auf einem be-stimmten Niveau halten und derart einen Ausgleich zwischen freiem und eingeschränktem Handeln gewährleisten soll. Dieses Gleichgewicht ist aber, wie wir alle feststellen, ständig gefährdet, weil es nicht allein vom R-Wert abhängt. So haben Massnahmen wie Social Distancing durchaus die Infektionsraten heruntergedrückt, mit nicht intendierten Folgen allerdings, wie Unterbeschäftigung von ganzen Berufszweigen, Marktinstabilitäten, Zunahme psychischer Störungen oder häuslicher Gewalt, um nur einige zu nennen.


Verwandt mit diesem Merkmal ist ein viertes, der sogenannte «schwarze Schwan»: seltene Ereignisse, die an den Rändern einer Normalverteilung liegen. Sie stören die Durchschnittsordnung kaum. In komplexen Systemen kann jedoch ein einziges unwahrscheinliches Randereignis extreme, folgenreiche Wirkungen zeitigen. Die Attentate auf das WTC 2001 und die Finanzkrise 2008 waren schwarze Schwäne. Sie lösten eine Kaskade unvorhersehbarer Folgen aus, quasi ein Geschwader sekundärer und tertiärer schwarzer Schwäne. Der Klimawandel ist zwar kein schwarzer Schwan (er wurde schon seit langem voraus¬gesehen). Aber er hebelt zum Beispiel Trocken- oder Regenperioden zu unerwarteten Extremereignissen hoch, wie zum Beispiel jetzt die Sintflut in New York zeigt. Tückisch an schwarzen Schwänen ist, dass wir uns darauf nicht genügend vorbereiten können. Wie gesagt: Die verletzlichsten Stellen liegen im Unsichtbaren.


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Die ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts definieren eine historische Erkenntniskrise. «Komplexitätskrise» nennt sie David Krakauer vom Santa Fe Institute in New Mexico. Sie bedeutet keineswegs Defätismus angesichts der grossen Risiken. Sie verlangt nur, diese Risiken in ei-nem neuen Licht zu sehen -  eine «Konversion» zum Agnostizismus. Man kann die Komplexitätskrise auch als Syndrom einer kritischen Entwicklungsphase der Technologie interpretieren. Traditionelle Technologie baut auf das Paradigma der planenden Vernunft: auf den Entwurf spezifischer Funktionen, der Vorausschau, Simulation, Kontrolle. Das genügt bei komplexen Systemen nicht. Sie fordern eine neuen Typus von Technologie: emergente Technologie (emergent engineering). Sie berücksichtigt a priori Unvorhersehbarkeiten und Eigendynamiken eines Systems. Sie operiert nicht mit einem einzigen Plan, sondern mit einem Spektrum von Szenarien, in denen unerwartete Ereignisse «emergieren» können: unbekannte Unbekannte. 


Wir kennen dafür ein unübertreffliches Vorbild: die evolutionäre Ingenieurin Natur. Sie arbeitet ohne Masterplan, sie wurschtelt sich je nach Umständen durch, und sie bastelt dabei stupend funktionstüchtige Strukturen. Ihr Rezept lautet Robustheit und Anpassungsfähigkeit. Robustheit bedeutet: Komplexe Systeme funktionieren auch dann, wenn Schlüsselkomponenten gestört oder beschädigt sind. Ein Grund dafür sind die Redundanzen in den Systemen. Gene zum Beispiel haben «Backup-Kopien». Wenn sie beschädigt sind, können die Duplikate die ausfallenden Funktionen übernehmen. Anpassungsfähigkeit bedeutet: Komplexe Systeme verfügen über einen Lernmechanismus. Im Falle von neuen Herausforderungen ändern sie ihn in kleinen Schritten, was zu neuen Funktionen führen kann. Die kontinuierliche Konkurrenz beider Strategien garantiert letztlich die äonenlange Persistenz und die immense Diversität der natürlichen Arten. Es ist, als wäre die Natur immer schon auf Ungewissheit eingestellt. Das Defizit traditioneller Technologie liegt so gesehen in ihrer «Künstlichkeit». Höchste Zeit, die Evolution stärker als Vorbild schätzen zu lernen. Vielleicht ist das die Lektion der Mikrobe. 









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