Mittwoch, 13. Januar 2021

Doppelklosettpapierrollenhalter




Drei Algorithmen des Klopapiergebrauchs

Klosettpapierhalter sind einfache Vorrichtungen. Aber sie haben ihre Tücken. Mitunter „spenden“ sie kein Papier mehr. Was tun? Nun, meist haben wir ein Ersatzlager an Rollen in Griffnähe. Das ist nach wie vor die einfachste Behebung des Mangels. Nun gibt es aller-dings Erfindernaturen, die sticht der Hafer. Sie wollen ein leicht komplizierteres Design anfertigen: den Doppelrollenhalter. Die Idee ist auf Anhieb plausibel. Zwei Rollen bedeuten doppelten Vorrat. Aber welche Rolle benutzt man nun zuerst? Beide können ja zur gleichen Zeit leer werden, selbst wenn es unter Umständen dazu die doppelte Zeit braucht. Wie also verwenden wir das Papier, so dass möglichst immer vorrätiges da ist? Drei Algorithmen des Gebrauchs bieten sich an:

Nimm zufällig Papier

Nimm immer Papier von der grösseren Rolle

Nimm immer Papier von der kleineren Rolle.


Der Vergleich der Algorithmen

Die wenigsten von uns verschwenden wohl beim Hinternabwischen Gedanken an den optimalen Gebrauch von Klosettpapier. Wir verwenden den Zufallsalgorithmus. Eine schlechte Wahl, denn so benützt man beide Rollen wahrscheinlich etwa gleich häufig, was darauf hinausläuft, dass beide auch etwa zu gleicher Zeit leer sind. Und gerade das wollte man ja verhindern. 


Nicht besser fährt man mit dem Algorithmus der grösseren Rolle (gesetzt, es gebe einen wahrnehmbaren Grössenunterschied). Wir nehmen solange Papier von ihr, bis sie kleiner erscheint als die andere. Nun nehmen wir von dieser Papier, bis sie kleiner erscheint als die erste. Und so weiter. Beide Rollen verkleinern sich etwa mit derselben Rate, vorausgesetzt, wir nehmen stets gleich viel Papier. Das heisst aber: Wenn die eine leer ist, wird auch bald die andere leer sein. Ungünstig. Als am günstigsten empfiehlt sich der Algorithmus der kleineren Rolle. Sie wird immer kleiner und die grössere bleibt als Vorrat bestehen. Sapperlot, wer hätte das gedacht?


Ein Designproblem

Nun, die Designer von Papierrollenhaltern. Sie tüfteln an Geräten herum, um unser Leben möglichst einfach und bequem zu machen. Einfach und bequem – das heisst zunächst einmal: nicht denken. Deshalb baut man den Algorithmus der kleineren Rolle gleich in den Halter ein. Man montiert etwa die Rollen in zwei horizontalen Fächern, die sich mit einem Schieber abdecken lassen. Wenn die Gebrauchsrolle leer ist, bewegt man einfach den Schieber und öffnet das Ersatzfach. Raffinierter – sprich: denkentlastender -  ist freilich die Vorrichtung, welche die Ersatzrolle mit einer Sperre belegt, die sich automatisch öffnet, wenn die Gebrauchsrolle leer ist. Vielleicht könnte auch ein Sensor in der Gebrauchsrolle der Ersatzrolle signalisieren: Mach dich bereit fürs sanitäre Geschäft! Der Phantasie sind im Zeitalter der smarten Geräte fast keine Grenzen gesetzt. Fragt sich nur, welchen Vorteil wir daraus ziehen. Statt den Schieber zu betätigen, könnten wir genau so gut die Rolle im einen Fach ersetzen. Und warum baut man überhaupt einen Doppelrollenhalter?


Das Beispiel des Parkplatzautomaten

Gute Frage. Spezialvariante einer allgemeineren Frage: Warum so kompliziert, wenn es ein-fach auch ginge? Sie stellt sich heute bei vielen technischen Vorrichtungen. Man könnte von der Vereinfachkomplizierung sprechen. 


Betrachten wir ein altbekanntes Beispiel, den Parkplatzautomaten. Wer kennt die Szene nicht: Man parkt den Wagen in der Untergeschossgarage, geht einkaufen, kehrt zurück, bezahlt und wartet, dass der Automat das abgestempelte Ticket ausgibt. Er tut es nicht. Man liest die Anweisung, stellt fest, dass man apparatekonform vorgegangen ist. Man sucht nach Korrekturknöpfen, wirft erneut Münzen in den Schlitz, tritt vielleicht, schon einigermassen entnervt, das Ding, aber es verharrt in metallener Unerschütterlichkeit. 


Es muss nicht der Parkplatzautomat sein. Maschinen sind dumm. Das ist ein Pleonasmus. Was anderes erwarten wir eigentlich? Selbst „smarte“ Geräte sind nicht smart nach menschlichen Massstäben, und das heisst vor allem: nach dem Massstab des Unberechenbaren, Unerwarteten, Uneindeutigen. Maschinen kommen damit schlecht klar (allerdings auch viele Menschen, machen wir uns da nichts vor). Die Designer des Bezahlungsautomaten sind sich dessen wohl bewusst, denn sie haben einen Knopf mit der Aufschrift „Hilfe“ angebracht, auf dessen Druck eine menschliche Stimme Anweisungen gibt. Möglicherweise aktiviert man sogar jemanden vom Pikett (so es dies gibt), um der Maschine mit etwas menschlicher Intelligenz auf die Sprünge zu helfen.


Das Paradox: Effizienz nimmt zu – Verständnis nimmt ab

Dieses Problem der maschinellen Unempfänglichkeit beschäftigt die Designer stark. Sie wollen ja die Geräte „zivilisieren“, ins soziale Leben einführen, als willfährige Diener, Dienstleister, Assistenten, Tröster, Human-Ersatz. Inzwischen beginnen die Maschinen sogar zu „lernen“. Aber sie zeigen ihre Macken auch hier. Sie ziehen unterschiedliche Schlüsse aus Trainingsdaten und ihre Programme entwickeln sich dadurch quasi selbständiger. Im geschichteten Inneren von neuronalen Netzen spielen sich „Entscheide“ ab, zu denen der Programmierer oft nicht durchdringt. Bereits hebt man die Unterart der „erklär-baren“ Künstlichen Intelligenz (KI) hervor, Systeme also, deren „Entscheide“ wir Menschen noch begreifen können. Das führt zum Paradox: Effizienz des Systems nimmt zu – Verständnis nimmt ab. Es mutet fast an, als „verstünden“ die KI-Systeme sich selber am besten. Der Mathematiker John von Neumann – ein Universalgelehrter des 20. Jahrhunderts – hat sogar ein Prinzip formuliert: Das einfachste Modell, das ein wirklich komplexes System vollständig beschreibt, ist das System selbst. Beispiel: lebende Organismen; viel-leicht bald einmal: „lebende“ Artefakte. 


Die Idiotie des Technikdesigns

Maschinen vereinfachen unser Leben auf vielfache Weise. Wenn sie funktionieren. Aber zwischen „Wenn“ und „Wenn nicht“ öffnet sich eine Kluft, und sie weitet sich zunehmend mit der Komplexität technischer Systeme. Die Ingenieurperspektive der inneren Logik des Systems fokussiert naturgemäss auf das Funktionieren. Wenn das System nicht funktioniert, dann liegt dies an den „ungünstigen“ Bedingungen seiner Applikation. Zynisch formuliert: Gäbe es nicht den dummen Nutzer, dann liefe das technische System bestens. Die notorische „Idiotensicherheit“ drückt es ja aus: Man rechnet mit dem Idioten des Technikgebrauchs, nicht mit der Idiotie des Technikdesigns. 


Das ist nicht eine Kritik des Designs. Aber die Ingenieurperspektive genügt nicht mehr. Das Kernproblem liegt anderswo, nämlich in einem technologischen Fortschritt, von dem wir uns noch gar keine klare Vorstellung machen können: Technische Systeme tendieren von einem bestimmten Komplexitätsgrad an zur Undurchschaubarkeit und Unvorhersagbarkeit. Da hilft auch die einfache, bedienbare Oberfläche nicht weiter. Sie wiegt uns ja bloss in der Illusion, die Geräte zu kontrollieren, obschon diese schon längst eine Eigengesetzlichkeit entwickeln. Vom Informatiker Larry Tesler stammt das „Prinzip der Komplexitätserhaltung“: Die Gesamtkomplexität eines Systems ist konstant. Die einfache Interaktion mit dem Nutzer erhöht seine innere Komplexität. Vereinfache einen Systemteil und der Rest wird komplexer. 


Die Geräte sind gegen uns

Auch wenn zahllose kleine Fortschritte – „Tweaks“ - die Geräte anpassungsfähiger und flexibler machen, sollte man den „unberechenbaren“ Charakter des Alltags nicht unter-schätzen, auf den man sie loslässt. Man diskutiert heute die Frage nach der Zulassung einer Technologie, selbst wenn sie noch nicht ausgereift und perfekt ist. Aber die Frage geht von der falschen Prämisse aus. Künftige Technologien werden wahrscheinlich immer weniger ausgereift und perfekt sein. Was also Not täte, wäre ein Paradigmenwechsel, der auf dem Axiom des Nicht-Funktionierens von Technologie basiert. Der englische Satiriker Paul Jennings formulierte dieses Axiom 1963 unübertrefflich konzis: Die Dinge sind gegen uns. Also: Die Geräte sind gegen uns. Das sollte uns nicht einschüchtern und schon gar nicht entmutigen, sie nach bestem Stand des Wissens unter Kontrolle zu halten - wir sollten im Gegenteil eine trotzige Gelassenheit kultivieren. Dazu gehört auch, gelegentlich die Frage zu stellen: Ginge es nicht ein wenig einfacher? Diese Frage entspringt menschlicher Brainware, nicht technischer Software. Also zurück zum Gehirn, dem komplexesten System, das wir bisher kennen.


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