Gekürzte Version in NZZ, 26.8.2017
Vorsicht: Feste Überzeugung!
Truthiness
Heute ist viel die Rede vom gefühlten Wissen: Man weiss
nicht, aber ist überzeugt, zu wissen; Die NASA Das Englische kennt auch ein
Wort dafür: „truthy“; subjektiv als wahr empfunden. Darin manifestiert sich die
Rückseite unserer Vernunft. Sie ist, wenn sie an einer Überzeugung festhalten
will, zu erstaunlich zäher Rafinesse fähig, sei die Überzeugung noch so irrig
oder irrsinnig. „Ausgehend von einem Irrglauben kann uns unerbittliche Logik ins
Chaos oder Irrenhaus führen,“ bemerkte einmal der britische
Wirtschaftstheoretiker John Maynard Keynes. Als ob er die rezente Ökonomie im
Auge gehabt hätte – aber es geht um mehr.
Wir sind schlechte
Falsifizierer
Wir alle haben Überzeugungen, die wir nicht oder nur unter
grösstem Widerstreben aufzugeben bereit sind. Auch nicht, wenn Fakten gegen sie
sprechen. Das sogenannte postfaktische Zeitalter bringt also eigentlich einen
tiefverwurzelten renitenten Charakterzug unseres geistigen Lebens zum Vorschein.
Wir sind schlechte Falsifizierer. Das ist zumal heute darauf zurückzuführen,
dass wir mit dem Wissenswachstum, trotz guter Zugangsmöglichkeiten zum Wissen,
nicht Schritt halten. Der Einbau in unser vertrautes Weltbild entpuppt sich als
verzwickt, weil das Neue sich oft nicht verträgt mit dem Vertrauten. Und wir
können und wollen nicht ständig umbauen. Eher denken wir in der gemütlichen
Balance des Vertrauten falsch, als dass wir die Falschheit entdecken und das
Vertraute in Schieflage bringen.
Der Schuh
der festen Überzeugung
Ebenfalls im Englischen gibt es den Begriff des
„Shoehorning“: Schuhlöffeln. Man bugsiert mit aller Gewalt Fakten in den Schuh
der festen Überzeugung, ob sie nun passen oder nicht. Schuhlöffeln ist ein
definierendes Merkmal von Verschwörungtheorien. Dieser Typus von Theorie
erklärt eigentlich nicht, sondern zementiert eine feste Überzeugung unter der
Vorspiegelung, zu erklären. Verschwörungstheorien stehen seit 9/11 in giftiger
Blüte. Man muss allerdings sorgfältig differenzieren zwischen
Verschwörungstheorien und Theorien von Verschwörungen. Eine seriöse Theorie
versucht das Phänomen Verschwörung zu erklären, ohne dass sie den Anspruch auf
alternativlose Erklärung erhöbe. Sie rechnet also immer mit andern Schuhen
verschiedenster Grösse. Für die Verschwörungstheorie gibt es nur einen einzigen
grossen Schuh, und sie operiert meist mit versteckten unausgesprochene
Prämissen, die deshalb verschwiegen werden, um immun gegen Widerlegungen zu
bleiben. Was man für oder gegen die Theorie ins Treffen führt, verwandelt sie
in Evidenz zu ihren Gunsten. Ihr Makel ist nicht, dass sie nicht schlüssig, sondern
dass sie zu schlüssig ist. So könnte eine Kurzanleitung für Irrsinn lauten:
Halte dein Weltbild konsistent; auf Kosten der Anpassung an die Welt.
Denialism
– sich von der Wissenschaft nichts sagen lassen
Heute gehen Verschwörungstheorien eine unheilige Allianz mit
einer antiwissenschaftlichen Haltung, dem „Denialismus“, ein. Einer der
spektakuläreren jüngsten Fälle ist die Anti-Impf-Bewegung. Quecksilber kann
schwere Schäden im Menschen anrichten. In gewissen Impfstoffen ist das
quecksilberhaltige Konservierungsmittel Thiomersal enthalten, das bei
Kleinkindern neurotoxische Wirkung gezeigt hat. 1998 postulierte der Arzt Andrew
Wakefield auf dieser Basis einen kausalen Zusammenhang von MMR-Impfstoff (gegen
Masern, Mumps und Röteln) und Autismus. Er ist zwar bis heute nicht
nachgewiesen - nachgewiesen wurden Doktor Wakefield vielmehr unlautere
Forschungsmethoden. Aber viele Leute haben die Überzeugung zementiert:
Quecksilber, also Gefahr.
Das geht so weit, dass Celebritys heute in Fernsehshows
ihren ganzen Glamour der Beschränktheit gegen wissenschaftliche Argumentation auffahren.
Die Schauspielerin Jenny McCarthy, Mutter eines autistischen Sohns, antwortete
2007 auf die Frage Oprah Winfreys, welche Evidenz sie denn für ihre
Anti-Impf-Haltung habe: „Meine Wissenschaft heisst Evans, und er lebt zu Hause.
Das ist meine Wissenschaft.“ Und: „Ich habe meinen akademischen Grad von Google.“
Überzeugtheit
übertrumpft Argument
Frau McCarthy mag nicht gerade mit den Voraussetzungen
intelligenter Wissenschaftskritik gesegnet sein. Aber sie ist Symptom eines
bedenklichen Phänomens: Überzeugtheit übertrumpft Argument. Selbst ein Robert Kennedy
junior, der immerhin einen anderen Abschluss als jenen der Google-Universität
vorweisen kann, versteigt sich zum Verdacht, der offizielle Bericht über den
Zusammenhang zwischen Impfstoff und Autismus sei ein „Versuch, die Risiken von
Thiomersal weisszuwaschen“. Sieht man die verschwörungstheoretischen
Nebelschwaden aufsteigen? Doktor Wakefield hat die Zeichen des postfaktischen
Zeitalters jedenfalls erkannt. Im Propagandafilm „Vaxxed: From Cover-up to
Catastrophe“ (deutsch: „Vaxxed: Die schockierende Wahrheit“) aus dem Jahre 2016
bereitet er nun die ganze Story wieder auf. Was macht also einer, der mit
seiner festen Überzeugung wissenschaftlich nicht reüssiert? Er erzählt die
eingängige Geschichte von David gegen Goliath. Wenn er schon keinen Kausalzusammenhang
zwischen Impfen und Autismus nachweisen konnte, dann immerhin einen Verschwörungszusammenhang
zwischen seinem Scheitern und der Industrie. Damit reüssiert er sicher „beim
Volk“.
Hirngeschichten
Da ja heute die Neurobiologen zu allem ihren Senf beigeben, dürfte
es vielleicht interessieren, was sie zu dieser intellektuellen Aberration zu sagen
wissen. In ihrem Buch „Denying to the Grave“ schreiben Sara und Jack Gorman:
„Wenn in uns eine Idee das Gefühl der Belohnung weckt, dann suchen wir dieses
Gefühl immer wieder. Und jedesmal wird das Belohnungszentrum – das ventrale Striatum,
spezifischer: der Nucleus accumbus – aktiviert, worauf die anderen instinktiven
Teile des Hirns lernen, die Idee zu einer fixen Idee zu verfestigen. Versuchen
wir, unsere Meinung zu ändern, warnt uns ein Angstzentrum wie die anteriore
Insula vor anstehender Gefahr. Der mächtige dorsolaterale präfrontale Cortex
kann diese primitive Reaktion ausschalten und Vernunft und Logik zu ihrer
Geltung verhelfen, aber es handelt sich um eine langsame Aktion, und sie
verlangt ein erhebliches Mass an Entschlossenheit und Anstrengung. Deshalb ist
es unnatürlich und unangenehm, unsere Überzeugungen zu ändern, und darin
spiegelt sich die Arbeitsweise unseres Hirns.“
Die
Ironie der Postmoderne
Hübsch, nicht? Jedenfalls scheint es, dass wir, indem wir
gegen festes Überzeugtsein ankämpfen, eigentlich immer auch gegen unsere
Biologie kämpfen: Geist gegen Gehirn sozusagen. Man muss sich freilich hüten,
daraus eine biologische Apologie des festen Überzeugtseins herauszulesen. Im
Gegenteil wird nun erst recht die kulturelle Aufgabe sichtbar, dagegen anzutreten.
Zumal in einem Zeitalter der Serienlügner und Berufs-Konfabulierer, die
allesamt ihren Bullshit mit dem Stempel der Überzeugtheit verzetteln.
Darin liegt die tiefe Ironie unseres Zeitalters. Das
postmoderne Denken machte der Wissenschaft ihren Status als Statthalterin der
Wahrheit streitig. Was eine „arrogante“ Geschichtsschreibung als überwundenen
Aberglauben abtat, sah sich auf einmal zu einer „alternativen“ Wissensform
geadelt: das Wissen nichtwestlicher Kulturen, Naturmagie, Astrologie oder Intelligent
Design traten neben Kosmologie, Quantentheorie, Mikrobiologie oder statistische
Prognose. Damit verflachte die herkömmliche erkenntnistheoretische
Wissenshierarchie, indem nun alles im Grunde als „Meinung“ galt. Die Ironie
liegt darin, dass umgekehrt jede Weltanschauung im Basar der Meinungen ihre
eigene „Gewissheit“ reklamieren konnte. Die Wissenschaften sollen sich nur gar
nichts auf ihr „elitäres“ Wissen einbilden, jede hergelaufene Absolventin der
Google-Universität hat das Recht auf Wissen. Hauptsache, sie ist überzeugt
davon.
Der Irrsinn wird gesellschaftsfähig
Nicht Lügen oder bewusste Faktenfälschungen stellen im
Grunde die erkenntnistheoretische Gefahr dar, sondern Unbeirrbarkeit. „Truthiness“
zersetzt den eminenten sozialen Wert der Wahrheit. Denn Wahrheit hat immer auch
die Funktion einer vermittelnden Bürginstanz innegehabt, an der wir unsere
Überzeugungen eichen und messen. Deshalb konnte man Leute, die unbeirrbar ihre
festen Überzeugungen verzapfen, immer mal an den Pranger der Lächerlichkeit,
Blödheit oder des Irrsinns stellen. Das ist heute nicht mehr so ohne weiteres
möglich. Verschwindet die Bürginstanz oder verliert sie an Bedeutung, verliert
auch der Pranger seine Funktion. Und dann kommt es so weit, dass der Irrsinn
gesellschaftsfähig wird: dass ein verquaster rechter „Leninist“ mit Namen Steve
Bannon zum Berater im Oval Office avanciert; oder ein Paranoiker wie Alex
Jones, der auf seiner Website Infowars.com übelste Verschwörungstheorien
kolportiert, das geneigte Ohr des Obersten Befehlshabers der amerikanischen
Armee findet. Die Realität hat definitiv das Gepräge einer Dürrenmatt-Groteske angenommen.
Ja, sie übertrifft sie eigentlich.
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