Was neue Arten
für Biologen, sind neue Krankheiten für Mediziner. In beiden liegt der Reiz,
ihre Entdecker durch Namensnennung zu verewigen. Im Jahre 1886 erblickte der
junge Arzt Philippe Tissié eine solche Gelegenheit beim Fall eines gewissen
Jean-Albert Dadas, über den er eine Dissertation schrieb: „Les Aliénés voyageurs“,
also zu Deutsch: „Geistesgestörte Reisende“.
Dadas, Angestellter einer Gasgesellschaft
in Bordeaux, hatte erstaunliche Fussreisen durch Europa unternommen. Sie führten ihn über Prag,
Berlin, Posen nach Moskau, wo er in Verdacht geriet, einem anarchistischen
Zirkel anzugehören (Zar Alexander II.
war gerade ermordet worden), schliesslich endeten sie unter abenteuerlichen
Umständen in Konstantinopel. Weil Dadas auf seinen Eskapaden oft von Amnesie
befallen war, musste Tissié seine „geistesgestörte“ Reise mithilfe von Hypnose
rekonstruieren.
Dadas war ein „Dromomaniak“, ein zum Wandern und Reisen
Getriebener (ähnlich wie Forrest Gump im gleichnamigen Film, der aus
Liebeskummer durch ganz Amerika joggte, an der Spitze eines mithechelnden
Trosses von Aficionados). Mit seinem „geistesgestörten Reisenden“ erregte
Tissié die Aufmerksamkeit der Psychiater in ganz Europa. Der grosse Neurosenmediziner
Charcot wartete bald mit einem eigenen Fall von „Fugue“ oder „Dromomanie“ auf,
wie das Syndrom genannte wurde. Auch deutsche und italienische Ärzte
beobachteten plötzlich Anfälle von „Wandertrieb“ bzw. „determinismo
ambulatorio“. Charcot vermutete in der Störung einen lang anhaltenden
Epilepsieanfall. Die Diskussion um Dromomanie war freilich nach zwanzig Jahren
abgeklungen, Spötter würden wohl sagen, dass es sich hier um jenen Typus von
Gebresten handelt, die nur existieren, weil es einen Namen für sie gibt.
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Wie auch immer, das Thema reizt: Reisen als
Krankheit, als „Störung“, als Sucht? Die wiederkehrenden Last-Minute-Anfälle
europäischer Normalbürger, ihren Wohn- und Arbeitsort fluchtartig zu verlassen,
um sich in Kenia auf Safari zu begeben, in Korallenriffs auf den Seychellen zu
tauchen, asiatische Tempelruinen zu bestaunen – kippt unsere Hypermobilität
allmählich um in Dromomanie?
Das Motiv der (vergeblichen) Flucht ist schon lange
bekannt. Es wurde von Hans Magnus Enzensberger in seinem mittlerweile
klassischen Essay „Theorie des Tourismus“ vor über fünfzig Jahren beschrieben.
Und im Grunde hat sich seither kaum viel geändert. Im Gegenteil: Der Tourismus
ist als jene globale Tretmühle konsolidiert, der zu entfliehen er uns verspricht.
Aber er treibt nicht Handel mit der Flucht, sondern mit dem Versprechen. Und
dessen Nichteinlösung ist sein Motor. Der Tourist weiss das insgeheim, wie der
Süchtige in der Regel von seiner Sucht weiss. Enzensberger: „Die Trostlosigkeit
ist dem Touristen vertraut. Blind greift er nach den heftigsten Mitteln, um die
Langeweile zu verscheuchen, obwohl er doch im Grunde von der Vergeblichkeit
seiner Flucht weiss, noch ehe er sie unternimmt.“
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Früher bewegte man sich, um Fremdes kennen zu lernen, heute holt man
es sich per Mausklick heran. Kompensieren wir diese Immobilitat durch dromomanisches
Herumreisen, wie der Texaner Jack Vroom, der
sich für eine halbe Million Dollar ein lebenslang gültiges Ticket bei der
American Airlines gekauft hat und seither herumfliegt, ohne jemals wirklich
irgendwo anzukommen? Braucht die
Tourismus-Maschine, pointiert gefragt, den überreizten, d.h. im Grunde
unbefriedigten, gelangweilten Konsumenten als universelles Schmiermittel? Denn
wie der Konsum einer beliebigen Ware soll ja auch der Konsum einer Reise
Bedürfnisse gerade nicht befriedigen oder nur soweit befriedigen, dass neue Bedürfnisse genährt werden. Zum
Tourismus gehört die Rückkehr nach Hause. Die Reise ist eben eine „Tour“, und
vor allem: ein Zugewinn an Bedeutung
dieses Zuhauses - sei es auch nur, dass man es mit Beutestücken in Form
von Souvenirs oder Dias ausschmückt. Aber wenn der Tourist auf Touren gehalten,
die Tretmühle durch Abhängigmachen in Gang gehalten wird, gibt es in diesem
Sinn keine Rückkehr mehr, nur das Immer-weiter-so. Das Fernweh wird zum Wirtschaftsfaktor
par excellence. Die heutige „durchgedrehte“ Reiseindustrie gibt eine tiefe
Unbehaustheit des Menschen zu erkennen. Das Weg-von-hier-wollen kommt nirgendwo
mehr an, weder dort noch hier, weder im Fernen noch im Zuhause. Es läuft leer.
Und gerade eine solche innere Haltlosigkeit ist ein anderer Name für Sucht.
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Ich hüte mich, dem modernen Tourismus pauschal
Suchtcharakter zu unterstellen. Dennoch scheint mir Langeweile darin eine
wesentliche Rolle zu spielen. Sie resultiert aus der Vorhersehbarkeit, dem
Immergleichen des eigenen Lebens. Langeweile und Dromomanie sind insgeheim
verwandt. Der Maler Dino, die Erzählfigur in Alberto Moravias berühmtem Roman
„La Noia“ (Die Langeweile), beschreibt seinen schwachen Vater als Opfer chronischer
Langeweile, der unter einem Ehekoller litt und deshalb von seiner Frau Geld
auslieh, um sich auf Reisen zu flüchten. Ein Dromomaniak? Dromomanie kann einen
vielleicht gerade dann am heftigsten befallen, wenn der Bewegungsraum sehr
eingeschränkt ist. Zum Beispiel im Gefängnis. Albert Speer, der Nazi-Architekt,
plante in seiner Zelle akribisch Reisen um die halbe Welt. Er schritt im
Innenhof des Gefängnisses Berlin-Spandau die Strecke von Berlin nach Heidelberg
ab, als Willensübung gegen Langeweile, wie er das nannte. Speers Dromomanie
wuchs ins Extravagante. Er entwarf minutiös aus Reiseführern, Enzyklopädien und
Karten imaginäre Reisen nach Asien, über Sibirien nach Nordamerika, bis nach
Guadalajara in Mexiko. Er berechnete jeden zurückgelegten Kilometer. Aber
selbst das vertrieb seine Langeweile nicht. „Die Monotonie kann kaum in meinen
Notizen wiedergegeben werden,“ schrieb Speer, „die immerwährende Gleichheit von
mehr als sechstausend Tagen ist unbeschreibbar.“
Auf Reisen suchen wir Abstand vom „Gefängnis“ unseres Alltags und oft
manövrieren wir uns ironischerweise gerade durch die zähe Verbissenenheit der
Suche – wie beim Treten im Sumpf -
tiefer in diesen Alltag hinein. Unsere Gewohnheiten sind die treuesten –
und lästigsten - Reisebegleiter. Besonders heute, wo diese Gewohnheiten
zunehmend durch mobile Gadgets bestimmt werden. Man schaut sich in Angkor Wat
nicht die Tempelruinen an, sondern die Bilder von Angkor Wat auf dem iPhone.
Reiseunternehmer bieten inzwischen Kreuzfahrten für Workaholics an, die auf dem
Schiff ihrer Arbeitswut die Zügel schiessen lassen können. Vielleicht setzte
der Tourismus früher die Normen des Gewöhnlichen ausser Kraft, heute zementiert
er sie.
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Das ist kein kulturpessimistischer Befund. Der Tourismus hat zwar das
Reisen von Grund auf verändert, nun kommt es darauf an, ihn neu zu interpretieren.
Wie? Heinrich Heine, einer der ersten und sensibelsten Tourismuskritiker, hat
einen bedenkenswerten Ansatz vorgelegt. In seiner „Harzreise“ schreibt er: „.. unser Leben in der Kindheit (ist) so
unendlich bedeutend, in jener Zeit ist uns alles gleich wichtig, wir hören
alles, wir sehen alles, bei allen Eindrücken ist Gleichmässigkeit statt dass
wir späterhin absichtlicher werden (..), das klare Gold der Anschauung für
das Papiergeld der Reiseprospekte mühsam einwechseln..“
Ich habe Heines Text leicht abgeändert, „Reiseprospekt“ für
„Bücherdefinition“ eingesetzt. Bedeutung und Brisanz bleiben erhalten. Denn die
Suche nach dem „klaren Gold der Anschauung“ ist die Suche nach dem verlorenen
Blick, welcher uns Orte und Dinge nicht in vorfabrizierten Wahrnehmungsmustern,
sondern in ihrer Andersheit, in ihrer Neuheit und Unverbrauchtheit, in ihrem
„paradiesischen“ Zustand zeigt. Natürlich gibt es diesen Zustand nach dem
„Sündenfall“ des modernen Tourismus nicht mehr. Aber vielleicht können wir uns
ihm auf andere Art nähern, dadurch nämlich, dass wir uns ersatzweise des
touristischen Blicks entwöhnen, jede Person auf ihre Weise. Ich tue das zum
Beispiel, indem ich mir auf Reisen stets die kleine Übung auferlege, einmal
auch etwas vom „Sehensunwürdigen“ der Gegend zu sehen, wo ich mich aufhalte:
unscheinbare Winkel einer Stadt, öde suburbane Siedlungen, Industriebrachen,
Sperrgebiete, Niemandsland – „Nicht-Orte“, hat sie der französische Soziologe
Marc Augé genannt. Wo es nichts zu sehen gibt, lernt man wieder sehen, mit eigenen
Augen.
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Das althochdeutsche Wort „risen“ bedeutet „sich erheben“, „steigen“
(freilich auch „(nieder)fallen, stürzen“; d.h. Reisen ist nicht nur ein
Weg-und-Zurück, sondern immer auch ein Auf-und-Ab). So gesehen, müsste Reisen
als Sich-erheben aus Alltäglichem, Gewohntem, Angehocktem verstanden werden;
auch als Entfremden, nicht zuletzt von sich selbst. Das wohl kostbarste Souvenir,
das wir von einer Reise zurückbringen, ist das Stückchen Fremdheit, das uns
einen andern Blick auf die Welt und uns selbst ermöglicht; die Einsicht, dass
alles anders sein könnte, als es ist. Eigentlich brauchen wir dazu keine Ferne
und Exotik. Reisen in diesem Sinn kann ich von einer Tramendstation zu andern.
„Panama ist überall“, schrieb der Kinderbuchautor Janosch – eine wunderbare
Losung. Wenn mir die Kindlichkeit gelingt, Panama überall zu sehen, gewinnt die
Welt wieder etwas von ihrem fremden, widerständigen, unverbrauchten Charakter
zurück, der uns durch Gewohnheit, Trägheit und sagen wir es deutlich: auch
durch Reisen abhanden zu kommen droht.
Kurz: Wer reisen
kann, kann dies auch ohne zu reisen.
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