Waldaffen, die keinen Augenkontakt haben, sichern sich ihren sozialen Zusammenhalt durch permanentes Geschnatter. Primatologen nennen dies „hedonistische“ Bindung, also Zusammenhalt durch Lust und Freude an der Kommunikation. Affen, die sich verstreut in der offenen Savanne bewegen, Meerkatzen oder Paviane zum Beispiel, suchen diesen Zusammenhalt durch den ständigen Augenkontakt mit dem Alphatier, das sozusagen das Zentrum der Aufmerksamkeit bildet. In der Sprache der Affenkunde: „agonistische“ Bindung, also Zusammenhalt durch Kampf, Konkurrenz, Dominanz, Subordination. Auch Tiere am Rand der Gruppe schauen ständig, was im Zentrum vor sich geht, und manche Affen sollen deswegen sogar das Fressen vergessen.
Der Mensch des Netzzeitalters passt gut zu diesem
Primatenverhalten. Haben wir keinen Augenkontakt im Dschungel der Information, greifen
wir zum Handy und schnattern mit den andern Affen. Und wenn wir nicht
schnattern, starren wir auf Alpha-Primaten in den Medien, die neuerdings
„Celebrities“ genannt werden. Eine Celebrity ist eine Person, die es in den
Medien schafft, eine Bindungskraft auf die frei flottierende Aufmerksamkeit der
Konsumentenmasse auszuüben. In der Physik nennt man eine solche Kraft zentripetal,
weil sie auf ein Zentrum hin wirkt. Eine Celebrity ist also das Resultat eines
gebündelten zentripetalen Starrens der medialen Affenherde. Für die Bündelung
sorgen traditionell Klatschpresse, TV-Show, Paparazzi: die ganze Celebrity-Maschinerie.
Neu ist heute, dass Celebrities nicht notwendig Berühmtheiten im Sinne von
Rock-, Sport- oder Filmgrössen sind. Der Rekrutierungskreis hat sich mit den
neuen Foren wie Facebook, Twitter oder Youtube enorm vergrössert, die Möglichkeiten,
auf dem Aufmerksamkeitsmarkt zu einem volatilen Objekt der zentripetalen
Begierde zu werden, sind ins Unüberblickbare gewachsen.
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Der Überfluss an Information hat
Aufmerksamkeit zu einem knappen Gut werden lassen, mit dem wir wirtschaften
müssen. Kommunikation basiert auf dem Austausch von Aufmerksamkeit, auf einem „Ausgeben“
und „Einnehmen“ von Beachtung. Die ökonomische Konnotation dieses fundamentalen
intellektuellen und emotionalen Tauschhandels macht ein Sprachenvergleich
einsichtig: auf Deutsch „schenkt“ man, auf Englisch „zahlt“ man Aufmerksamkeit
(pays attention). Es erstaunt deshalb nicht, dass sich so etwas wie ein neues
Paradigma in der Beschreibung und Erklärung menschlicher Transaktionen
etabliert hat: die „Oekonomie der Aufmerksamkeit“. Eingeführt wurde der Begriff
in den 1990er Jahren vom amerikanischen Physiker Michael A. Goldhaber, in
Europa vom Architekten und Oekonomen Georg Franck. Letzterer prägte
insbesondere das Konzept des „mentalen Kapitalismus“, also einer immateriellen
Wirtschaftsform, die sich zunehmend unseres kulturellen und sozialen Lebens
bemächtigt, mit den Charakteristiken des alten, materiellen Kapitalismus, als
da sind: Beachtung anstelle von Geld als universeller Währung, Akkumulation von
Aufmerksamkeit durch die Stars als „Kapitalisten“, Ausbeutung in Gestalt jener grossen Masse von Fans, die
keine Beachtung horten, sondern immer nur Beachtung ausgeben.
Die Engführung von Oekonomie und Geist schärft zweifellos den
Blick auf eine neue soziale und kulturelle Dynamik der Mediengesellschaft, die
sich scheinbar immer weiter von ihrer materiellen Basis entfernt. Aber sie
blendet zugleich ein anderes Problem aus. Aufmerksamkeit und Umgebung, auf die
sie gerichtet ist, gehören zusammen. Mit der Umgebung ändert sich auch die Aufmerksamkeit.
Die Frage stellt sich, welche Arten von Aufmerksamkeit in den neuen medialen
Umwelten gedeihen und welche verkümmern, eine Frage der Oekologie also. Aufmerksamkeit
ist nicht einfach Ressource, sie ist die mentale Raffinerie, die den Rohstoff Information
zu Wissen verarbeitet, das heisst, zu Information, die sich in mir setzt. Aufmerksamkeit
ist ein Vermögen, das gelernt und gewartet werden muss. Traditioneller Ort
solchen Lernens ist die Schule. Seit dem späten 18. Jahrhundert gehört die Aufmerksamkeit
zum pädagogischen Schleifstein bürgerlicher Bildung und Disziplin. Wie steht es
mit dieser Bildung und Disziplin beim Netzbürger?
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Seit einiger Zeit zeichnet sich in der Schule ein Umbruch ab,
den man in der eingeführten Terminologie bündig so umreissen könnte: Die
Lehrperson hat als Celebrity des Unterrichts ausgedient. Sie steht nicht mehr
im Fokus der zentripetalen Schülerblicke, verdient nicht mehr „umsonst“ die
Aufmerksamkeit der Klasse. Der Spiess scheint sich sogar zu wenden. War es
einst der Schüler, der durch sein Verhalten und seine Leistung die
Aufmerksamkeit des Lehrers zu verdienen hatte, so ist es heute vermehrt der
Lehrer, der bei seiner Klientel um Beachtung buhlen muss.
Der Schüler, der während des Unterrichts klandestin die
Gratiszeitung liest oder sein iPhone bedient, ist schon fast eine Emblemfigur.
Dass Heranwachsende heute ihre Sozialisation und Enkulturation vorzugsweise
über das Unterhaltungs-, Spiel- und Kommunikationsangebot der digitalen Medien
erfahren, steht ausser Frage. Bildung migriert sozusagen von den physischen
Lehrpersonen, Lehrbüchern und Klassenzimmern hinüber zu den selbstgewählten
virtuellen Plattformen. Das Bildungsmonopol der Schule bröckelt, und die
Promotoren des Lernens 2.0, die sich als neue Elite verstehenden „Digerati“,
feiern das Netz grosssprecherisch als Emanzipation von alten „diktatorischen“
Erziehungsstrukturen.
Genau an
dieser Stelle aber muss die Frage nach den Formen der Aufmerksamkeit in den
neuen Medien ansetzen. Genauer: Wir brauchen eine Komparatistik der
Aufmerksamkeiten, dies umso mehr, als sich mit den elektronischen Medien nun
der Vergleich mit etwas wirklich Anderem anbietet. Falsch wäre es, daraus
auf das Verschwinden der herkömmlichen Medien, speziell des Buchs, zu
schliessen. Ich halte eine andere Entwicklung für wahrscheinlicher. Traditionell
gibt es zwei Textaufmerksamkeiten, nennen wir sie die stilistische und die
substanzielle. Man kann auf den Text
selbst (seinen Stil) und man kann durch
den Text auf den Inhalt (seine Substanz) aufmerksam sein.
Die elektronischen Medien haben diese beiden
Grundeinstellungen erweitert, vor allem in der stilistischen Dimension. Die
multimodalen Umgebungen gestatten einem Autor nunmehr, nicht allein durch Geschriebenes
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sondern z.B. auch dadurch, dass er sich
selber visuell und auditiv ins Spiel bringt, eine Erläuterung oder Kritik
seines Texts abgibt. Die Schrift beginnt zu sprechen. „Mentopolis“ zum Beispiel
- das Hauptwerk Marvin Minskys, eines Pioniers der Artificial Intelligence - gibt
es auch auf CD-ROM. Und in der elektronischen Version kann man nicht nur Text
lesen, sondern auch Minsky zuhören; wenn man nämlich gewisse Felder anklickt,
tritt er auf den Bildschirm und hält gestikulierend eine kleine Vorlesung. Auf
diese Weise ersetzen die neuen Technologien nicht die alten
Kommunikationsmittel, sie verleihen ihnen vielmehr neue Bedeutung. Das Buch
wird zur Option in einer erweiterten Palette von literarischen und
nicht-literarischen Äusserungsmöglichkeiten. Ins Netz gestellt, wird es so etwas
wie eine Website. Wie sich dies auf die Lese- und Schreibpraktik der Zukunft
auswirkt, bleibt abzuwarten. Inzwischen erinnert man sich an McLuhans Einsicht,
dass Aenderungen in der stilistischen auch Aenderungen in der substanziellen Dimension
zur Folge haben. So scheint sich z.B. durch die interaktive Blogkultur immer
mehr ein Stil durchzusetzen, den der amerikanische Essayist Caleb Crain „Gruppismus“
(groupiness) genannt hat: Man schreibt und liest primär nicht um des Inhalts willen,
sondern um dazuzugehören. Die Affen im Wald winken ...
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Es ist abzusehen, dass bei künftigen Generationen der
Umgang mit den neuen Medien ins Unbewusste sinken wird, so wie ja auch der
Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im Wesentlichen auf der
Routine, dem Unbewusstwerden des Mediums Alphabet beruht. Dieses Einsinken der neuen Technologien
in das Verhalten der Digital Natives ist meiner Meinung nach das zentrale
anthropologische Ereignis in der heutigen Gesellschaft. Kürzlich las ich
in einem Blog, dass man in Internetforen Konzentration und vertiefendes
Nachdenken als „obsessiv“ bezeichne und Leute mit diesen Fähigkeiten als
„gruselig“ gelten. Schon seit einiger Zeit weisen Medientheoretiker auf einen
technik-induzierten Umbau in unserer mentalen Disposition hin (ich lasse hier für
einmal die Hirnforscher ausser Acht). Peter Matussek z.B. hat zu bedenken
gegeben, dass die Lebensbedingungen im Informationszeitalter eine neue
Datenjäger-und-sammler-Kultur entstehen lassen, die entsprechende Tugenden wie
Vigilanz brauche, also die Fähigkeit, möglichst schnell seine Aufmerksamkeit
von einem Objekt auf das andere zu verschieben, so wie ehedem bei den Prähominiden
der vorsesshaften Zeit. „Sesshaftigkeit“ der Aufmerksamkeit gehört so gesehen
zu einer vor-digitalen Aera.
Der weitere Gedankenschritt zur Uminterpretation
liegt dann nahe: Störungen wie Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) sind im Grunde
normal, und einstige Tugenden wie Konzentration und Fokussieren werden zum
Krankheitsfall. Genau dies ist die These des amerikanischen Hansdampfs Thom
Hartmann in seinem Buch „Eine andere Art die Welt zu sehen“: Statt von
Aufmerksamkeits-Störung solle man doch eher von „Aufgabenswitch-Störung“
(Task-Switching-Deficit-Disorder, TSDD) sprechen. Wer also wie er permanent
von einem Job zu nächsten „switcht“ – Journalist, Romanautor, Verleger, Pilot,
Entwicklungshelfer, Privatdetektiv, Alternativmediziner, Elektrotechniker,
Firmenberater, Gründer von Gesundheitszentren und Heimen -, ist der Mustertyp
der heutigen Berufswelt; wer sich dagegen lange einer einzigen Aufgabe widmet,
riskiert womöglich bald schon, als „Ueberfokussierer“ ins psychiatrische Manual
aufgenommen zu werden.
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Hartmanns Umwertung hat einen polemischen Einschlag
(er leidet selber unter ADHS), aber sie ist insofern ernst zu nehmen, als sie sogenannte
„Defizite“ und „Schwächen“ relativiert und in einen jeweiligen historischen,
sozialen und kulturellen Kontext einbettet. Dadurch akzentuiert sie noch ein
weiteres, wahrscheinlich nachhaltigeres Problem. Denn spricht man von
„Oekologie“ der Aufmerksamkeit, fällt schnell ein Schatten über den Begriff.
Wie in der Biologie fragt sich auch in der Kultur: Sterben gewisse
Aufmerksamkeitsarten aus? Altehrwürdige Kulturtechniken wie das Lesen eines
Buches, das Schreiben von Hand, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, das
konzentrierte, geduldige Verfolgen einer Aufgabe? Wer so fragt, dramatisiert
natürlich, und es mangelt heute nicht an Autoren, die die alten und neuen
Medien zu einem Grosskampf der Kulturen aufbieten.
Eine solche Frontenbildung verdeckt aber das eigentliche
Problem, nämlich Aufmerksamkeitsarten in den neuen medialen Umwelten auszubalancieren.
Und das bedeutet auf individueller Ebene, dass jeder Techniknutzer für sich ein
labiles Gleichgewicht zwischen Sammlung und Zerstreuung, Geduld und Ungeduld, Informationssättigung
und Neugier findet. Nicht die Aufmerksamkeit ist das knappe Gut, sondern die
Zeit. Als ersten Schritt empfehle ich deshalb einen kleinen Selbsttest. Man sitze irgendwo hin – möglichst an einen
reizarmen, belanglosen, unhektischen Ort – und schenke der Umgebung während
einer Viertelstunde seine volle Aufmerksamkeit: dem Boden der Dusche, einer
Kiste voll rostigen Schrotts, einem Stück Rasen am Bahnbord, dem Bildschirm des
ausgeschalteten Computers. Halte ich diesen Offline-Modus aus? Wer das kann,
lernt, dass wahre Aufmerksamkeit zu tun hat mit dem Ertragenkönnen von Leere
und Langeweile. Mit Wartenkönnen. „Das Warten ist gewissermaßen die ausgefütterte Innenseite der Langenweile,“
lautet ein wunderschöner Satz von Walter Benjamin. Warten lässt einen in einer Gegenwart
ankommen, aus der man sich nicht herausklicken kann - bei sich selber. Wahre
Aufmerksamkeit ist – ernst genommen - eine Extremerfahrung.
Diese Entdeckung erinnert an eine buddhistische Anekdote:
Ein Schüler sieht, wie sein Meister beim Morgenessen die Zeitung liest und
Radio hört. „Aber Meister,“ sagt der Schüler, „du hast uns doch gelehrt, immer
nur eines zu tun, beim Essen ganz beim Essen zu sein, beim Lesen ganz beim
Lesen, beim Hören ganz beim Hören.“ „So ist es“, erwidert der Meister, „ und
wenn man isst-und-liest-und-hört, dann soll man ganz beim
Essen-und-Lesen-und-Hören sein.“
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