Vor zwei Jahren gelangte in den USA ein Buch auf
die Bestsellerliste der New York Times, das den wunderlich-anachronistischen
Titel „Shop Class as Soulcraft“ trägt, also übersetzt etwa mit „Werkunterricht
als Seelenbildung“ (auf Deutsch erschienen unter „Ich schraube also bin ich“).
Sein Autor, Matthew B. Crawford, verkörpert den Typus des akademischen Aussteigers.
Der Doktor der politischen Philosophie arbeitete zunächst in einem Think Tank,
wo er Abstracts wissenschaftlicher Artikel verfasste. Zunehmend deprimierter
und dieser schalen Geistesarbeit bald überdrüssig geworden, suchte er in der
Technik „echte“ Arbeit. Er eröffnete eine Reparaturwerkstatt für Motorräder.
Und die Befriedigung, die ihm die Arbeit in der Garage bietet, liege darin,
dass sie ihm wieder Kopf und Hand zusammengefügt habe.
Die breite Aufmerksamkeit, die Crawford mit seinem
Thema auf sich zog, deutet an, dass er eine neuralgische Stelle unserer
Wissensgesellschaft getroffen hat. Zu ihrem Selbstverständnis gehört ja die
„Überwindung“ der Handarbeit. Was im globalisierten Kontext natürlich meist
heisst: Wir delegieren sie an Menschen anderer sozialer Klassen, anderer
Länder, anderer Kulturen („Made in China“). Selbst Hand anzulegen ist für viele
geradezu exotisch geworden. Postindustrielle Arbeit braucht die Hände zum
Drücken von Knöpfen und Tasten, zum Hantieren mit Handys und Touchpads. Es ist,
als zerrinne die Arbeit in den zunehmend automatisierten und virtuellen Umgebungen
zwischen den Händen. Sie wird unwirklich. Und so fragen sich nicht wenige
„Werktätige“ heute: Was genau habe ich eigentlich am Ende eines Tages
vollbracht – ich meine: selber gemacht?
Meiner Ansicht nach bringt Crawford mit seinem Buch
ein Ethos aufs Tapet, das aus der Tradition des Handwerks stammt; ein
Qualitätsanspruch, den man an sich selber stellt, sei man nun Bäcker, Coiffeur,
Programmierer, Musiker, Arzt oder Physiker. Die Ansprüche mögen berufsspezifisch
sehr unterschiedlich sein, eines ist ihnen gemeinsam, eine Art von innerem Imperativ,
den der Soziologe Richard Sennett in seinem schönen Buch „Handwerk“ so auf den
Punkt gebracht hat: Man will etwas
um seiner selbst willen gut machen.
Das klingt trivial, läuft aber vielen Strömungen des postindustriellen Lebens
und Arbeitens diametral entgegen. Auch in der Wissenschaft.
***
Ein Ethos konkretisiert man am besten durch
Tugenden, die es bevorzugt und für förderungswert hält. Ich möchte kurz vier
Aspekte handwerklichen Expertentums hervorheben, in denen ich so etwas wie Tugenden
geistiger Arbeit sehe: Routine, Kennerschaft, Materialsinn, Scheiternkönnen.
Auf dem Weg zum Expertentum spielt Routine eine
wichtige Rolle. Sie hat freilich einen schlechten Ruf. Das heisst, wir
assoziieren mit ihr stumpfsinnige Abläufe in Maschinen. Und in diesem Sinne
bedeutet „Routine“ einfach „Nicht-Nachdenken“. Dagegen müssten wir – gerade in
unserer Welt delegierter Routinen – der menschlichen Routine eine positivere,
„geistigere“ Bedeutung beimessen. Routinen sind intellektuelle oder manuelle Tätigkeitsschlaufen,
die wir variieren und miteinander verbinden können. Wer etwas von Schreinern
verstehen will, muss bei routinemässigen Arbeiten am Holz beginnen. Wer etwas
von Mathematik verstehen will, muss mathematische Operationen durchexerzieren.
Wer ein Gespür für die Feinheiten einer Sprache entdecken will, muss Wörter
büffeln. Im Gegensatz zur Maschine kann der Mensch aus Routinen ausbrechen. Fertigkeiten,
die durch eine Praxis eingeübt sind, machen uns nicht notwendig zu engstirnigen
Praktikern. Sie können uns im Gegenteil zu Exkursionen ins Nachdenken
beflügeln. Und genau darin zeigt sich der „geistige“ Charakter von Routine.
Geistige Arbeit liesse sich geradezu so definieren: Die durch Praxis und
Routine gesetzten Grenzen überschreiten. Man wird dadurch selbstkritisch,
anspruchsvoll, neugierig. Der grosse Geiger Isaac Stern pries die Vorzüge
repetitiven Übens einmal in der
Regel: Je besser die Technik des Geigenspiels, desto unerreichbarer die Massstäbe.
***
Der Handwerker weiss mehr, als er in Worte fassen
kann. Dieses „Schweigen der Könner“ – so die treffende Beschreibung des
Erziehungswissenschaftlers Georg Hans Neuweg - ist kein Defekt, sondern eine
Besonderheit: Kennerschaft ist grösstenteils im Kenner sedimentiert. Solches
Wissen besteht daher primär in seiner Ausübung, nicht in seiner Aufschreibung.
Es kann dadurch auch nicht so einfach in Enzyklopädien oder Expertensysteme
ausgelagert werden. Den guten Richter wie den guten Chirurgen oder den guten Schreiner
zeichnet eine Fachtüchtigkeit aus, die über bloßes Fachwissen hinaus reicht. Nähme man einen Arzt ernst, der uns
sagen würde, er wisse alles über Herzchirurgie, habe aber noch nie eine Operation
selber durchgeführt?
Kennerschaft erwarb man früher im
Meister-Lehrling-Verhältnis. Der Erfahrene zeigte dem Novizen, „wie es geht“.
Man sollte sich hüten, dies als
veraltet zu betrachten. Kennerschaft findet sich nach wie vor in allen
Bereichen der Kopf- und Handarbeit. Sie hebt eine weitere Tugend hervor: Sinn
und Sorge für das Material. Ein Schreiner weiss Bescheid über Holzarten, weil
er mit ihnen gearbeitet, mit dem Material einen „Dialog“ geführt hat. Seine
Hände verkörpern quasi das hantierende Gedächtnis früherer Arbeiten und
Erfahrungen. Fragt man ihn etwa nach der Art eines Holzes, kann man unter
Umständen mit einer regelrecht poetisch anmutenden Terminologie überhäuft
werden, ist die Rede von streifiger, geriegelter, geflammter, geäderter, gefladerter,
gemaserter, flirrender, pommelierter Textur der Holzart. Solche Adjektive vermitteln
den Eindruck einer präzisen Lust am Stoff, eines hand- oder sinnennahen Umgangs
mit ihm. Sie ist nicht auf das Schreinern beschränkt. Über James Joyce gibt es
die Anekdote, ein Freund habe ihn in seinem Arbeitszimmer getroffen, den Kopf
auf die Schreibtischplatte gelegt. Was los sei, fragte der Besucher. Er käme
mit der Arbeit nicht voran, antwortete Beckett. Wie viel er denn geschrieben habe, fragte der Freund. „Zwei
Wörter,“ sagte Joyce. „Aber James“, meinte der Freund, „da kannst du doch
zufrieden sein .. gemessen an deinem Arbeitstempo.“ „Ja, schon,“ erwiderte
Joyce schon fast verzweifelt,“ aber ich weiss nicht, in welcher Reihenfolge ich
sie schreiben soll.“ Die Verzweiflung des Schriftstellers bringt sehr schön das
handwerkliche Bewusstsein seiner Arbeit – des „Wortwerks“ – auf den Punkt. Von
dieser Tugend her betrachtet, lassen sich umgekehrt auch sogenannte
intellektuelle Berufe wie Arzt, Ingenieur, Jurist, Schriftsteller, Lehrer
durchaus als „Handwerk“ verstehen. Aus ihrem Materialbewusstsein wächst nicht
nur Sinn und Sorge, sondern auch Verantwortung für ihr besonderes „Holz“: den
Organismus, die Brücke, das
Gesetzeswerk, die Sprache, die Schüler. Gerade an diesem Bewusstsein haben es
die Wirtschaftswissenschafter in den letzten Jahren fehlen lassen.
***
Damit zusammen hängt auch der letzte Punkt:
Scheiternkönnen. In der Atemlosigkeit heutigen Forschungswettrennens, wo man
den Mund nicht voll genug nehmen kann mit Verheissungen über Durchbrüche an der
Front, wären gelegentlich Marschpausen nötig. Sie erinnerten uns vielleicht an
das Wesen wissenschaftlichen Vorgehens, das man am treffendsten in den Worten
Samuel Becketts beschreibt: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser
scheitern.“ Jeder seriöse Forscher weiss: Die Welt tickt nie genauso, wie er
sich das vorstellt. Er hat ein professionelles Bewusstsein für die
Unzulänglichkeit, das Scheiternkönnen seiner Denkarbeit. In dieser Einstellung
gleichen sich Wissenschaftler und Handwerker. Auch der versierte Handwerker
weiss: Die Dinge laufen meist nicht so, wie er das will. Er zeichnet sich aus
durch ein Gespür, oder sollte man vielleicht sogar sagen: eine Demut vor den
Eigenheiten, Widerspenstigkeiten, Unvorhersehbarkeiten, Unvollkommenheiten
des Mediums, mit und an dem er sich abmüht. Das Scheitern ist sein treuester
Gehilfe, sein bester Lehrer.
***
Mit der These, dass Wissenschaft ein handwerkliches
Ethos braucht, würdige ich weder die intellektuelle Arbeit herab noch
romantisiere ich manuelle Traditionen. Wir brauchen beides, Kopf und Hand. Nur
begünstigen die gegenwärtigen wirtschaftlichen, technischen und politischen
Bedingungen ein anderes Ethos, das in Wissen und Bildung primär Instrumente der
Marktpositionierung und Best Practice sieht. Das universitäre Studium verschreibt
sich ihm heute in weiten Bereichen. Die Industrialisierung hat auch die
Kopfarbeit ergriffen. Vorzugsweise bilden sich die Studenten zu „Wissensarbeitern“
aus, munitionieren sich mit lego-artig zusammenfügbaren Modulen für die freie
Wildbahn des Arbeitsmarktes. Ist bekannt, dass der Begriff des Moduls aus dem
Maschinenbau stammt?
Natürlich plädiere ich nicht für eine Rückkehr zur
Werkbank. Zu denken gibt aber die schleichende Aushöhlung jenes Imperativs, der
die innere Bindung an die Arbeit honoriert. Und genau das ist das tiefe Paradox
einer Gesellschaft, die einem grossen Teil heutiger Arbeit – auch der wissenschaftlichen
- mit der Hand zugleich die Seele austreibt.
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