Freitag, 30. September 2022

 





NZZ,29.9.22



Ich bin weder dafür noch dagegen – ganz im Gegenteil



Bist du dafür oder dagegen?  Transphil oder transphob, vegan oder nichtvegan, regulierten oder deregulierten Markt, Impfen oder Nicht-Impfen, Waffenlieferung an die Ukraine oder nicht? Der Imperativ des Positionsbeziehens ist endemisch. Aber vergessen wir nicht das Gegenteil des Entweder-oder,  das Weder-noch. Und darauf verweist der Wortstamm von «neutral»: keines von beiden. Man verbindet damit gern die Haltung des Ausweichens, Zauderns, Lavierens. Roland Barthes, Autor der berühmten «Mythen des Alltags», zählte das Weder-noch-Denken seiner Zeit zu diesen Mythen. «Ninisme» nannte er es («ni.. ni..»). Er meinte damit ein Denken, das sich dank eines «mythischen» neutralen Standpunkts über den damaligen Konflikten zwischen links und rechts als erhaben wähnt: «Man wägt Methoden mit der Waage ab, belädt ihre Schalen nach Gutdünken, um sich selber als unbelasteter Schiedsrichter betrachten zu können (..) Schon möglich, dass unsere Welt zweigeteilt ist, doch man kann sicher sein, dass über dieser Spaltung kein neutraler Gerichtshof waltet: keine Rettung für die Richter, sie sitzen im gleichen Boot». 

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Das binäre Denken in Antagonismen hat einen beeindruckenden philosophischen Stammbaum, von Heraklit über Marx und Nietzsche, Darwin und Freud, Carl Schmitt und Michel Foucault bis zu aktuellen rabiaten Rassismusklischierern vom Schlag eines Ibram X. Kendi. Man entzieht sich dem Griff dieses Denkens nicht. Und trotzdem: Hat man in einem Gespräch mit jemandem, der uns einen binären Positionsbezug aufdrängte, nicht schon den stillen Drang verspürt, sich diesem «Übergriff» zu entziehen, indem man auf ein anderes Thema ausweicht, ausdrucksvoll schweigt oder schlicht einen anderen Gesprächspartner sucht. Das gilt nicht gerade als argumentativer Comment, gewiss. Aber man kann so zu verstehen geben, dass man das ganze Setting des Gesprächs unterläuft: Ich lasse mich nicht in ein Entweder-oder-Schema zwingen. Ich repliziere also nicht in einem Diskurs, sondern weise den Diskurs selbst zurück. 

Ich bekunde damit einfach die Absicht, eine Gesprächsform zu finden, die nicht immer gleich Konflikt, Konkurrenz, Kampf fordert. Und damit stösst man auf eine tiefe Problemader. Wie Barthes bemerkt: «Insgesamt scheint mir die abendländische Tradition darin problematisch: nicht dass sie entscheidet, dass (…) die Welt konflikthaft ist, sondern: dass sie aus dem Konflikt eine Natur und einen Wert macht». In der Tat. Ständig hören wir, Leben sei ein anhaltender Kampf, eine Kakophonie disparater Meinungen, von denen eine schliesslich triumphieren müsse. Diese Sicht huldigt dem Kämpfer, dem Siegeswilligen, dem Aktivisten. Der Neutrale erscheint dagegen als Weichdenker, als intellektuelle Molluske.

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Es gibt einen anderen, einen beklemmenden Aspekt der Neutralität, der uns existenziell betrifft. Man kann über mich eine noch so lange Liste persönlicher Eigenschaften aufstellen, es bleibt immer ein wesentliches Rest-Ich. «Ich bin nicht Stiller». Ich bin nicht auflistbar. Ich bin weder der noch der noch der noch der … Das ist gerade im Zeitalter der zusehends potenteren Überwachungstechnologie eine eminent politische, eine subversive Aussage. 

Die heutigen technikkonformen Konzepte der Identität reduzieren die Person auf das algorithmisch «lesbare» Individuum, das in ein eindeutigs Kategorienprofil passt. Gewiss, wir müssen im Beruf, im öffentlichen Alltag, ja, sogar im privaten Zuhause oft so tun, als wären wir solche Individuen. Aber durch die Einsicht, dass wir sie nicht sein können, gewinnen wir nicht nur an Authentizität, sondern widersetzen uns dem unterschwelligen Zwang zur Identifizierung durch über-griffige Erkennungstechnologien. Hinzu kommt, dass viele, mittlerweile erschöpft vom unablässigen Bombardement der Fragen «Wer bist du?», «Wo stehst du?», sich nach «neutralen» Orten des Unausgesprochenen sehnen, wo sie weder dafür noch dagegen sein müssen, und wo das Nichtwissen, wer sie sind, ihnen nicht ständig als Schuldlast anhängt. Wir verlangen ein Grundrecht auf das Uneindeutige, das Nicht-so-sein: auf das unauslotbare «Neutrum», das jede Person ist. Selbstverständlich indentifizieren wir uns immer leichter mit gewissen Personen als mit anderen. Der Neutrale ist sich dessen bewusst, aber er kämpft zugleich gegen die Reduktion der Per-son auf ein bestimmendes Merkmal – sprich: gegen die Logik des Rassismus. 

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Zweifellos gibt es Situationen, die keine Uneindeutigkeit dulden. Besonders heute nicht. Aber auch Neutralität definiert sich immer aus bestimmten Situationen. Sie bedeutet, dass man nicht einfach in der Situation denkt, sondern sie buchstäblich über-denkt. Leben erlaubt kein Unentschieden. Freilich muss man sich nicht immer presto entscheiden. Gebietet die Situation tatsächlich nur das harte Entweder-oder? Oder findet man gerade durch das hinhaltende Weder-noch eine neue Perspektive? Nichts hasst der Neutrale mehr als den erzdummen Satz «There is no alternative».

Neutralität ist auch der Appell zu einem Ethos der Kooperation, in dem Sinn, dass er uns anhält, Konfrontation wenn möglich zu vermeiden. Ein lebenspraktisches Prinzip drückt diese Neutralität sehr schön aus: Fünf gerade sein lassen. Wer fünf gerade sein lässt, bekundet ein spezifisches Vermögen: Abstraktion. Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen lässt sich nämlich aufheben, wenn man sie als ganze Zahlen betrachtet. «Vereinigungsmenge» nennt das die Mathematik. Ein ungemein wichtiges Prinzip des Zusammenlebens. Man abstrahiert gelegentlich davon, ob man «gerade» oder «ungerade» ist: alt oder jung, weiss oder schwarz, Mann oder Frau. Man begegnet Menschen als «ganzen» Menschen, unter einer neutralen Oberkategorie. Man könnte sie «Person ohne Eigenschaften» nennen. 

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Wir sind immer Partei: für oder gegen etwas. Das ist nicht das Problem. Das Problem lautet: Wo-für oder wogegen genau? Man entdeckt durch solch beharrliches Nachfragen nicht selten erst seine eigene Parteilichkeit. Man findet vielleicht heraus, dass an der gegnerischen Meinung ja durchaus etwas dran ist, oder dass die eigene Meinung sich als nicht so stichfest erweist wie an-genommen. Man «neutralisiert» sich also, indem man Meinungsspannungen abbaut: entpolarisiert. Das ist das Bestcase-Szenario. Leider neigen wir zum Worst Case. Studien über die kollektive Dynamik im Internet zeigen deutlich ein Schwarmverhalten: Polarisierung als systeminhärenten Effekt. Wenn sich in sozialen Netzwerken verschiedene Meinungscluster bilden, dann verringert sich der neutralisierende Austausch zwischen ihnen. Konfrontiert man Probanden eines Clusters mit anderen Meinungen, tendieren sie zur Verfestigung ihrer eigenen Meinung. Dadurch bauen sich Meinungsspannungen zwischen verschiedenen Echokammern eher auf, was zu einer verstärkten Radikalisierung der Lager führen kann: Man lehnt nicht nur die andere Meinung ab, sondern mit ihr gleich die Andersmeinenden –  man begegnet ihnen mit Voreingenommeheit, Unverständnis, Hass. The medium is the massacre. 

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Und dieser Kampfmodus markiert die Schwelle zum Krieg. Die Regeln der Neutralität sind für die Kriegssituation bestimmt. Es bedürfte ihrer auch für die sogenannte Friedenssituation. Mitunter beschleicht einen das Gefühl, auch im Zivil seien wir heute Krieger. Wir lesen von «Kulturkrieg», «Wissenschaftskrieg», «Energiekrieg», «Corona¬krieg», «Identitätskrieg», «Genderkrieg», «Gesinn-nungskrieg» in sozialen Medien. Und man stellt sich fast unweigerlich die Frage, ob der Frieden die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei - ein Kriegfrieden. Die Inquisition der Wo-keness zwingt einen permanent in das Lager des Richtigen oder Falschen. Adolf Muschg bemerkte neulich in einem Interview, das Entweder-oder-Prinzip verstehe keinen Spass. Genau dagegen wehrt sich der Neutrale als Partisan des Dazwischen. Er pflegt einen besonderen Spass: er ist wissbegierig, reflektierend, anti-reduktionistisch, offen für Argumente anderer Positionen –  kurz, er denkt.










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