Bertold
Brechts Herr Keuner schätzt Bäume, „da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit
entsprechendes Andersaussehen einen besonderen Grad von Realität erreichen (..)
Bäume (haben) wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin, etwas beruhigend
Selbständiges, von mir Absehendes.“ Aber trotz dieser Menschenabgwandtheit
schätzt Herr Keuner Bäume aus der Perspektive des Städters. „Ich würde gerne
mitunter aus dem Hause tretend ein paar Bäume sehen. ‚Warum fahren Sie, wenn
Sie Bäume sehen wollen, nicht einfach manchmal ins Freie?’ fragte man ihn. Herr
Keuner antwortete erstaunt: „Ich habe gesagt, ich möchte sie sehen, aus dem
Hause tretend.“
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Herr
Keuner ist der Prototyp des Liebhabers nachwilder
Natur, wie ich sie nennen möchte.[i]
Er will Natur, aber nicht im „freien“, sondern im gezähmten Zustand, als ein
paar Bäume, die seinen Blick beim Verlassen des Hauses erfreuen; dies aber wohlgemerkt
nicht bloss als Dekor, sondern durchaus als Memento, dass die Naturdinge uns im
Grunde nicht brauchen. Bäume sind also Repräsentanten des Nichtgebrauchs. „Auch
verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu
sehen,“ sagt Herr Keuner, „Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt
sinnlos wären.“ Nicht so die Bäume. Sie sind gerade in ihrer Unbenutztheit von
Wert, und dies ausgerechnet in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem nur das
Nützliche seinen Wert hat.
Herr
Keuner bringt damit ein Problem, um nicht zu sagen: ein Paradox auf den Punkt.
Wir leben im Zeitalter des Anthropozäns, in dem der Mensch immer mehr mit
ordnender und planender Hand in die Roh-Natur eingreift, sie zähmt und sich
dienlich macht, im gleichen Zug auch immer mehr ihren wilden Charakter
austreibend. Paradox daran ist, dass in dem Masse, in dem die wilde, vom
Menschen unberührte Natur verschwindet, sie als Objekt der Sehnsucht
wiederaufersteht - ganz offensichtlich in einer wild gewordenen
Tourismusindustrie, die nicht müde wird, uns jene „letzten“ Paradiese der Natur
anzupreisen, deren Aufmöbelung sie mit exterminierendem Eifer betreibt.
***
Nun
kann man ganz unschuldig fragen: Aber sind denn Bäume nicht allesamt Natur, im
Garten wie in der Wildnis? Was macht den Baum in der Wildnis „anders“ als im
Garten? Die Antwort ist einfach: Die Erbschaft eines Denkens, das den Menschen
radikal trennt von der Natur. Wo Natur ist, sind wir Menschen nicht; und wo der
Mensch ist, ist nicht Natur. Im Park ist der Mensch, also ist der Baum im Park
nicht wirklich Natur. Bereits diese dualistische Topologie führt uns auf
Abwege: Wildnis ist immer „draussen“. Wenn sie aber draussen bleibt, dann ist
sie im Grunde auch ohne Belang für unsere Umweltprobleme. Sie ist ja nun gerade
nicht Um-Welt, sondern Ander-Welt: das imaginäre, totale Andere unserer
Zivilisation, welche das Wilde als natürlicher, ursprünglicher, echter würdigt.
Wir hauen also umso tiefer in diese dualistische Kerbe, je mehr wir die Wildnis
als Ideal und Massstab der Beurteilung unserer Zivilisation zelebrieren:
Wildnis gut – Zivilisation schlecht.
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In
den Träumen und Visionen einer unverdorbenen Natur geistert auch die
Vorstellung unserer eigenen Unverdorbenheit herum, eines anderen, nobleren Selbst,
das sich nicht mit Zivilisiertheit befleckt sehen und deshalb nur an speziellen
zivilisationsabgewandten Orten gepflegt werden möchte. Seit
Rousseau wird immer wieder die Natur angerufen, wenn es den Verfall der Sitten,
den Schwund der Werte, die Dekadenz der Kultur zu beklagen gilt. Ökofundamentalisten
legitimieren ihre Aktionen nicht selten im Namen einer „reinen“ Natur, eines
ursprünglichen Ökosystems oder quasi-paradiesischen Umweltverhältnisses. Und in
der Sicht einer solchen Naturordnung steht dann unversehens der Mensch als fehl
am Platz da. Als ökologischer Unrat.
Zu
hüten haben wir uns vor allem vor einem Jargon der Eigentlichkeit, der die
Lösung in der Rückkehr zu einem paläolithischen Menschentum propagiert. Eine
mitunter bizarre Historiographie sekundiert diese Sichtweise. In den Augen von
Dave Foreman, Mitbegründer der Bewegung „Earth First!“, treibt schon die
Agrikultur einen Keil zwischen Mensch und Natur. Von dieser Prämisse aus
gesehen liegt dann der Schluss nahe, dass man die Trennung von Mensch und Natur
durch eine Rückkehr zum Jäger und Sammler überwinde. Das Ideal dieser Neusteinzeitler
wäre „Tiere zu sein (..), unseren Schweiss, unsere Hormone, Tränen und unser
Blut auszukosten,“ wie Foreman seine Humoral-Therapie (wahrscheinlich nach ein
paar Bieren zuviel) umreisst, um gegen den „modernen Zwang anzukämpfen, dumpfe,
leidenschaftslose Androiden zu werden.“ Solche Macho-Exuberanzen erinnern an
die Elogen der Lebenshärte, wie sie einem am Todtnauberg zuteil wird. Martin
Heideggers Bewunderung des einfachen „weisen“ Schwarzwaldbauern ist notorisch.
Schon im 19. Jahrhundert, im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung,
empfahl der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl das Landleben als Antidot gegen
die Überzivilisiertheit und Neurasthenie der
Stadt. Dem „ausstudirten Städter“, aber auch dem „feisten Bauer des reichen
Getreidelandes“ stellte er den Idealtypus des „armseligen Moorbauern“ und des
„rauhen Waldbauern“ gegenüber. In der Wildnis von Moor und Wald gesundet der
zivilisatorisch angeschlagene Geist: „Wann die Mittagssonne der Civilisation
die Ebenen bereits versengt hat, dann wird von den culturarmen Berg- und
Hochländern der Odem eines ungebrochenen naturwüchsigen Volksgeistes wie
Waldsduft wieder erfrischend über sie hinwehen.“ Man hört Ähnliches heute auch gelegentlich aus der alten Uckermark, wenn der
Schriftsteller Botho Strauss sie durchwandert.
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Nicht
die Wildnis steht zur Debatte, sondern eine weitverbreitete und heute auch
kommerziell ausgeschlachtete Wildnisideologie, die nichts anderes ist als die
Rückseite eines dualistischen Naturverständnisses. Und dadurch, dass sie einem
falschen Ideal wilder Natürlichkeit huldigt, treibt sie den dualistischen Keil
umso tiefer zwischen Mensch und Umwelt. Befürworter der biologischen Diversität
betonen oft die Wichtigkeit „unberührter“ Ökosysteme als den reichhaltigsten
Aufbewahrungsort all jener Arten, die wir erhalten wollen. Biodiversität ist ja
sozusagen der verwissenschaftliche Wildnisbegriff. Aber immer noch haftet daran
eine Wertigkeit, die man mit „reiner“ Natur verbindet. Das führt zu einem
Paradox: Je mehr man die Biodiversität sich selbst überlassen will, desto mehr
bedarf sie der Schutzanstrengung vonseiten des Menschen. Das schlagendste
Beispiel sind die gefährdeten Arten. Ihr Überleben als wilde Lebewesen hängt
entscheidend ab von einem überlegten Management ihres Habitats, für das unter
Umständen ausdrücklich Gesetzesvorschriften gemacht werden müssen. Man halte
sich vor Augen: Wir erlassen Gesetze, damit die Natur in Enklaven der Wildnis so
sein kann, wie sie ist (was im Grunde bedeutet: wie sie in unseren Augen sein
soll). Natur von Menschen Gnaden. Es hat etwas geradezu Absurdes: Definiert man
Natur als das, was dem menschlichen Einfluss entzogen ist, dann gibt es
praktisch keine Natur mehr. Und genau das, was es praktisch nicht mehr gibt, schützt man
noch.
[i] Ich
verdeutsche hier den englischen Ausdruck „post-wild“, den Emma Marris in ihrem
inspirierenden Buch verwendet: Rambunctious
Garden. Saving Nature in a Post-Wild World, New York, 2013.
Lehrte manchen die Physik nicht, wo das Wilde hemmungslos tanze
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