Es gibt einen
Rassismus im Gestus der Wissenschaftlichkeit. Seine Genealogie führt von Thilo
Sarrazins „Juden-Gen“ über die Eugeniker des frühen 20. Jahrhunderts und die
Schädelvermesser des 19. Jahrhunderts zurück zu den Menschenverbesserern
der Aufklärung. Der Glaube an eine naturgegebene Ungleichheit unter
Menschenpopulationen lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden weder bestätigen
noch widerlegen, aber er kann sich mit wissenschaftlichen Methoden tarnen. Und
das Irrationale an diesem Rassismus ist gerade, dass er sich als rationale
Weltsicht ausgibt. Das macht ihn nicht nur gefährlich, sondern unausrottbar virulent.
James Watson,
einer der bedeutendsten Biologen des 20. Jahrhunderts – Mitentdecker der
Doppelhelix -, empörte 2007 eine breite Öffentlichkeit, als er in einem
Interview sagte, die Aussichten für Afrika stimmten ihn pessimistisch, weil „unsere gesamte
Sozialpolitik voraussetzt, dass ihre Intelligenz (der Afrikaner, E.K.) mit der
Unsrigen identisch ist – während alle Tests sagen, dass das nicht stimmt.“
Implizite meinte Watson die niederigere Intelligenz der Afrikaner – ein alter
rassistischer Topos. In einem späteren Interview sagte er, es finde sich kein sicherer
Grund für die Annahme, intellektuelle Kapazitäten würden sich in geographisch
getrennten Gebieten identisch entwickeln. „Der
überwältigende Wunsch der heutigen Gesellschaft ist es, davon auszugehen, dass
eine gleiche Vernunftbegabtheit ein universelles Erbe der Menschheit ist. Das
mag so sein. Aber sich dies einfach nur zu wünschen, reicht nicht aus. Das ist
keine Wissenschaft.“
Womit er sicher Recht hat. Natürlich gibt es genetische
Differenzen zwischen menschlichen Populationen, obwohl man gleich anfügen muss,
dass sich solche Differenzen auch innerhalb von Populationen finden. Aber genetische
Differenzen sind nicht rassische Differenzen. Im Weiteren ist es gewiss nicht
rassistisch, zu versuchen, Fakten in Erfahrung zu bringen, die für die
Hypothese sprechen, dass der Mensch sich in unterschiedlichen geografischen
Regionen unterschiedlich ausdifferenziert hat. Aber der Verdacht auf Rassimus
wird dann geweckt, wenn die Faktenlage unsicher und uneindeutig ist, und man
trotzdem so tut, als spreche sie eindeutig für oder gegen eine bestimmte
Annahme - „alle Tests“ sagen es. Die Fakten sind nie eindeutig.
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Rassismus
im Gestus der Wissenschaftlichkeit sagt von sich: Ich bin kein Rassismus. Ich
sage nur, was Sache ist. Ein derartiger Rassen-Positivismus hüllt sich gerne
in den Mantel der Wahrheitstreue. Bei Anthropologen dieses Schlages fällt immer
wieder auf, wie sie mit der Miene missverstandener Unschuld beteuern, sich
„nur“ an die Fakten zu halten und diese nicht im Namen politischer Korrektheit
verschweigen zu wollen. Und Faktum sei zum Beispiel die evolutionär entstandene
Differenz menschlicher Populationen; Faktum sei die rassische Vererbung von
Hautfarbe, Schädelform oder Hirngrösse, aber auch von Arbeitswilligkeit oder
Intelligenz.
Rassismus
beginnt harmlos, mit der Wahrnehmung von Gruppenzugehörigkeit, dem Erkennen
typischer Merkmale. Typisierung heisst immer auch: man sieht das Eine,
übersieht das Andere. Kulturell verfestigt und sozial in Umlauf gebracht wird
der Typus zum Stereotyp, zur Stammzelle des Rassismus. Vor kurzem zeigte mir
ein Kollege, Biologielehrer, eine Unterteilung des Hirngewichts nach
Menschenvölkern, erschienen in einer Tages-Anzeiger-Ausgabe der 1920er Jahre:
Unter gezeichneten Stereotypen des Deutschen, Chinesen, Engländers,
Australiers, Buschnegers, Romanen, Hindus stand aufs Gramm genau das Hirngewicht.
In den obersten Rängen liegen der Chinese mit 1428, der Deutsche und der
Engländer mit 1425 bzw. 1346 Gramm. Abgehängt dagegen - wer hätte es gedacht -
der Buschneger mit lumpigen 997 Gramm!
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Sind
Schwarze deswegen „von Natur aus“ dümmer als Chinesen oder Deutsche? Natürlich
versucht niemand die Frage allein anhand der Gehirnmasse als Parameter zu
beantworten. Trotzdem, das Problem beschäftigt die Anthropologen bis heute –
und spaltet sie tief. Das Spektrum der Positionen reicht von Psychologen wie
Arthur Jensen und John Philippe Rushton bis zu Sozialphilosophen wie James
Flynn. Erstere sehen Rassenunterschiede in kognitiven Fähigkeiten eindeutig
durch IQ-Tests bestätigt, letzterer zweifelt grundsätzlich an deren neutralen
Aussagekraft. IQ-Tests messen nicht, wie intelligent, sondern wie modern, d.h.
wie angepasst an die jeweiligen Standards einer Gesellschaft und Kultur
Menschen sind.
Die
wissenschaftlichen Mittel – globale Datenbasis, statistische Methoden, neue Bildgebungsverfahren
in der Neurowissenschaften – werden ständig verbessert, aber ein Konsens ist
nicht in Sicht. Ich sehe darin ein Symptom für den „tückischen“ Charakter des
Intelligenzproblems. Tückisch deshalb, weil es sich auf „rein“
wissenschaftlicher Basis nicht lösen lässt, obwohl es diesen Anschein erweckt.
Es ist eine Kontaminierung von Wert- und Tatsachenfragen. Gerade im Kontext der
Anthropologie sind sie häufig. Wenn also Politiker oder öffentliche Amtsträger
Fakten im Namen dieser Wissenschaft sprechen lassen möchten, sollten sie sich
bewusst sein, dass nicht Fakten „sprechen“, sondern Menschen, die sie
interpretieren. Die einzige Wahrheit über IQ und Rasse scheint die zu sein,
dass es in dieser Frage keine objektive Wahrheit gibt.
Das hielt übrigens
Jensen schon vor fast 20 Jahren nicht davon ab, im ähnlichen Stil wie Sarrazin
heute über die Selbstabschaffung der USA zu schwadronieren, über „fehlerhafte“
Gene in der schwarzen Bevölkerung, den „dysgenetischen Effekt“: „Persönlich
glaube ich, dass eine Gesellschaft sich gegen Innen und Aussen schützen muss.
Anders überlebt sie meiner Meinung nach nicht (..) Der dysgenetische Effekt
wird eines Tages so augenfällig werden, dass sich Massnahmen auf einer
politischen, der Regierungsebene, aufdrängen werden.“ Barack Obama war noch
nicht Präsident...
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Das
Problem ist nicht die Rasse, nicht das Gen, das Problem ist das Stereotyp.
„Dass einer Jude heisst, wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er
dem Bilde gleicht,“ schreiben Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der
Aufklärung“. Betrachten wir ein aktuelles Beispiel: die Zigeuner, über
Jahrhunderte hinweg als unstet, unsozial, arbeitsscheu und primitiv abgesondert
und stigmatisiert. Erst einmal kulturell verfestigt, wird das Stereotyp reif für
die Biologie und kann Fragen produzieren wie: Ist Zigeunertum naturgegeben? Der
deutschen Arzt und zeitweilige Berater der Bundesregierung Hermann Arnold
bejahte diese Frage in seinem Aufsatz „Das Zigeuner-Gen“ (1961). Es müsse am
Ausgang der Steinzeit eine genetische Revolution gegeben haben, die die
Menschen anschließend zu rasantem Fortschritt befähigte, so seine These. An
kleinen Gruppen sei diese Entwicklung jedoch vorbeigegangen, so dass sich ihr
Erbmaterial zum nichtsesshaften Nomadenleben erhalten habe: „Wenn diese
Bemerkungen über nomadische Gruppen, die nach Art der Zigeuner leben,
zutreffen, dann wird die Natur des Zigeuners wesentlich durch ein erbliches
Merkmal bestimmt, welches festlegt, ob sich jemand zigeunerisch verhält oder
nicht. Jede Person mit diesem psychischen Kennzeichen müsste entsprechend als
Zigeuner betrachtet werden“. Einmal Zigeuner, immer Zigeuner. Einmal Jude,
immer Jude. Einmal Türke, immer Türke. 1981 veröffentlichten deutsche Wissenschafter
das sogenannte „Heidelberger Manifest“, worin z.B. steht: „Völker sind (biologisch und kybernetisch) lebende Systeme höherer
Ordnung mit voneinander verschiedenen Systemeigenschaften, die genetisch und
durch Traditionen weitergegeben werden. Die Integration großer Massen nichtdeutscher
Ausländer ist daher bei gleichzeitiger Erhaltung unseres Volkes nicht möglich
und führt zu den bekannten ethnischen Katastrophen multikultureller
Gesellschaften.“
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Biologen und Anthropologen gehen
heute sehr kritisch mit dem Rassenkonzept um. Sie sind sich dessen „sozialer
Konstruiertheit“ bewusst. Nicht wenige plädieren für seine Verabschiedung aus
der Wissenschaft. „Die Menschheit besteht nicht aus 3, 5, 7, 35 oder 300
verschiedenen ‚Rassen’,“ schreibt der Biologe Ulrich Kattmann, „sondern aus
annähernd 6 Milliarden Menschen. Nicht die Typenbildung und Klassifikation sind
gefragt, sondern das Verstehen von Vielfalt und Individualität.“ Das mag sein.
Damit macht man freilich die Rechnung ohne den tief verwurzelten Hang des
Menschen, zu klassifizieren, zu typisieren, und damit: auszuschliessen. Wir
alle sind latente Rassisten.
Es ist an der
Zeit, die ganze Diskussion über die genetische Determiniertheit des Menschen
als Teil einer grösseren Problematik wahrzunehmenwerden. Denn der Rassismus hat
einen Zwillingsbruder: den Kulturalismus. Beide verfechten sie – zumindest in
ihren Extremformen - die Vorstellung „plombierter Identität“, wie ich sie
nennen möchte, die Idee also, der Mensch sei durch seine Rassen- bzw.
Kulturzugehörigkeit eindeutig und wesensmässig bestimmt. Er kann seine
Identität nicht aufbrechen. Der französische Sozialphilosoph
Etienne Balibar hat vom „Rassismus ohne Rassen“ gesprochen. Ist es Zufall, dass
eine Politik der rassischen wie der kulturellen Differenz primär die
konservativen bis reaktionären Elemente fördert? Wir sollten auf dem bio- wie
auf dem kulturpolitischen Ohr hellhöriger werden.
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Inzwischen
träumen die Menschenverbesserer ihren Traum weiter, gerade vor der Rüstkammer
der Genetik, der synthetischen Biologie, des pränatalen Menschendesigns. In der
Molekulargenetik beginnt man, die Bedeutung der Suche nach „Unterschieden“ auf
der DNA-Ebene hervorzuheben. Nachdem es kürzlich gelungen ist,
eine Zelle mit einem neuen Programm zu bauen, also künstliches Leben zu
schaffen, sind die Hoffnungen der Anthropotechnik entsprechend hochgeschraubt.
Für das Machbare gebe es keine Grenzen mehr, sagte Craig Venter in
branchenüblicher Vollmundigkeit, nur unsere Vorstellungskraft. Dann hören wir
doch einmal, was ein James Watson sich so vorstellt: „Wenn wir einen Weg finden, unsere Kinder zu verbessern, wird uns
niemand aufhalten. Es wäre dumm, ihn nicht einzuschlagen, weil es dann sonst
andere tun. Von ihren Eltern verbesserte Kinder werden die Welt beherrschen.“
Und: „Hitlers Gebrauch des Begriffs der Herrenrasse sollte uns nicht daran
hindern, die Genetik nie dafür benutzen zu wollen, um Menschen fähiger zu
machen als sie heute sind“.
Der englische Arzt und Rassentheoretiker
Caleb Saleeby phantasierte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer
zukünftigen Gesellschaft, die sich aller Kranken, Unerwünschten und Abweichler
entledigt hat. „Eutopia“ nannte er dieses purifizierte Paradies: guter Ort. Ein
Kommentar erübrigt sich. Eher verabreicht man sich eine Dosis heilsamen
Schrecks, indem man die ersten beiden Buchstaben von „Eutopia“ gross schreibt:
EU-topia. Das „gute“ Europa, befreit von allem genetischen Abfall.
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