Samstag, 28. Juni 2025

 



Eine Zoologie des Roadkills  


Automobilität und Animobilität

Die Strasse ist Technik in der Natur. Hier treffen sich die Mobilität der Fahrzeuge und die Mobilität der Tiere,  Automobilität und Animobilität. Und wo sich die Wege der Tiere und die Wege der Fahrzeuge kreuzen, liegt ein Kollisionspunkt von Ökologie und Technologie, der zu wenig bedacht wird: Roadkill, vom Fahrzeug «erledigte» Tiere. Eine abstrakte, tote und traurige Spezies. Hunderte von Millionen weltweit und jährlich, vom zerquetschten Insekt auf der Windschutzscheibe bis zum umgemähten Elch.  Tiere lassen sich nicht nur in Arten, sondern auch in soziokulturelle Kategorien unterteilen. Es gibt das Hätscheltier (Haus, Wohnung), das Nutztier (Bauernhof, Fleischfabrik, Labor), das schädliche Tier (Krankheiten), das didaktische Tier (Zoo), das Wildtier – und das Roadkill. Die ersten fünf Kategorien betrachten Ökologie aus der Sicht des Lebens, die letzte aus der Sicht des Todes.  Zwar tot, lebt das Roadkill nichtsdestotrotz weiter als Symbol für ein ganz bestimmtes Mensch-Tier-Verhältnis in unserer Gesellschaft. Und dieses Verhältnis ist geprägt von der Technologie - der Hegemonie des Autos – und vom Kapitalismus – dem Imperativ der totalen Verwertbarkeit. 

Hegemonie des Autos

Das Roadkill ist das Tier am falschen Ort, zur falschen Zeit. Also «Abfall» der Strasse. Das bringt den normalen Gesichtspunkt zum Ausdruck. Das Auto definiert, was ein falscher Ort ist. Es hat Vorfahrtsrecht vor dem Tier. Und ganz in diesem Sinn betrachtet sich der Auto-fahrer nicht als verantwortlich für die Kalamität. Er macht sich in der Schweiz allerdings strafbar, wenn er nicht den Tierbesitzer, die Polizei oder die Jagdaufsicht über den Unfall informiert. Er muss aus tierquälerischen Gründen mit weiteren rechtlichen Folgen rechnen, wenn das Tier qualvoll stirbt. Und wenn er ein totes Wildtier eigenständig transportiert, macht er sich der Wilderei schuldig. 

Ganz ohne Kollision mit dem Recht kommt also der in eine Tierkollision verwickelte Fahr-zeuglenker nicht davon. Dennoch kann er Absolution durch ein weitverbreitetes ideologisches Vorfahrtsrecht erwarten, das Automobilität über Animobilität setzt. Das heisst, normalerweise sieht man das Tier vom Gesichtspunkt der Strasse, und nicht die Strasse vom Gesichtspunkt des Tiers her. 

Die «nebensächliche Sterblichkeit»

Für die meisten Menschen in automobilzentrierten Regionen ist der Anblick von toten Tieren am Strassenrand zum Faktum des alltäglichen Lebens geworden. Und trotz dieser makabren Sinnfälligkeit tritt das Roadkill nicht ein in unser Kollektivbewusstsein. Schon der Pionier des Naturschutzes Aldo Leopold sprach von «accidental mortality», von nebensächlicher Sterblichkeit, die kein Grund zur Sorge sei, zumindest nicht auf Populationsebene. Die «ungewöhnliche Sichtbarkeit» der Todesfälle sei Anlass zu weitverbreitetem Alarm über die Zerstörung von Wild durch Autos. Aber es bedürfe keiner Berufung auf Autoritäten, um zu zeigen, dass dieser Alarm übertrieben sei.  Leopolds Beschwichtigung ist aus seinem Engagement für die Wildnis verständlich. Und hinter diesem Engagement steht eine Idee, die bis heute unsere Verhältnis von Zivilisation und Wildnis tief prägt. Beide sind getrennte Bereiche. Hier die Strasse, dort die Natur; hier das Zivilisierte, dort das Wilde. Wenn sie sich in zufälligen Kalamitäten begegnen, ist das einfach ein kollaterales Ereignis. 

Roadkill in Mode und Menu 

Tierkörper sind schon lange direkt und indirekt in einem immensen Angebot von Waren enthalten, von Nahrungsmitteln, Textilien, Pharmaka, Kosmetika bis zu – Gipfel der Ironie – Produkten rund ums Auto: Frostschutzmittel, Bremsflüssigkeit, Reifen. Der Verwertungsprozess macht auch vor dem Roadkill nicht Halt. Die Amerikanerin Pamela Paquin verkauft Modeartikel unter dem Namen «Petite Mort Furs», «Pelze des Kleinen Todes» - damit meint sie nicht orgasmische Freuden beim Tragen der Artikel, sondern weist auf deren Herkunft hin: Roadkill. 

Im Zeichen von Food Waste lässt sich der «Abfall» der Strasse auch als Nahrungsmaterie betrachten. Einmal von Gesundheitsrisiken abgesehen sind die am häufigsten totgefahrenen Tiere von Natur aus vitamin- und proteinreich und fettarm. Sie stammen zudem nicht aus industrialisierten Fleischfabriken, und weisen deshalb keine Antibiotika, Steroide und Hormone auf. Deshalb hat die sogenannte Roadkill-Küche Anklang unter Gourmets des Strassenkadavers gefunden. Vom amerikanischen Humorschriftsteller Autor Buck Peterson stammt eine Reihe von Roadkill-Kochbüchern. Er meint das ernst. Ernst meinen es auch die Subkulturen um den Verzehr von Roadkill. In West Virginia gibt es sogar ein Roadkill Festival, inklusive «cook-off», Kochwettbewerb. Man isst sich dabei sozusagen ein gutes Gewissen an. Wie die Kennerin und «Schamanin» Alison Brierley schreibt: «Die Leute den-ken, es handle sich bloss um Asphalt-Brei, den man von der Strasse loskratzen muss. Ich hatte am Anfang die gleiche Vorstellung, aber als ich mehr darüber lernte, begann ich zu denken: Das ist tatsächlich besser, besser für dich und besser für die Umwelt». 

Die Tierethiker entdecken Roadkill

Auch ein tierethisches Argument kommt zum Zuge. Den Tieren wurde in den meisten Fällen nicht unnötiges Leiden zugefügt, sie starben eines «akzidentellen» Todes. Deshalb sieht sogar der philosophische Guru der Tierbefreiung, Peter Singer, im Verzehr von Roadkill nichts Anstössiges: «Falls ein Tier bei einem Unfall getötet wird (..) und falls dieses Tier eine Nahrungsquelle ist, warum sollte man es nicht essen, wenn es essbar ist?» Ja, warum nicht. Die einflussreiche Tierschutzorganisation PETA («People for the Ethical Treatment of Animals») hat sich dieses Argument zu eigen gemacht. Sie preist Roadkill unter dem Slogan «Meat without Murder» an – vermutlich nicht ohne Ironie. «Roadkill ist (..) für den Konsumenten gesünder als das Fleisch voller Antibiotika, Hormone und Wachstumsstimulanzien (..) Es ist auch menschlicher, insofern als die auf der Strasse getöteten Tiere nicht kastriert, enthornt oder entschnabelt werden (..), nicht das Trauma und Elend des Transports in einem überfüllten Lastwagen erleiden, und nicht die Schreie und den Geruch der Angst der Tiere vor ihnen auf der Schlachtbank wahrnehmen».    

Das ist ein seltsames und irritierendes Argument. Ist das Töten von Tieren auf der Strasse humaner, weil keine Absicht dahinter steckt? Gewiss, es ist strikt gesehen kein Mord. Aber damit befördert man es nicht in ein ethisches Jenseits. Der Mainstream des Tierschutzes regt sich auf über die Hegemonie der industriellen Tierhaltung und -verwertung. Aber wie steht es mit der Hegemonie des Autos? Ist sie nicht das grosse Problem hinter dem Roadkill? Das Problem struktureller Gewalt, welche die Strasse auf die Umwelt ausübt?

Die strukturelle Gewalt der Strasse

Als strukturelle Gewalt bezeichnet die Soziologie die Benachteiligung von Gruppen aufgrund politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine Gewalt, die nicht von Personen oder Personengruppen ausgeübt wird. Der Soziologe Dennis Soron macht sie auch im Verkehr aus,   nämlich als ethische «Benachteiligung» von Strassentötung gegen-über industrieller Massentötung: «Kücken in Käfigen zu entschnabeln oder Labortiere zu quälen werden als absichtliches Verhalten betrachtet, das man ethisch beurteilen kann. Im Gegensatz dazu betrachtet man den vom Fahrzeuggebrauch verursachten Tod von Tieren eher als zufällig, unabsichtlich und deshalb jenseits ethischer Prüfung».

Natürlich wird das Tier von der individuellen Gewalt des Fahrzeugs zermalmt. Aber darum geht es Soron nicht: «Tatsächlich sucht die Mehrheit der Automobilisten, abgesehen von ein paar Sadisten, den Zusammenstoss mit Tieren zu vermeiden (..) Wenn wir die Verantwortung für Roadkill verorten wollen, müssen wir über die individuellen Werte und Absichten hinausblicken und untersuchen, wie Automobilität mit umfassenden Imperativen der Produktion, Konsumption und Regierungspolitik unter spätkapitalistischen Bedingungen verwickelt ist». Über die individuellen Werte hinausblicken bedeutet also, nicht nur eine tierfreundlichere Verkehrsinfrastruktur anzuvisieren, sondern mehr noch: im Roadkill Systemkritik am «auto-industriellen Komplex» zu üben, an der «sozial, psychisch und ökologisch zersetzenden Logik der Kommodifizierung selbst.»

Roadkill als ökologische Erziehung

Roadkill kann freilich auch der ökologischen Erziehung dienen. Bücher wie «Dieser Dreck auf deinem Fahrzeug. Ein einzigartiger Führer über Insekten in Nordamerika» («That gunk on your car: A unique guide to insects of North America»)  lehren einen Blick von der Tech-nik auf das Tier. Der Biologe Roger M. Knutson hat ein Buch mit dem Titel «Flattened Fau-na» («Flachgefahrene Fauna») geschrieben. Eine Zoologie des Roadkills. Sie mag unappetit-lich und  pietätlos klingen, sorgt aber genau für die notwendige Verstörung, die uns bewusst macht, wie tief das Auto unseren Blick auf die Umwelt prägt. In extremster Ausprägung im «off road»,  das Natur zum Übungsgelände von SUVs (Sport Utility Vehicle) umdefiniert. «Strassen gehören zur Landschaft» schrieb der amerikanische Kulturgeograf John Brinckerhoff Jackson. Wenn damit der Primat der Landschaft vor den sie erschliessenden technischen Mitteln gemeint ist, dann sind wir heute Zeugen einer umgekehrten Entwicklung: Landschaft gehört zur Strasse. Das heisst, Landschaft definiert sich dem modernen, urbanen, mobilen Menschen zunehmend über das Kriterium ihrer verkehrstechnischen Leitfähigkeit und Erreichbarkeit. Von dieser Entwicklung zeugt das Roadkill.

Ein Denkmal für jedes Roadkill

Der holländische Zoologe Bram Koese errichtete eine denkwürdige Installation entlang ei-ner Landstrasse.  Ihm fielen die zahlreichen Roadkills während der Stosszeiten auf, in denen Pendler die Staus auf den grossen Strassen zu umfahren suchen. Und er begann die toten Tiere während eines Jahres aufzulisten. 35 Säuger, 90 Vögel, 515 Amphibien. Schockiert von seinem Fund, informierte er die Gemeindeverwaltung. Sie zeigte sich unbeeindruckt. Daraufhin organisierte er mit Nachbarn und Freunden eine zivile Guerillaaktion. Sie stellten am Strassenrand 640 Grabkreuze auf, für jedes Roadkill, mit Todesdatum und Angabe der Spezies. Eine traurige Parade von weissen Kreuzen, die sich vier Kilometer lang bis zum Horizont hinzog. Ein Memento für die zahllos angehäuften Tode. Natürlich waren viele Strassenbenutzer über diese «Wokeness» nicht amüsiert und rissen die Mahnmale nieder. Koese und seine Guerillas richteten sie wieder auf. Der «Kampf» erregte öffentliche Aufmerksamkeit. Den kommunalen Autoritäten wurde ein wissenschaftlicher Bericht präsentiert, der die Funde detailliert analysierte. Man trug sich mit dem Plan, die Landstrasse nur für den lokalen Verkehr zu erlauben. 

Ich weiss nicht, ob mit politischem Erfolg. Aber die Sichtbarmachung des Massensterben am Strassenrand ist ein nachwirkender symbolischer Akt. Auch den Tieren gebührt ein Memento mori. Und das Sichtbarmachen ist ein Denkbarmachen. Die nachhaltigste Verwertung von Roadkill ist das Nachdenken über es. Auto und Tier sind Teile des Ökosystems. Denkmal für Roadkill verstehe ich deshalb im Sinne eines österreichischen Kabarettisten: «Für mich ist ‘Denkmal’ ein Imperativ, der aus zwei Wörtern besteht». 

Denk mal! Vielleicht sogar zweimal! 



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