Freitag, 3. Oktober 2025

 

Das Paradox der technologischen Entwicklung

Nach einer vorherrschenden Technikauffassung macht Not erfinderisch: Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung. Da ist ein Problem und durch eine Erfindung lösen wir es, sprich: verschwindet es. Die Ansicht kursiert heute unter der Bezeichnung des Technological Fix: Verwandle ein Problem in ein ingenieurales und löse es durch die Erfindung oder Verbesserung einer entsprechenden Technik. 

«Die Erfindung ist die Mutter der Notwendigkeit» 

Die Ansicht erweist sich bei näherem Betrachten als einseitig, mehr noch: als Paradox. Technik ist ambivalent. Oft stellt sie sich als das Problem heraus, für dessen Lösung sie sich hält. Der amerikanische Technikhistoriker Melvin Kranzberg hat deshalb vor vierzig Jahren den obigen Spruch umgekehrt und als «Kranzberg-Gesetz» formuliert: Erfindung ist die Mutter der Notwendigkeit. Er schlug damit – nicht ohne Ironie - ein anderes Narrativ vor: Innovationen schaffen neue Nöte, machen in der Regel weitere Zusatzerfindungen notwendig, um wirklich effizient zu werden. Das heisst, Erfindungen setzen einen innovativen Zyklus in Bewegung, der gewissermassen eine «kranz
berg’sche» Eigendynamik entwickelt. 

«Die Macht der Computers und die Ohnmacht der Vernunft» 

Die Computertechnologie macht sie exemplarisch sichtbar. Etwa in der Mitte des letz-ten Jahrhunderts sahen sich industrielle Produktion, Verkehr, Planung, ja, Politik mit einer Informationsflut konfrontiert, deren Management die menschliche Kapazität überstieg. Das war die Notwendigkeit, die den Computer auf den Plan rief. Und er präsentierte sich zunächst als wunderbarer Technological Fix. Aber schon anfangs der 1970er Jahre schrieb der Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum vom MIT sein vieldiskutiertes Buch«Die Macht des Computers und die Ohnmacht der Vernunft». Dem mulmigen Gefühl, eine maschinelle Intelligenz könnte der Kontrolle der menschlichen Intelligenz entgleiten, begegneten die Informatiker mit der Beschwichtigung, das Problem liesse sich durch weitere technische Entwicklung bewältigen. Und die Beschwichtigung hält bis heute an, im Mantra: Wartet nur, bis wir den richtigen Algorithmus gefunden haben! 

«Technologie geschieht, weil sie möglich ist»

Anders gesagt: Man konzentriert sich auf die Erfindung – um die «Nöte», die aus ihr folgen, kümmert man sich später. «Technologie geschieht, weil sie möglich ist». Dieser Satz von Sam Altman - CEO von OpenAI - echot einen berühmten anderen Satz, jenen von Robert Oppenheimer, Leiter des Atombombenbaus im Manhattan-Projekt: «Wenn man etwas sieht, das technisch verlockend ist (‘technically sweet’), macht man es einfach, und man diskutiert erst später darüber, was man damit anfangen soll – nachdem man den technischen Erfolg erzielt hat. So war es mit der Atombombe.» Und einer der Pioniere des Deep Learning – Geoffrey Hinton – äusserte den Satz fast wortwörtlich mit Bezug auf die KI. 

Die Erfindung ist die Mutter des Bedürfnisses

Kranzbergs Gesetz hat - vor allem im Zeitalter der KI-Technologie und ihrer monopolistischen Firmen -  einen anderen, einen psychologischen Aspekt. Lesen wir «Notwendigkeit» als «Bedürfnis», dann lässt sich das Gesetz so formulieren: Die Erfindung ist die Mutter des Bedürfnisses. Sie schafft Bedürfnisse, die vorher nicht existierten. Die Technikgeschichte zeigt ein wiederkehrendes Phänomen: Erfindungen haben es oft schwer. Ihre Durchsetzung als Innovation muss einem Bedürfnis entsprechen, und ein solches existiert oft aufgrund sozial und kulturell verwurzelter Interessen nicht.  Zu Gutenbergs Zeiten ertönten nicht Jubelschreie «Endlich gedruckte Texte!», vielmehr beeilten sich die Kopisten, die Presseprodukte mit einem lokalen Bann zu belegen. Der erste Verbrennungsmotor, um 1860 von Nicolaus Otto gebaut, führte nicht zur Produktion entsprechender Vehikel, weil die Leute mit Pferden und Eisen-bahnen zufrieden waren. Der Transistor wurde in den USA erfunden, aber die Elekt-roindustrie ignorierte ihn, um die Produkte mit Vakuumröhren zu schützen. 

«There’s a That for this App”

KI-Technologie ist primär eine Bedürfnisproduktion. Sie braucht den Kunden als Be-dürftigen. Ein Ex-Geschäftsstratege bei Google beschreibt die Industrie als die «umfassendste, normierteste und zentralisierteste Form der Verhaltenskontrolle in der Geschichte der Menschheit (..) Ich realisierte: Da ist buchstäblich eine Million Menschen, die wir sozusagen anstubsen und überreden, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden». 

«There’s an App for That» lautete der Werbespruch von Apple 2009. Aber er sollte eigentlich lauten: «There’s a That for this App». Besessen vom nächsten neuen Ding hetzt heute die Entwicklung in einer Endlosschleife der Innovationen manisch vorwärts. Mit all dem Schnickschnack und seinen laufenden Updates verkaufen die Firmen Verhaltensweisen, und sie dressieren uns immer neue Bedürfnisse an. 

Der Ingenieur als Sisyphos

Gibt es einen Ausstieg? Die Technikhistorikerin Martina Hessler ruft in ihrem Buch «Sisyphos im Maschinenraum» eine mythische Figur auf den Plan. Der moderne Sisyphos ist der vom Technological Fix beherrschte Mensch. Er schiebt den Stein der technischen Lösungen immer höher, aber er erreicht dadurch nur, dass der ersehnte Gipfel sich weiter entfernt. Er hat seine Strafe selber gewählt, getrieben vom Wunsch, die Welt allein mit Technik zu verbessern, ja, zu vervollkommnen. Technological Fix sagt alles: Befestigung einer bestimmten Vorgehensweise; die Abhängigkeit vom Pfad, den man eingeschlagen hat. Das Sisyphoshafte ist dieser Art von Entwicklung inhärent. Wie Martina Hessler bemerkt, verbleiben «technologische Lösungen in der Re-gel in einer Logik, die das Bisherige fortsetzt (..) Die vermeintlich disruptiven Technologien erweisen sich aus dieser Perspektive gar nicht als disruptiv, sondern lösen das Problem in der Logik des Problems, anstatt es kreativ völlig neu zu denken». 

Das ist der springende Punkt. Technologie ist mehr als ein Gerätepark. Die neuen smarten Maschinen bilden ein Dispositiv, das unser Fragen immer schon in eine ganz bestimmte Richtung lenkt. Technik wirkt dadurch wie eine Art von Vorsehung. Niemand zwingt mich, ein Gerät zu verwenden. Aber wenn es den Verwendungszusammenhang definiert, aus dem ich nicht einfach so aussteigen kann, dann bin ich seinem zwanglosen Zwang unterworfen. Die KI-Systeme nisten sich ein in unserem Blick, werden zu einem Stück unserer selbst. 

Eine selbst herbeigeführte Gattungsverdummung

Sam Altman schwadronierte 2021 von einer vierten «KI-Revolution» nach den drei anderen technologischen Revolutionen: der landwirtschaftlichen, der industriellen und der computerbasierten. Er betonte dabei, dass diese vierte Revolution «sich auf die beeindruckendste unserer Fähigkeiten konzentriert: die phänomenale Fähigkeit zu denken, zu erschaffen, zu verstehen und zu schlussfolgern». Die Bemerkung ist entlarvend, denn Altman verschwieg die tiefe Paradoxie, dass uns die KI-Industrie ja gerade diese Fähigkeit abzunehmen sucht. Wir haben sehr viel Intelligenz in Geräte gesteckt, und als fatal daran erweist sich, dass uns die Geräte zum Nichtgebrauch unserer  Intelligenz verleiten – zu einer selbst herbeigeführten Gattungsverdummung, die sich als Triumph zelebriert.


Mittwoch, 24. September 2025

Die Angst des Logikers vor dem Widerspruch

Vom Zwang des Binären


Logik hasst den Widerspruch. Entweder ist eine Aussage wahr oder falsch, ein Drittes gibt es nicht – tertium non datur. Ein viel zitierter Grund für den logischen Bann des Dritten lautet, dass man aus einer logischen Kontradiktion sowohl eine Behauptung wie ihr Gegenteil – also Beliebiges - schliessen könne : ex falso quodlibet (in der Kurzform). Nun leben wir im Zeitalter des Bullshits, dessen Logik sich einen feuchten Kehricht um Widersprüchlichkeit kümmert. Ein Schlag windiger Politiker bevorzugt sie sogar als Argumentationsstil: Was ich sage, ist wahr, und wenn ich im gleichen Satz das Gegenteil sage, ist das auch wahr –  logic sucks. 

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Es geht hier freilich nicht um politische Pathologien, sondern  um ein viel tieferes Problem. In der Logik muss man «müssen». Der arabische Philosoph Avicenna, der dem europäischen Mittelalter die aristotelische Logik übermittelte, war in dieser Hinsicht erbarmungslos: «Jeder, der das Gesetz des Nicht-Widerspruchs (des ausgeschlossenen Dritten, E.K.) leugnet, sollte geschlagen und verbrannt werden, bis er zugibt, dass geschlagen zu werden nicht dasselbe ist wie nicht geschlagen zu werden, und dass verbrannt zu werden nicht das-selbe ist wie nicht verbrannt zu werden».

Ein zwangloser Denkzwang steckt im Schliessen, und man kann sich fragen, was denn da eigentlich zwinge. «Sei logisch!» bedeutet ja im Grunde «Halte dich an die Spielregeln!», und damit meint man die Spielregeln des Denkens. Aber kennt das Denken nur ein einziges Spiel? Und gibt es überhaupt universelle Spielregeln? Einen kategorischen logischen Imperativ?

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Widerspruchslosigkeit bildet das Fundament der Mathematik. Es ist freilich nicht so kompakt, wie man gemeinhin annimmt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert machten sich die besten Köpfe daran, die Mathematik durch die Mengenlehre logisch zu zementieren. Aber es zeigte sich, dass diese Grundlagen selbst vom Widerspruch kontaminiert waren. David Hilbert – Vordenker seiner Zeit - entwarf daraufhin ein ganzes Forschungsprojekt, mit dem Ziel, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen. Als Ideal strahlte eine logisch geölte formale «Maschine», die bei jedem Satz, den man ihr eingibt, entscheiden könnte: er ist beweisbar oder widerlegbar. 

Das Projekt – so schön binär es aussah - hatte nicht den geplanten Erfolg. Spielverderber war der Logiker Kurt Gödel mit einem mathematischen Husarenstück. Er konstruierte ein formallogisches System, in das er die elementare Arithmetik übersetzte. Alle arithmetischen Sätze und auch ihre Beweise lassen sich darin ausdrücken. Wäre das System vollständig, könnte man zeigen, dass alle wahren Sätze in ihm beweisbar sind. Aber das System hat einen Webfehler. Es enthält notwendig einen «Fremdkörper», einen arithmetischen Satz, der wahr ist, aber weder beweis- noch widerlegbar. Das gilt nota bene unter der Annahme der Widerspruchsfreiheit des Systems. Und Gödel doppelte mit einem zweiten Resultat nach: Man kann noch so umfassende formallogische Systeme bauen, sie vermögen mit ihren Mitteln nicht die eigene Widerspruchsfreiheit zu beweisen. Entweder ist ein solches System um-fassend, aber nicht widerspruchsfrei; oder es ist widerspruchsfrei, aber nicht umfassend. Es enthält unbeweisbare Sätze. 

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Man kann Logik als Theorie der Gültigkeit von Schlüssen betrachten; als Versuch, Rechenschaft zu geben, welche Konklusionen legitim aus Prämissen folgen. Die Crux ist das Wort «legitim». Wer definiert es verbindlich? Wer ist oberster Schiedsrichter? Wenn Gödel bewies, dass es keine vollständige widerspruchsfreie Theorie der Mathematik gibt, warum dann nicht eine vollständige Theorie, die Widersprüche enthält? Muss man den Widerspruch wirklich so fürchten wie der Teufel das Weihwasser? Ludwig Wittgenstein spricht einmal von der «abergläubischen Angst und Verehrung der Mathematiker vor dem Widerspruch». Er konnte sich nicht mit der Idee anfreunden, dass Arithmetik – Mathematik generell – ein unvollständiges «Sprachspiel» sei. Sie ist vollständig, aber nicht widerspruchsfrei. In einem Gespräch mit Alan Turing äusserte sich Wittgenstein unmissverständlich zur Warnung «ex falso quodlibet»: «Wenn man daraus jede beliebige Folgerung ziehen will, dann ist das die einzige Schwierigkeit (..) Und ich würde sagen: ‚Nun gut, dann ziehe einfach keine Schlüsse aus Kontradiktionen’». 

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Das Widersprüchliche, Absurde ist eine reiche und unerschöpfliche Ideenquelle, auch in der Wissenschaft - der heimliche Motor der Fortschrittsdynamik. Erinnern wir uns nur daran, dass der Abschied von scheinbar selbstverständlichen Prinzipien oder Axiomen uns vordem «unbegreifliche» Wissensterritorien erschloss. Man denke etwa an die Wurzel aus -1, die imaginäre Zahl, mit der man lange Zeit nicht rechnen zu können glaubte; an die nicht-euklidische Geometrie oder an die Nichtstandardanalysis mit ihren hyperreellen Zahlen. Alle Theorien haben den Horizont ins mathematisch «Undenkbare» ausgeweitet.

Es gibt zeitgenössische Logiker, die der Widerspruch nicht abschreckt. Der brasilianische Mathematiker Newton da Costa formulierte bereits in den 1960er Jahren eine sogenannte parakonsistente Logik. Der britisch-australische Logiker Graham Priest arbeitet in dieser Tradition weiter. Er stellt den logischen Widerspruch zudem in einen erweiterten kulturellen Horizont. So ist schon lange bekannt, dass östliche Traditionen das Denken in Paradoxien pflegen, etwa das zenbuddhistische Koan. Priest weist auf eine nicht-binäre Denkfigur im indischen Buddhismus hin, das «Catuskoti» oder die «vier Ecken».  Catuskoti kennt nicht nur die Werte «wahr» und «falsch», sondern auch «wahr und falsch», sowie «weder wahr noch falsch». Beispiele für «weder wahr noch falsch» sind keineswegs ungewohnt. Wir kennen sie als Prognosen: «Trump wird 2024 nicht zur Wahl stehen». Eines der berühmtesten Beispiele für «wahr und falsch» ist schon irritierender, das Lügner-Paradoxon: «Was ich sage, ist falsch». Wenn der Satz wahr ist, dann äussert er etwas Falsches; und umgekehrt. Das Paradox tritt wohlgemerkt nur dann auf, wenn man ausschliesst, dass ein Satz wahr und falsch sein kann. Das Catuskoti tut das nicht. 

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Könnte das binäre Entweder-oder der Spezialfall einer nicht-binären Logik sein – einer Logik, die mit Abstufungen operiert? Das ganze 20. Jahrhundert hindurch haben Denker sich mit alternativen oder mehrwertigen Versionen der klassischen Logik beschäftigt. Nur eine seltsame Obsession von welt¬fremden Köpfen? Im Gegenteil. Gerade Computerwissenschaft und KI-Forschung decken die Weltfremdheit herkömmlichen binären Denkens auf. Computerprogramme beruhen letztlich auf automatischen formalen Systemen, in denen alles algorithmisch geregelt ist. Bei der Übersetzung in formale Sprachen gehen viele relevanten Informationen verloren. Wir nehmen das in Kauf, weil wir von Computern erwarten, dass sie auf logisch konsistente Weise arbeiten: binär. Füttert man einen Computer mit inkonsistenten Datensätzen, dreht er möglicherweise durch, sprich: hält er nicht an. Ein Algorithmus aber, der nicht anhält, ist keiner. 

Bertrand Russell, auch er ein grosser mathematischer Denker, schrieb 1923 einen Essay über Vagheit. Darin steht der bedenkenswerte Satz: «Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten ist wahr, wenn man präzise Symbole einsetzt, aber es ist nicht wahr, wenn die Symbole so vage wie alle Symbole sind». Dieses Schlüsselmerkmal der natürlichen Sprache verhilft uns, Entscheide auf unscharfer Informationsbasis zu fällen. Genau das erwarten wir ja von KI-Systemen, die man in den Alltag integriert. Sie scheitern oft aufgrund ihrer sturen Binarität. Seit den 1960er Jahren suchen Mathematiker, Logiker und Ingenieure, dieses zentrale Charakteristikum menschlicher Intelligenz – ihre Vagheit oder «fuzzyness» - in einer präzisen Sprache zu formulieren. Und es gelingt ihnen erstaunlich gut. Die «Fuzzy Logic» kann mit Alltags-Folgerungen umgehen wie «Wenn es ein bisschen regnet, wird man ein bisschen nass». Sie ist heute Basis von «unscharfen» Algorithmen, die auf zahlreichen techni-schen Gebieten Anwendung finden: nicht-binäre künstliche Intelligenz. 

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Hüten wir uns vor einem Missverständnis. Es geht nicht um eine «alternative» Mathematik, im Sinne von «alternativen» Fakten. Es geht darum, zu lernen, wie wir Menschen mit Widersprüchlichkeiten umgehen – erfolgreich umgehen. Die Technologie braucht widerspruchstolerante Systeme. Diese logische Geschmeidigkeit würde sie sogleich auch eine Spur «humaner» erscheinen lassen (sofern wir das überhaupt wollen). Im Grunde leben wir nämlich ständig parakonsistent. Unser Alltag ist gespickt mit Halbwahrheiten, Widersprüchen, Aporien, Dilemmata, Paradoxa. Kein Problem, darin zu sagen «Heute regnet es und regnet auch nicht». 

Widersprüche kennzeichnen entscheidende Durchbrüche in der Forschung. Das Gegenteil einer tiefen Wahrheit ist eine andere tiefe Wahrheit, lautete das Motto von Niels Bohr in der Diskussion um die Interpretation der Quantentheorie – ein wahrer Widerspruch! Widersprüche veranlassen uns, eine Denkposition zu überprüfen, sie allenfalls zu verlassen, Widersprüche zwingen zu Begriffsklärungen, sie lösen uns aus sklerotisierten Denkgewohnheiten. Ja, geistige Gesundheit zeichnet sich aus durch ein gewisses Mass an Widerspruchsfreundlichkeit. Geistesgestörtheit dagegen manifestiert sich oft symptomatisch in pathologischer – in «maschineller» - Widerspruchsaversion. 

«Logik bringt uns dem Himmel näher als jede andere Wissenschaft», schrieb Bertrand Russell. Bleiben wir besser auf der Erde.


Montag, 8. September 2025

 


NZZ,  26.8.25

Technologischer Progress bis zum Exzess 

Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Jervis formulierte in der Zeit des Kalten Krieges das sogenannte Sicherheitsdilemma, eine zentrale Denkfigur der Geopolitik. Jervis’ Annahme: Nationen sind primär mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt. Dazu rüsten sie sich mit Waffen auf. Auch wenn diese Aufrüstung aus defensiven Gründen geschieht, so kann daraus unbeabsichtigt ein offensiver Effekt resultieren. Was die eine Nation als Schutzmassnahme betrachtet, interpretiert die andere als agressiven Akt. In einer Situation, in der keine supranationale  Instanz  bindende Abkommen durchsetzen kann, empfiehlt sich für beide Nationen die Strategie des Aufrüstens. Aber dadurch manövrieren sie sich in eine paranoide Spirale gegenseitigen Verdächtigens, die das Risiko und die Letalität eines Krieges erhöht. 

Drohkulisse für Jervis’ Sicherheitsdilemma war die Nuklearwaffe. Ihr Nimbus der Einzigartigkeit rührt von ihrem immensen Zerstörungspotenzial her, genauer gesagt,  vom  «harten» materiellen  Zerstörungspotenzial. Nun steht die technologische Entwicklung im Zeichen der KI-Systeme, einer «weichen» immateriellen Waffe. Sie droht den Menschen nicht materiell zu zerstören, sondern «von innen heraus», indem sie Möglichkeiten schafft, sein Verhalten unterschwellig  zu steuern. Dadurch kann das gefährdet werden, was wir  – zu-mindest in modernen Demokratien – als das Wertvollste am Menschen schätzen: die Unantastbarkeit seines Willens, seine intellektuelle Mündigkeit, sein Status als frei entscheidender Bürger. Dass die globale Autokratenclique die KI als patente künstliche Prätorianer-garde begrüsst, versteht sich von selbst. 

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Heute prägt das Sicherheitsdilemma primär das globale technologische Wettrüsten, im Besonderen die Beziehung der beiden Grossmächte USA und China. Beide sind sich einig über den Charakter des Spiels. Wer obenauf ist, regiert die Welt. Mit den Worten von Alex Karp, des Mitbegründers von Palantir, einer der führenden Firmen für Softwareanalyse: «Unsere Gegner werden keine Auszeit nehmen, um theatralische Debatten über die Vorzüge von Technologien mit kritischen militärischen und sicherheitspolitischen Anwendungen zu führen. Sie werden einfach vorangehen.» 

Das ist der Punkt. Wenn nicht wir in Silicon Valley es tun, tun es die anderen in Shenzhen. Entweder verzichtet eine Nation auf geopolitische Vormachtstellung und begibt sich in die Abhängigkeit der avancierteren Nation – oder sie tritt ein in die entfesselte agressive Technologieentwicklung, ungewiss der Schäden und Trümmer, die daraus resultieren mögen. 

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Nun ist diese binäre Logik keineswegs naturgegeben. Es sind geopolitische Druckverhältnis-se, die sie notwendig erscheinen lassen. Der Zweite Weltkrieg markierte den Start des Com-puterrennens. Der Kalte Krieg befeuerte das Rennen im Weltraum zwischen den USA und der Sowjetunion. Japans Überlegenheit in der Halbleiterindustrie in den 1980er Jahren war der Beginn des Chipherstellungsrennens mit den USA. Vergessen wir nicht die Gentechnologie. Die Beijing Genomics Institution (BGI) studierte schon 2013 die DNA von Hochbegabten – mit dem Ziel, dank Gen-Engineering eine smartere Bevölkerung zu schaffen. An die-sem Eugenik-Rennen machen auch die USA mit. 

In ein buchstäbliches Rattenrennen tritt die Gehirnforschung. Im Zentrum steht das sogenannte Brain-Brain-Interface, BBI – die Beeinflussung durch direkte Signalkommunikation zwischen Gehirnen; zwischen Rattenhirnen, aber auch zwischen Menschen- und Rattenhirnen. Als immer wichtiger erweist sich das Brain-Computer-Interface (BCI), die Verschaltung von Gehirn und Computer. Ausdrücklich erklärt das chinesische Ministerium für Industrie und Informationstechnologie, in Konkurrenz zu Elon Musks Firma Neuralink zu treten.  Das Gehirnchip-Rennen hat Fahrt aufgenommen.

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Es gibt in diesem Wettlauf die «Hemmer» und die «Beschleuniger». Der Hemmer spekuliert darauf, dass die Nutzer smarter Geräte sich deren negativen Seiten bewusst werden. Dadurch könnte das Dilemma in einer Art von technologischem Waffenstillstand entschärft und ein Forum für Debatten über alternative Entwicklungen eröffnet werden - ein Techno-Moratorium.  So wünschenswert das auch erscheint, wir machen damit die Rechnung ohne das Dilemma. Die neuen Technologien prägen bereits derart tief unsere alltäglichen Verhaltensweisen, dass ein Verzicht schwierig, wenn überhaupt denkbar erscheint. Wenn man einmal eingetreten ist, so scheint es, kann man nicht mehr austreten. Wider Willen muss der Nutzer das Spiel der grossen Player mitmachen. 

Der Beschleuniger leugnet die Schattenseiten oder spielt sie herunter. 2023 verfasste der Risikokapitalist Marc Andreessen ein «techno-optimistisches Manifest», in dem er das Auf-kommen von Supermännern beschwört. Darin liest man zum Beispiel: «Wir können zu einer weitaus höheren Lebens- und Daseinsweise fortschreiten. Wir haben die Werkzeuge, die Systeme, den Willen. (..) Wir glauben an die Grösse. Wir glauben an den Ehrgeiz, an die Agression, die Hartnäckigkeit, die Unbarmherzigkeit, die Stärke.» 

Solche Worte erinnern auf höchst unangenehme Art an eine Mentalität des Ersten Weltkriegs. Damals sprachen die französischen Militärhandbücher von der «attaque à outran-ce», dem Krieg bis zum Exzess. Nach dieser Doktrin muss man damit drohen, alles einzusetzen, um den Krieg zu beenden - alles, das waren neue Superwaffen wie Maschinengewehre, Flammenwerfer, Panzer, Flugzeuge, Giftgas. Die Strategen waren überzeugt, dass nur das kompromisslose Vorwärtsdrängen Erfolg versprach. Sie glaubten, mit Andreessen geprochen, an «den Ehrgeiz, an die Agression, die Hartnäckigkeit, die Unbarmherzigkeit, die Stärke.» 

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Der technologische Exzess ist in das Sicherheitsdilemma eingebaut, unabhängig von den Ideologien und Motiven der beteiligten Spieler. Sicherheit bringt nur das Vorwärtsstürmen, nicht das Einhalten, nicht das Überlegen. Und paradox ist: Die Spieler würden vielleicht so-gar eingestehen, dass sie besser dran wären, drehten sie die Spirale nicht unablässig weiter. Aber sie sind besessen von der Logik des Spiels, das nächste «Superding» zwinge den Gegner in die Knie. Sie sind gefangen in einem Dilemma, das ihr Handeln immer näher an den Abgrund treibt. Eine Situation blanker Absurdität: Man diskutiert darüber, ob wir uns in einem «chinesischen» oder «amerikanischen» Jahrhundert befinden,  dabei ist die Frage vordringlicher, ob wir in diesem Jahrhundert noch die Kurve kriegen, den Planeten zu ret-ten. 

Zweifellos hat uns der technologische Fortschritt das Leben in mancherlei Hinsicht erleichtert. Doch es gibt eine bekannte Dialektik dieses Fortschritts: die unvorhergesehenen und unbeabsichtigen Folgen der Technologie. Sie können nicht nur kurzfristig zu wirtschaftlichen Instabilitäten und Jobverlusten führen, sondern langfristig zu sozialen Ungleichgewichten, zu prekären Versorgungsverhältnissen, zum Verlust menschlicher Fähigkeiten und Handlungsoptionen, zur Unterminierung von Traditionen, zur Ausweitung der staatlichen Macht über die Bürger. Nicht  zuletzt trägt all dies zur geopolitischen Unsicherheitslage bei, in der wir heute stecken. 

Das Wettrüsten von Computer-, Gen- und Neurotechnologie nimmt seinen Lauf. Das Mindeste, was wir tun können, ist falsche Hoffnungen zu vermeiden. Trösten wir uns auch nicht mit dem Gedanken, dass der alte Kalte Krieg nicht zu einem Weltenbrand führte. Der amerikanische Abschreckungstheoretiker und Nobelpreisträger Thomas Schelling erklärte dieses Nicht-Ereignis zum «spektakulärsten Ereignis» der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob der neue Kalte Krieg auch in einem spektakulären Nicht-Ereignis endet, ist nicht ausgemacht. 






Freitag, 29. August 2025

 


Salavaux Plage




Sterbliche Computer 

Leben als Rechenprozess

Eine tiefverwurzelte Intuition lässt uns den Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz als den Unterschied zwischen Lebens- und Rechenprozess empfinden. Wir sagen, KI-Systeme würden stur «mechanische» Regeln befolgen, und wir perpetuieren da-mit einen alten Gegensatz, der das philosophische Denken der Neuzeit tief prägt: den Gegensatz zwischen Lebewesen und Maschine, Organismus und Mechanismus. Tatsächlich aber weisen Entwicklungen in der KI-Forschung schon seit längerem darauf hin, dass – um es vorsichtig zu formulieren - die Grenze zwischen Lebens- und Rechenprozessen verschwimmt. 

Die Konvergenz von Biologie und Computerwissenschaften hat eine fast hundertjährige Geschichte. Sie liegt in einem genialen theoretischen Entwurf des Mathematikers Alan Turing begründet. Er konzipierte in den 1930er Jahren eine ideale Maschine, die all das simulieren kann, was wir in einem herkömmlichen Sinn «rechnen» nennen – und weit mehr, nämlich jeden Vorgang, der automatisch, algorithmengesteuert abläuft. Man nennt diese Maschine «universelle Turingmaschine». Das Revolutionäre an ihr ist die Medienunabhängigkeit. Es spielt keine Rolle, ob Algorithmen auf der Basis von Zahnrädern, Elektronenröhren, Siliziumchips oder organischen Molekülen operieren. Das Maschinelle oder Rechnerische steckt, anders gesagt, potenziell in allem. Auch im Organischen. Turing öffnete den konzeptuellen Weg, insbesondere Lebensvorgänge als Rechenprozesse zu begreifen. Er ermöglicht Fragen wie: Gibt es eine Turingmaschine für Wachstum, Proteinbau, Stoffwechsel, Selbstreplikation? Ist nicht die Evolution selbst eine solche Maschine?

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Ein anderes Genie der Computertheorie, der Mathematiker John von Neumann, nahm diese Fragen auf. Er erweiterte Turings universellen Rechner zu einem Modell des selbstreproduzierenden Automaten, des «universellen Konstruktors». Er besteht aus zwei Hauptkomponenten. Der Konstruktionsteil baut gemäss einem gespeicherten Bauplan eine neue Maschine; und der Kopierteil kopiert den Bauplan selbst und übergibt ihn an die neue Maschine. Von Neumann machte die Logik eines solchen Automaten explizit und lieferte damit eine Antwort auf das Problem: Wie kann eine Maschine nicht nur ihre Struktur, sondern auch die Information zum Aufbau ihrer Struktur weitergeben?

Nun ist das alles Theorie. Der selbstreproduzierende Automat ist ein mathematischer «Organismus», kein natürlicher. Dass er zuhauf in der Natur vorkommt – in der konkreten Gestalt von Lebewesen -, ist das eine; ihn technisch zu realisieren, das andere. Die Idee der organischen Materie als Substrat für Rechenprozesse wurde in den 1960er Jahren realisier-bar, als François Jacob und Jacques Monod vorschlugen, in den Biomolekülen eine Art von Programmsprache für die Proteinsynthese zu sehen. In den 1970er Jahren erkannte der Informatiker Charles Bennett, dass sich in Biomolekülen - etwa in der RNA-Polymerase – Turings Maschinenkonzept materialisieren lässt, und er spekulierte bereits über Moleküle, die energieeffizientere Rechner liefern könnten. In den späten 1980er Jahren prägte der Computerwissenschaftler Christopher Langton den Begriff des «Artificial Life», und er um-schrieb mit ihm ein Projekt, das vom «Leben, wie wir es kennen» übergeht zum «Leben, wie es sein könnte» - das heisst, zur Nachbildung von Naturphänomene in alternativen Medien. 

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Dieses Projekt wird heute auf vielen Feldern des «Bio-Computing» verfolgt. Man verschaltet zum Beispiel lebende Neuronen mit Chips. Ein australisches Forscherteam kultivierte das Netz von etwa 800’000 Zellen eines embryonalen Mäusegehirns in vitro, und «pflanzte» diese Schicht einem dichten Gitter von Mikroelektroden «auf». Die Neuronen reagierten auf die elektrischen Signale und lernten durch positive und negative Rückkoppelung ein einfaches Computerspiel. «DishBrain» nennt sich dieses System: Gehirn in der Petrischale.  Die Forscher versprechen sich von solchen Bio-Hybriden, die «inhärente» Intelligenz des biologischen Systems nutzen zu können.   

Oder man studiert Organismen wie den Schleimpilz auf seiner Futtersuche. Er löst das Problem, eine Anzahl Punkte – Nahrungsquellen - mit einem Netz kürzester Länge zu verknüpfen.  Für die Informationstheorie stellt dies ein notorisch kniffliges Problem dar, das mit wachsender Zahl von Punkten dem Computer sehr schnell eine immense Rechenleis-tung abfordert.  Womöglich steckt in der schleimigen Biologie der Schlüssel für einen effi-zienten Algorithmus. Die Natur als Terra incognita unbekannter «Rechenverfahren» …

Einer der grössten Wissenschaftsverlage der Welt - Springer Nature - lädt kürzlich zu Bei-trägen im Forschungsfeld des Biocomputing ein. Er begründet dies mit dem Hinweis auf einen «Paradigmenwechsel in der Konvergenz biologischer Systeme, Materialtechnik und computergestützter Technologien» (..)  Mit dem Fortschritt der Organoid- und lebenden Bio-Hybrid-Technologien bietet die Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) in diese lebenden Strukturen eine spannende Gelegenheit, neue Formen der Biocomputing zu erforschen (..) Die Zeit für diese Erforschung ist reif, da Fortschritte im Gewebeengineering und bei KI-Algorithmen sich rasant entwickeln und eine genauere Untersuchung ihres kombinierten Potenzials erfordern.» 

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Ein Typus von Computer nimmt Gestalt an, den Geoffrey Hinton - ein Pionier des Deep Learning – unlängst «sterblich» genannt hat.  Er brachte damit etwas Offensichtliches zur Sprache: Biologische Rechensysteme sind untrennbar mit dem physischen Substrat verbunden. Wenn wir sagen, das Gehirn rechne, dann meinen wir, dass der neurophysiologische «Kalkül» vollständig im Gewebe – in der «Wetware» - abgebildet ist. Sterbliche KI muss die Fakten des Lebens lernen. Intelligenz braucht die Auseinandersetzung mit der Umwelt, sie ist ein Produkt dieser Auseinandersetzung. Davon zeugt die immense Vielfalt intelligenter Lebensformen, vom Bakterium bis zum Bonobo. Und die Frage stellt sich, inwieweit und ob sich diese evolutionäre Fülle je völlig mit den Algorithmen ausbuchstabieren lässt, die wir kennen und ersinnen können. 

Wie auch immer, allmählich dämmert den Architekten der künstlichen Netze, dass sie - buchstäblich - die Rechnung ohne das «feuchte» Medium machen. Das heisst, immer klarer treten die «Features» des biologischen neuronalen Netzes in den Vordergrund. Um nur kurz drei anzuführen. Erstens arbeitet das menschliche Gehirn viel energieeffizienter als das künstliche. Zweitens sind Neuronen keine simplen Recheneinheiten, an denen man einfach die Gewichte justiert, sondern hochkomplexe dynamische Systeme, die Signale gepulst verschicken und sich dabei chemisch ändern. Und drittens sind die synaptischen Veränderungen zwischen Neuronen vielschichtiger als die statistischen Optimierungsverfahren, die man beim maschinellen Lernen verwendet. 

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Ist Leben ein Rechenprozess? Das ist keine hilfreiche Frage. Sie sollte vielmehr lauten: Welche Werkzeuge lassen sich zwischen Biologen und Computerwissenschaftlern austauschen, damit sie wechselseitig ihre Disziplinen befruchten können - und wie weit gelingt das?  Dieser Austausch verabschiedet heute den alten binären Raster von Organismus versus Mechanismus. Ein erzsimpler Unterschied bleibt dennoch. Den Computer haben wir geschaffen - nicht aber das Leben. Deshalb ist es wohl so schwer zu verstehen. 



Samstag, 2. August 2025

 



Neurobiologie der Ideologie – selber eine Ideologie?

Wir alle sind ideologieanfällig. Was natürlich die Frage provoziert, ob und inwieweit diese Anfälligkeit im Gehirn verankert ist. Es gibt neuerdings eine Disziplin namens politische Neurobiologie, die unsere Ideologieanfälligkeit durch die Gehirnbrille betrachtet. Die Neuropsychologin Leor Zmigrod hat zu diesem Thema ein Buch verfasst: «Das ideologische Gehirn» (deutsch 2025). 

Es reiht sich ein in eine Tradition, die politisches und moralisches Verhalten neurowissenschaftlich zu erklären versucht – ein mittlerweile eigenes Genre mit Autoren wie John Gribbin, David Amodio, Jonathan Haidt, Michael Gazzaniga, Chris Frith. Diese vertreten keineswegs einen kruden Neuro-Reduktionismus, wie er sich im Materialismus des 19. Jahrhunderts äusserte, etwa in der berüchtigten Analogie des Mediziners Carl Vogt, der Geist verhalte sich zum Gehirn wie der Urin zur Niere. Doch bei allem Fortschritt bleiben sie eine Antwort auf die Frage schuldig, wie Geist und Gehirn zusammenhängen. Das ist bei Leor Zmigrod nicht anders. 

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Ihr Schlüsselbegriff ist Rigidität. Er kennzeichnet den ideologischen Denkstil, zumal drei Hauptmerkmale: erstens das starre Festhalten an einer Doktrin, zweitens die Resistenz gegenüber neuen Erkenntnissen, drittens den Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst, die Bevorzugung der eigenen Meinung gegenüber der Meinung anderer.  Dass ein solcher Denkstil zu Intoleranz disponiert, liegt auf der Hand. 

Was fügt Frau Zmigrod Neues hinzu? Eine Hypothese: Gedankliche Rigidität wider-spiegelt neuronale Rigidität. Damit verschiebt sie den Fokus von geisteswissenschaftlichen zu naturwissenschaftlichen Erklärungen. Aber sie geht weiter. Sie reklamiert für sich einen «neuen und radikalen wissenschaftlichen Ansatz». Gleich am Anfang schreibt sie keck: «Für mich sind Gehirn und Geist ein und dasselbe, denn es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der menschliche Geist ohne Gehirn existiert». Als ob ein solcher Beweis nötig wäre! Kaum ein Wissenschaftler bestreitet heute, dass neuronale Aktivitäten eine notwendige Bedingung für geistige Aktivitäten sind. Freilich folgt daraus nicht die Identität von Gehirn- und Geistesaktivität. Diesen Fehlschluss lernt man in jedem Propädeutikum der Logik kennen.

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Aber konzentrieren wir uns auf das Hauptanliegen von Leor Zmigrod. Sie möchte erklären, «wie ideologische Überzeugungen aus der Biologie hervorgehen». Und damit lädt  sie sich ein gewaltiges erkenntnistheoretisches Fuder auf. Schon das Wort «hervorgehen» ist heikel. Was meint es genau: einen Kausalnexus, eine Neigung, ein Begünstigen, ein statistisches Resultat? Die Philosophen debattieren seit dem 17. Jahr-hundert über diese Frage, und sie ist bis heute nicht eindeutig entschieden.  

Vermutlich lässt sie sich gar nicht eindeutig entscheiden, weil eine Neurobiologie der Ideologie vom Ansatz her mit mindestens zwei Erklärungsebenen operiert, der mentalen (Motive, Gedanken, Absichten) und der neurobiologischen (Aktionspotenziale, Synapsen, neuronalen Codierung). Nehmen wir zum Beispiel eine Aussage wie «Personen mit einer aktiveren Amygdala tendieren zu stärkeren Angstreaktionen und damit zu konservativem Gedankengut». Wie stellt man das fest? Nun, die neuronale Aktivität beobachtet man auf Gehirnscans, die Verbindung mit konservativem Gedankengut ermittelt man durch Befragung und Tests: Technologie trifft Statistik. Ei-ne bewährte, durch die KI noch verstärkte Methodologie. 

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Das macht sie nicht unproblematisch. Denn im Hintergrund lauert immer die Frage: Was hat die Ebene des Geistes mit der Ebene des Gehirns zu tun? Die Frage ist in einschlägigen Kreisen als das «harte Problem» bekannt. Und die Debatte läuft darüber, ob es überhaupt lösbar sei.  Der «radikale» Ansatz von Frau Zmigrod und ihre Tests mit  «Tausenden» von Probanden bringen uns auch nicht weiter. 

Und dies hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste liegt im empirischen Vorgehen. Betrachten wir als Beispiel den anterioren cingulären Cortex, die Region, die komplexe kognitive Prozesse steuert, etwa die Fehlerwahrnehmung und Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Es gibt Experimente, die zeigen, dass diese Region bei «nicht-rigiden» Personen grösser ist. Die Crux dabei ist die Wahl der Probanden. Stellt man in einer Gruppe einen solchen Zusammenhang fest, folgt daraus nicht, dass dies auch bei einer anderen der Fall ist. Die Experimente sind oft schwer replizierbar. Die Universalisierung der statistischen Resultate erweist sich stets als frag-würdig. 

Das führt zum zweiten Grund. Die Neurobiologie der Ideologie stellt fest, dass be-stimmte Hirnregionen wie Amygdala, präfrontaler Cortex, anteriorer cingulärer Cortex mit gewissen Denkstilen zusammenhängen. Aber wir können noch so viel über die neuronale Dynamik wissen, dieses Wissen führt uns nicht aus der Gehirnebene heraus. Wenn Zmigrod zum Beispiel feststellt, dass bei flexiblen Menschen die Dopaminkonzentration im präfrontalen Cortex hoch und im Striatum niedrig ist, dann fügt sie einfach Beobachtungen aus zwei Ebenen aneinander – sie korreliert sie - , sie sagt nicht, wie sie auseinander «hervorgehen». 

Nun erhebt aber gerade die Neurobiologie der Ideologie den nicht unbescheidenen Anspruch, die Frage nach der Henne und dem Ei zu beantworten: «Was ist Ursache, was Wirkung? (..) In welche Richtung zielt der Pfeil?» Die Antwort: «Unser Gehirn formt unsere politischen Einstellungen, und gleichzeitig formen unsere Ideologien die Funk-tionsweise unseres Gehirns (..) Das Bestimmen der Richtung, in die der Pfeil fliegt, bleibt eine ständige Herausforderung». Und wir sind so klug als wie zuvor. 

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Vermutlich ist Frau Zmigrod selbst nicht ganz wohl bei ihrer Sache. Erkenntnistheoretische Skrupel suchen sie heim: «Jeder Gedanke hat einen biologischen Marker, also hat eine neuronale Aktivität an sich wenig mehr zu bedeuten, als dass wir am Leben und Organsimen mit Bewusstsein sind (..) Wann sagt ein neuronales Muster etwas Spannendes über die Natur ideologischen Denkens aus? Wann ist die Neurowissenschaft der Ideologie ein verheissungsvolles Feld und wann ist sie eine sinnlose Übung?» 

Ich würde darauf antworten: Sie ist weder verheissungsvoll noch sinnlos. Sie ist nützlich, wenn sie neue spannende Fragen stellt. Dass sie «radikale» Einsichten über die Erziehung zu flexiblem Denken liefert, darf einstweilen stark bezweifelt werden. Nach wie vor ist wichtig, was man denkt. Wenn Ideologien komplexe Verhältnisse auf simple Muster reduzieren, dann empfielt sich vor allem eine Kritik dieser Logik.  

Ideologie sitzt nicht im Gehirn. Eine Ideologie ist ein kollektives Phänomen, eingebettet in Traditionen, Rituale und gesellschaftliche Institutionen. Wer Ideologie durch die Untersuchung isolierter Gehirne verstehen will, riskiert einen Kategorienfehler – ähnlich, wie wenn man im Parlamentsgebäude nach einem Raum namens «Demokratie» suchen würde.  

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Ideologisch wird eine Neurobiologie der Ideologie dann, wenn sie sich an einem irre-führenden Ideal orientiert. Und dieses Ideal heisst Ideologiefreiheit. Zmigrods Schlussbemerkungen sind bezeichnend: «Der Kampf gegen Rigiditäten zwingt uns dazu, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ein anti-ideologisches Gehirn aussehen könnte (..) ein Bewusstsein, das frei ist von Ideologie». Hat uns Frau Zmigrod nicht eindringlich  vor dem Zwangscharakter der Ideologie gewarnt? Und nun präsentiert sie uns ihren Ansatz selbst als «zwingend».

«Aus einer Ideologie auszubrechen heisst, sich mit multiplen Stimmen auseinanderzusetzen», schreibt Leor Zmigrod. Man kann ihr Buch in diesem Sinn als einen Weckruf lesen, der Stimme der Geisteswissenschaften mehr Gehör zu schenken in einer Zeit, in der ohnehin technologische und naturwissenschaftliche Ansätze dominieren. Ideologiekritik ist bei politischen Doktrinen dringend nötig. Man vergesse nicht, sie auch auf die politische Neurobiologie anzuwenden. 



Dienstag, 29. Juli 2025

 


NZZ, 16.7.25


Baloney Detection - die Kunst des Quatscherkennens

Wenn ich einer anderen Person etwas mitteilen will, will ich sie überzeugen, einschüchtern, täuschen, für mich gewinnen; ich will sie «kneten» - griechisch: «mássein». Das heisst, Informieren und Massieren sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. The Message is the Massage. Am eindeutigsten beobachtbar in der Werbung – auch in der politischen. Nicht die Botschaft selbst interessiert hier, sondern ihre «knetende» Wucht. 

Die These ist nicht neu. Der Titel von Marshall McLuhans berühmtem Buch lautete bekanntlich nach einem Fehler des Schriftsetzers «The Medium is the Massage.» Der Untertitel hob den Kernpunkt hervor: «Ein Inventar an Effekten» - nämlich an manipulativen Effekten, die ein Medium haben kann. Man kennt dieses Verhalten schon aus der freien Wildbahn. Die Evolutionsbiologen sprechen von der Machiavelli-Intelligenz bei Tieren, also von einer erworbenen Fähigkeit, die sich der Strategie des «Massierens» bedient: des Irreführens, Verwirrens, Übervorteilens. 

Unser aktuelles Kommunikationsverhalten lässt auf vielen Gebieten den Charakter der freien Wildbahn erahnen, frei nach Nietzsche: den Willen zur Manipulation. Es herrscht ein Selektionsdruck, unter dem man nur durch Täuschen, Tricksen, Faken: durch «Massieren» des anderen erfolgreich besteht. Ein Biotop für die Subspezies der Leugner, Profilneurotiker, Spinner, Influencer, Trolle, Zyniker. Symptom eines intellektuellen Umweltproblems. Ich nenne es Krise der epistemischen Autorität. 

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In modernen, aufgeklärten Gesellschaften gilt das wissenschaftliche Expertentum als solche Autorität. Coronaepidemie und Klimawandel haben jedoch den Ruf der Experten nicht gefördert. Das liegt gewiss an der Komplexität des Themas, aber auch an etwas anderem: die Phänomene sind von allgemeinem Belang und wertbeladen, sie gehen Wissenschaftler und Laien dringend und direkt an. Und hier tritt ein gestörtes Verhältnis zwischen beiden zutage. Ganz offensichtlich daran zu erkennen, dass man den Leuten, die dafür ausgebildet sind, über ein gewisses Gebiet kompetent zu urteilen, nicht mehr glaubt und vertraut. Gleichzeitig aber meint, mit einer zusammengeschusterten Do-it-yourself-Theorie das ganze gesammelte Wissen einer Disziplin über den Haufen werfen zu können. 

Ohnehin sollte man aber epistemische Autorität nicht mit der Autorität von Personen gleichsetzen, seien sie Wissenschaftler, Philosophen oder öffentliche Intellektuelle. Sie liegt vielmehr in intellektuellen Tugenden, auf die ein robustes demokratisches Zusammenleben abstellt: etwa das Überwinden des Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst der Neigung, nur gleichen Meinungen Glauben zu schenken und die anderen mit ei-nem Shitstorm zu überziehen; Skepsis gegenüber vorschnellen Verallgemeinerungen und patenten Problemlösungen; das Vermeiden von Argumenten ad personam; das Misstrauen gegenüber Gefühlsexhibitionisten, die ihre Emotionen für Argumente halten, oder gegenüber Leuten, die sich selbst zu Opfern stilisieren: Betroffenheitsnarzissten; das Ersetzen von moralisierenden Schuldfragen durch empirische Ursachen-fragen; ein Gehör für die falschen Töne im Namen «des Volkes». Aufs Ganze gesehen könnte man einen epistemischen Tugendkatalog aufstellen und mit der Bezeichnung des bekannten Wissenschaftsautors Carl Sagan zusammenfassen: «Baloney Detection» - Quatscherkennung. Sagan nannte sie eine «hohe Kunst». 

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Aber wer sagt denn eigentlich, was der Fall ist, was ein korrektes Argument, was ein triftiges Urteil? Was für eine Instanz rufen wir an, wenn wir vom Gegenteil des Quat-sches -  der Wahrheit - sprechen? 

Unsere Zeit ist von tiefem Misstrauen geprägt. Man erinnert sich an Jürgen Haber-mas Spielwiese der Kommunikation, wo der «eigentümlich zwanglose Zwang des besse-ren Arguments» regiert. Dieser «Zwang» hat eine ganz einfache Basis: das Vertrauen in den anderen; das Vertrauen darauf, dass der andere wie ich die Spielregeln des «bes-seren Arguments» anerkennt. Die Garantie für das zwanglose Gespräch liegt im Kol-lektiv von Bürgerinnen und Bürgern, die Erkenntnistugenden kultivieren und tradie-ren. In dem Masse, in dem das gelingt, gewinnt die Instanz des besseren Arguments an Autorität, können wir die Message von der Massage trennen und damit den intel-lektuellen Dreckschleudern entgegenwirken, die vor allem eines wollen: Flood the zone with shit. 

Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat dies bereits vor hundert Jahren erkannt. In seinem Essay «Der Aufstand der Massen» (1929) schreibt er: «Wer Ideen haben will, muss zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an, von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt». 

Fürwahr! Wir leben im Zeitalter der «Kneter». Sie anerkennen keine solche Instanz. Sie haben deshalb auch keine Meinungen, sie sondern Meinungen ab wie Speichel. Und wer diesen Speichel unkritisch resorbiert, ist ein… 


Samstag, 26. Juli 2025

 



Wieder einmal Untergang des Abendlandes

Apokalyptisches Denken kommt auf. Und zwar nicht in theologischen, sondern in technologischen Zirkeln. Peter Thiel, Dotcom-Krösus und Investment-Hansdampf aus dem Silicon Valley, hausiert neuerdings philosophisch mit Endzeitideen. Und damit reanimiert er ein Denken, das bereits vor gut einem Jahrhundert die Köpfe erhitzte. Ausgelöst hatte es der deutsche Philosoph Oswald Spenglers mit seinem Buch «Untergang des Abendlandes». Da-rin postulierte er das geschichtsphilosophische Muster eines notwendigen Dreischritts von Aufstieg, Höhepunkt und Verfall. Dieses Muster zeige sich bei allen Kulturen und in allen Epochen. Spengler fürchtete, dass das faustische Streben nach Wissen, Macht und Transzendenz, einst der geistige Motor der westlichen Kultur, zunehmend durch eine genussorientierte Haltung des Sozialismus und Liberalismus ersetzt werde. Was laut Spengler den Beginn einer Endphase der westlichen Zivilisation bedeutete. 

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Auch Thiel sieht die moderne westliche Gesellschaft von Verfall bedroht: zuwenig Fortschritt, ja, Stagnation seit etwa den 1970er Jahren. Seiner Meinung nach «gibt es viele Erklärungen für diese Verlangsamung (..), aber die Erklärung, an die ich glaube, lautet: Technologie wurde beängstigend. Wir sind ihr gegenüber heute misstrauisch, wir umarmen sie nicht mehr wie früher». Thiel diagnostiziert darin ein Versagen, den robusten technologischen Fortschritt aufrechtzuerhalten, der frühere Perioden der westlichen Entwicklung prägte. «Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte des Verlusts der Hoffnung auf die Zukunft. Mit dem Blick zurück mag der Beginn des Atomzeitalters und das Manhattan-Projekt einen entscheidenden Wendepunkt darstellen, ein grosses Ereignis, das zu enormer Enttäuschung führte. Diese Enttäuschung traf in den 1970er Jahren mit voller Wucht, als das Nachfolgeprogramm Apollo zusammenbrach und die Baby-Boomer ihre Energien auf endlose Kulturkämpfe lenkten. Ob aus Zufall oder Absicht, die Wissenschaftler wurden an die kurze Leine genommen und mussten ihre Zeit mit dem Schreiben von Förderanträgen für bescheidene Erweiterungen bestehender Paradigmen verbringen».  

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Das ist nicht Analyse, sondern Polemik, aber man kann durchaus fragen: Was ist schief gelaufen? Ein Axiom der aufklärerischen Moderne lautet: Die menschliche Gesellschaft ist nicht nur fähig, sondern verpflichtet zum Fortschritt. Dabei gilt die technische Innovation als treibende Kraft. Nun könnte man es allerdings  als Ironie des technischen Fortschritts betrachten, dass er im Zeitalter rasanter «disruptiver» Entwicklungen und drohender existenzieller Bedrohungen das Endzeit-Szenario reanimiert. Das heisst, es geht in diesem Szenario nicht einfach mehr um «Pragmatismus», um die Lösung von konkreten planetarischen Problemen - Umweltzerstörung, Klimawandel, Armut und Hunger, Überwachung des Individuums, Zerfall des sozialen Gewebes etcetera. Es geht um das Ganze, das planetarisch «Schicksalshafte», das «letzte Drama» der Geschichte schlechthin: das Eschaton – um et-was, so Thiel, das sich nur im Horizont biblischer Vorstellungen begreifen lässt. Im Horizont einer «dunklen Aufklärung».

Sie klärt den vermeintlich aufgeklärten Menschen endlich auf. Seht, sagt Thiel in seinem Essay «Against Edenism», ihr habt euch geirrt: «Wenn eine wissenschaftlich-technologische Utopie das Markenzeichen der Aufklärung war, dann ist vielleicht das Misstrauen gegenüber dieser Utopie das Markenzeichen des postaufklärerischen, postmodernen Westens. Der weit verbreitete Charakter dieses Misstrauens ist ein guter Massstab dafür, wie weit die Postmoderne die Moderne verdrängt hat». Das Misstrauen hat die «sogenannt christlichen Rechten», die «Hollywood-Linken», sowie alle dazwischen erfasst, «mit nur kleinen Unter-schieden in den genauen Details dessen, was abgelehnt wird – sei es die Stammzellforschung als entgegen dem Willen Gottes (..) oder die Fracking-Technologie als schädlich für die Umwelt».  Aufs Ganze gesehen, herrscht wieder einmal Untergang des Abendlandes. 

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Die Wiederkehr gewisser Denkfiguren wie jener des Verfalls gehört meines Erachtens zu den faszinierendsten Themen der Ideengeschichte. Man kann dieses Phänomen zweifellos durch bestimmte historische «Atmosphären» erklären, die ein Wiederaufleben begünstigen. Das Positivste an Thiels Apokalypsedenken ist, dass er als Barometer einer kulturellen Wetterlage auftritt. Aber wir sollten auch die innere, erkenntnistheoretische Struktur der Denkfigur in Betracht ziehen - die Logik des Untergangs «dekonstruieren».  Betrachten wir kurz drei Merkmale. 

Erstens sieht sich Thiel als Denker, der gegen den Mainstream schwimmt. Je querer die Idee, desto «wahrer» ist sie. Das reflektiert ziemlich genau die Startup-Ideologie von Silicon Valley: Verrückte Ideen finden eher einen Investor als plausible. Aber als Argument in einer philosophischen Diskussion ist diese Auffassung von Wahrheit dünn und erinnert an pubertäre Renitenz. Wer Wahrheit sucht, ist vielleicht mutig und verrückt, aber er muss damit rechnen, dass er falsch liegt. Das ist die fallibilistische Tradition der Erkenntnis. 

Sie lässt Thiel kalt. Seine Vision der Endzeit ist «wahr», weil sie von einem «Contrarian» als entschlossene Erklärung in die Welt gesetzt wird, ihn als heroischen Denker hervorhebt und seiner Gefolgschaft Distinktion verleiht. Umberto Eco sah das klar: « Im Grunde genommen tröstet der Apokalyptiker den Leser; er lässt ihn (..) die Existenz einer Gemeinschaft von ›Übermenschen‹ erahnen, die sich über die Banalität und den ›Durchschnitt‹ zu erheben vermögen». So sieht das auch Thiel: «Das Schicksal in dieser Welt liegt vielleicht in den Händen eines einzelnen Menschen,  der den Mechanismus der Freiheit erschafft oder verbreitet, den wir brauchen.»

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Zweitens kredenzt Thiel ein seltsam eklektisches  Gebräu aus modernen und biblischen Ideen. Er schwimmt nicht nur gegen den Mainstream westlichen Denkens, sondern möchte einem Paradigma zum Durchbruch verhelfen, das Geschichte, Macht und die Möglichkeit menschlichen Handelns auf neue alte Art – quasi neoarchaisch - verstehen will. Und hier ruft Thiel eine biblische Figur auf die apokalyptische Bühne: den «Katechon». Der Ausdruck bedeutet «Aufhalter» - eine Ordnungsmacht gegen den Verfall, die Dekadenz,  das Chaos. In Thiels Augen sind die USA der Katechon. Dabei muss man genauer hinsehen, was Thiel auf-halten will, nämlich den ganzen «Mob» der Umweltschützer, Klimaaktivisten, Wachstumskritiker, Umverteiler, woken Sozialisten –  falsche Friedensbringer und Wegbereiter zu einem bevormundenden Weltstaat mit Institutionen wie die UNO und die WHO – für Thiel Verkörperungen des «Antichristen».  Der konspirativen Duktus darf nicht fehlen. 

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Thiel ist drittens ein strategischer Apokalyptiker, nach dem Hölderlin-Vers: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Das Endzeit-Argument bezieht gerade aus dem paradoxen Charakter seine Schlagkraft: optimistisch und apokalyptisch zugleich. Man malt die Apokalypse an die Wand, um die optimistische Vision zu stärken. Hört, Leute, das Ende der Welt droht - falls ihr nicht eine postliberale Ordnung wählt, gestützt auf religiöse Transzendenz, technologische Risikobereitschaft, Monopolstellung grosser Konzerne, Herschaft weniger, Deregulierung des Staates und – Geldverdienen. Der Historiker David Edgerton nennt dies «apokalyptischen Optimismus». 

Er ist eine giftige Denkfigur, wenn er sich in die Politik einmischt. Günter Anders warnte vor einer «Apokalypse-Blindheit», vor mangelnder Angst angesicht der damaligen Bedrohung einer nuklearen Weltzerstörung in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Heute wäre eher vor einer anderen Blindheit zu warnen: gegenüber verworrenen Risikokapitalisten, die den Untergang als profitables Investitionsobjekt entdeckt haben. 


Donnerstag, 17. Juli 2025

 


Prompten statt schreiben

Stammt der Text von dir? So lautet oder wird wahrscheinlich schon bald die Standardfrage einer neuen Ära des Schreibens lauten. Der Textgenerator – der General Pretrained Transformer (GPT) – hat sich binnen kürzester Zeit zum künstlichen literarischen Konkurrenten des Menschen entwickelt, und er befindet sich wohlgemerkt im Babystadium. Bisher war er eine Voraussagemaschine von Texten. Nun lernt er, «verständig» auf bestimmte Anfragen oder Instruktionen – auf Prompts - zu reagieren. Eine neue Kompetenz gewinnt an Bedeutung: das Prompt-Engineering. Man «treibt» den Chatbot mit gezielten präzisen Eingaben in eine gewünschte Richtung. 

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Für den Schriftsteller Clemens Setz lassen sich deshalb Schreiben und Prompten tendenziell nicht mehr unterscheiden.  Er lobt eine «neue Aufrichtigkeit», die nicht so tut, als wäre der Mensch allein Autor der Texte. Vielmehr repräsentiere das Prompten eine neue Kulturtechnik, in der Mensch und KI-Assistent eine Symbiose eingehen. «Zukünftige Generationen könnten sich kopfschüttelnd wundern, wie die frühere Menschheit überhaupt je irgendetwas Authentisches und Aufrichtiges auszudrücken imstande war, wenn sie doch gerade in der Situation der Schrifterzeugung immer so mutterseelenallein war, von niemandem betreut als vom eigenen Gehirn». Setz sieht einen «tertiären Analphabetismus» aufkommen. Der tertiäre Analphabet kann selbst keine Texte verfassen. Und auch die Überprüfung der vom Chatbot generierten Texte ist für ihn unmöglich. Er kann nur «extrem präzise wünschen», sprich: prompten. 

Solche Kulturdiagnosen folgen einem gängigen Narrativ: Neuerungen ersetzen alte Techniken. Ein anderer österreichischer Schriftsteller, Alfred Polgar, sagte in den 1920er Jahren mit erstaunlicher Radikalität voraus, dass die Schreibmaschine nicht nur Finger und Hände ihres Nutzers entbehrlich macht, sondern im letzten Effekt den Nutzer selbst: «Die Entwicklung muss hier, wie bei jeder Maschine, dahin streben, die notwendige menschliche Mitarbeit immer mehr und mehr einzuschränken. Der Tag, an dem es gelungen sein wird, den Schriftsteller ganz auszuschalten und die Schreibmaschine unmittelbar in Tätigkeit zu set-zen, wird das grosse Zeitalter neuer Dichtkunst einleiten». 

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Ich weiss nicht, ob Setz auch von einer neuen Dichtkunst träumt. Sein tertiärer Analphabet tut sich jedenfalls in einer neuen Kulturtechnik hervor. Er «lernt fast ausschliesslich eine Sache (..): das Wünschen.» Ihm bleibt die letzte Kompetenz, nämlich das «übergenaue (..) erwachsene Selbstkenntnis erfordernde Formulieren dessen, was man gerne haben möchte». Also: Ich möchte gerne einen Text von 10'000 Zeichen über Roadkill. Oder: Ich möchte gerne eine Zusammenfassung meines Essays in 2000 Zeichen und in Englisch. Der KI-Assistent liefert das in Sekundenschnelle. Der tertäre Analphabet kann, «wenn die Wunscherfüllung geliefert wird, nicht mehr persönlich nachprüfen, ob der Wunsch korrekt verstanden wurde, das kann dann nur das Leben selbst entscheiden». Das Leben selbst: das ist die akzeptierte Seminararbeit, die bestandene Prüfung, das erfolgreiche Bewerbungsschreiben. Man muss nicht mehr verstehen, wie sie zustandegekommen sind, Hauptsache, man reüssiert. 

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Am ehesten goutiert man die Ausführungen von Setz als fiktiv-satirische Extrapolation ei-ner durchaus bestehenden Tendenz. Auch so bleiben sie nerdig verblasen. Denn erstens ist der schreibende Mensch nie «mutterseelenallein» mit seinem Gehirn. Tatsächlich ist auch das Schreiben mit der Feder bereits ein symbiotischer Akt von Mensch und Werkzeug. «Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken», erkannte schon Nietzsche. Und all die Werkzeuge und Geräte, die der Mensch mit sich herumträgt und mit denen er sich umgibt – dazu gehört nota bene auch das Buch - , sind ja, so liesse sich sagen, Extensionen seines Gehirns, in dem Sinne, dass das Gehirn seine hochflexible Struktur dem jeweiligen Geräte-gebrauch anpasst. 

Zweitens hat die «tertiäre Analphabetisierung» etwas Paradoxes. Prompten ist das «über-genaue (..) erwachsene Selbstkenntnis erfordernde Formulieren dessen, was man gerne haben möchte». Aber ist Formulieren denn nicht Eingeben in geschriebener Form? Will der tertiäre Analphabet nicht gerade darauf verzichten? Zum Schreiben gehört insbesondere auch das Lesen. Lesen und Schreiben sind komplementäre Seiten ein und derselben Kompetenz. Mit der einen verkümmert die andere. Und damit auch das Wünschenkönnen. Der vom KI-Assistenten begleitete tertiäre Analphabet wird am Ende wunschlos sein wie sein Gerät. Ein geistiger Mutant, wunschlos glücklich und jeglicher Schreibfähigkeit depriviert?

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Man muss Setz durchaus konzedieren: 2022 liess OpenAI ChatGPT auf den Technikkonsumenten los, und innerhalb von drei Jahren hat sich dieses Ding zu einem kulturellen Game Changer entwickelt. So stark, dass die Pädagogen und Psychologen immer erfolgloser ge-gen das Schummeln vorzugehen suchen. Für Setz eine hoffnungslose Massnahme. Denn Schummeln – so sein gedanklicher Salto mortale – ist die neue Aufrichtigkeit. «Absolut jede Art von Lernen ist dann tendenziell ‘Cheating’, oder, anders formuliert, geschieht in Gesellschaft des KI-Assistenten». 

Mag sein. Aber die Frage stellt sich drittens, ob die Schreibassistenten dem Schreiben, statt es zu ersetzen, nicht vielleicht eine neue, zeitadaptierte Bedeutung verleihen. Paläoanthropologie, Evolutionsbiologie, Neurologie und Kognitionspsychologie weisen uns längst schon auf das Zusammenwirken von Hand und Hirn hin. Und aus diesem Zusammenwirken hat sich so etwas wie ein «Schreibhirn» entwickelt. Eine  neuronale Struktur, die der Schreibaktivität entspricht. Man spricht von einer «breit gestreuten Hirnkonnektivität» durch Schreiben.  

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Inwieweit diese Struktur sich durch die neue Kulturtechnik des Promptens verändert, bleibt abzuwarten. Die entscheidende Frage betrifft das Gleichgewicht zwischen Kulturtechniken. Die Schrift zum Beispiel hat das Gespräch nicht ersetzt. Vielmehr hat sich zwischen Reden und Schreiben ein dynamisches kulturelles Gleichgewicht von Ausdrucksmöglichkeiten gebildet. Man kann dies heute im Netz beobachten. Video- und Audioformate haben zur Verbreitung mündlicher Kommunikation im digitalen Medium beigetragen. Man schreibt nach wie vor. Aber Chatten, Simsen, Twittern tragen durch ihre Kürze, Direktheit und Expressivität Züge der Oralität. «Sekundäre Oralität» hat dies der Literaturwissenschaftler Walter Ong genannt. The medium is the style. 

Lässt sich nicht Ähnliches vom Schreiben und Prompten erwarten? Nicht ein Verlernen, sondern ein Wiedererlernen des Schreibens im Zusammenspiel mit dem Textgenerator, Re-Skilling statt De-Skilling: sekundäre Literalität? Man lässt schreiben und pflegt zugleich das Schreiben. So wie der Algorithmus meine «Idiosynkrasien» des Schreibens lernt, lerne ich seine Schreibtricks. Wenn Mensch und GPT eine Symbiose eingehen, bedeutet dies nicht zwingend den «Tod des Autors». Warum nicht die Geburt eines neuartigen «Schreibsubjekts» aus Autor und Algorithmus, das die alten Kompetenzen durchaus weiter kultiviert? Also die Frage der Kompetenzverteilung in einer Welt autonomer Artefakte. 

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Ein Aspekt verdient dabei grössere Beachtung. Wenn eine Person den ChatGPT schreiben lässt und meint, selbst zu schreiben, dann nimmt sie das Gerät als Teil ihrer selbst wahr, verinnerlicht sie es. Das führt zu einer «Ich-Werdung» des Geräts. Oder umgekehrt zu einer Gerätewerdung der Person.

Darin zeichnet sich der Prozess einer allgemeineren Symbiose von Mensch und Maschine ab, in der sich der Mensch immer mehr der Maschine anpasst – und schlimmstenfalls als kulturelle Kümmerform seiner selbst überlebt. Was dies bedeutet, muss in einem umfassen-deren Kontext diskutiert werden als bloss in jenem des Schreibens und Lesens – es ist der Kontext des Menschbleibens in einer Welt der Geräte. 


Samstag, 28. Juni 2025

 



Eine Zoologie des Roadkills  


Automobilität und Animobilität

Die Strasse ist Technik in der Natur. Hier treffen sich die Mobilität der Fahrzeuge und die Mobilität der Tiere,  Automobilität und Animobilität. Und wo sich die Wege der Tiere und die Wege der Fahrzeuge kreuzen, liegt ein Kollisionspunkt von Ökologie und Technologie, der zu wenig bedacht wird: Roadkill, vom Fahrzeug «erledigte» Tiere. Eine abstrakte, tote und traurige Spezies. Hunderte von Millionen weltweit und jährlich, vom zerquetschten Insekt auf der Windschutzscheibe bis zum umgemähten Elch.  Tiere lassen sich nicht nur in Arten, sondern auch in soziokulturelle Kategorien unterteilen. Es gibt das Hätscheltier (Haus, Wohnung), das Nutztier (Bauernhof, Fleischfabrik, Labor), das schädliche Tier (Krankheiten), das didaktische Tier (Zoo), das Wildtier – und das Roadkill. Die ersten fünf Kategorien betrachten Ökologie aus der Sicht des Lebens, die letzte aus der Sicht des Todes.  Zwar tot, lebt das Roadkill nichtsdestotrotz weiter als Symbol für ein ganz bestimmtes Mensch-Tier-Verhältnis in unserer Gesellschaft. Und dieses Verhältnis ist geprägt von der Technologie - der Hegemonie des Autos – und vom Kapitalismus – dem Imperativ der totalen Verwertbarkeit. 

Hegemonie des Autos

Das Roadkill ist das Tier am falschen Ort, zur falschen Zeit. Also «Abfall» der Strasse. Das bringt den normalen Gesichtspunkt zum Ausdruck. Das Auto definiert, was ein falscher Ort ist. Es hat Vorfahrtsrecht vor dem Tier. Und ganz in diesem Sinn betrachtet sich der Auto-fahrer nicht als verantwortlich für die Kalamität. Er macht sich in der Schweiz allerdings strafbar, wenn er nicht den Tierbesitzer, die Polizei oder die Jagdaufsicht über den Unfall informiert. Er muss aus tierquälerischen Gründen mit weiteren rechtlichen Folgen rechnen, wenn das Tier qualvoll stirbt. Und wenn er ein totes Wildtier eigenständig transportiert, macht er sich der Wilderei schuldig. 

Ganz ohne Kollision mit dem Recht kommt also der in eine Tierkollision verwickelte Fahr-zeuglenker nicht davon. Dennoch kann er Absolution durch ein weitverbreitetes ideologisches Vorfahrtsrecht erwarten, das Automobilität über Animobilität setzt. Das heisst, normalerweise sieht man das Tier vom Gesichtspunkt der Strasse, und nicht die Strasse vom Gesichtspunkt des Tiers her. 

Die «nebensächliche Sterblichkeit»

Für die meisten Menschen in automobilzentrierten Regionen ist der Anblick von toten Tieren am Strassenrand zum Faktum des alltäglichen Lebens geworden. Und trotz dieser makabren Sinnfälligkeit tritt das Roadkill nicht ein in unser Kollektivbewusstsein. Schon der Pionier des Naturschutzes Aldo Leopold sprach von «accidental mortality», von nebensächlicher Sterblichkeit, die kein Grund zur Sorge sei, zumindest nicht auf Populationsebene. Die «ungewöhnliche Sichtbarkeit» der Todesfälle sei Anlass zu weitverbreitetem Alarm über die Zerstörung von Wild durch Autos. Aber es bedürfe keiner Berufung auf Autoritäten, um zu zeigen, dass dieser Alarm übertrieben sei.  Leopolds Beschwichtigung ist aus seinem Engagement für die Wildnis verständlich. Und hinter diesem Engagement steht eine Idee, die bis heute unsere Verhältnis von Zivilisation und Wildnis tief prägt. Beide sind getrennte Bereiche. Hier die Strasse, dort die Natur; hier das Zivilisierte, dort das Wilde. Wenn sie sich in zufälligen Kalamitäten begegnen, ist das einfach ein kollaterales Ereignis. 

Roadkill in Mode und Menu 

Tierkörper sind schon lange direkt und indirekt in einem immensen Angebot von Waren enthalten, von Nahrungsmitteln, Textilien, Pharmaka, Kosmetika bis zu – Gipfel der Ironie – Produkten rund ums Auto: Frostschutzmittel, Bremsflüssigkeit, Reifen. Der Verwertungsprozess macht auch vor dem Roadkill nicht Halt. Die Amerikanerin Pamela Paquin verkauft Modeartikel unter dem Namen «Petite Mort Furs», «Pelze des Kleinen Todes» - damit meint sie nicht orgasmische Freuden beim Tragen der Artikel, sondern weist auf deren Herkunft hin: Roadkill. 

Im Zeichen von Food Waste lässt sich der «Abfall» der Strasse auch als Nahrungsmaterie betrachten. Einmal von Gesundheitsrisiken abgesehen sind die am häufigsten totgefahrenen Tiere von Natur aus vitamin- und proteinreich und fettarm. Sie stammen zudem nicht aus industrialisierten Fleischfabriken, und weisen deshalb keine Antibiotika, Steroide und Hormone auf. Deshalb hat die sogenannte Roadkill-Küche Anklang unter Gourmets des Strassenkadavers gefunden. Vom amerikanischen Humorschriftsteller Autor Buck Peterson stammt eine Reihe von Roadkill-Kochbüchern. Er meint das ernst. Ernst meinen es auch die Subkulturen um den Verzehr von Roadkill. In West Virginia gibt es sogar ein Roadkill Festival, inklusive «cook-off», Kochwettbewerb. Man isst sich dabei sozusagen ein gutes Gewissen an. Wie die Kennerin und «Schamanin» Alison Brierley schreibt: «Die Leute den-ken, es handle sich bloss um Asphalt-Brei, den man von der Strasse loskratzen muss. Ich hatte am Anfang die gleiche Vorstellung, aber als ich mehr darüber lernte, begann ich zu denken: Das ist tatsächlich besser, besser für dich und besser für die Umwelt». 

Die Tierethiker entdecken Roadkill

Auch ein tierethisches Argument kommt zum Zuge. Den Tieren wurde in den meisten Fällen nicht unnötiges Leiden zugefügt, sie starben eines «akzidentellen» Todes. Deshalb sieht sogar der philosophische Guru der Tierbefreiung, Peter Singer, im Verzehr von Roadkill nichts Anstössiges: «Falls ein Tier bei einem Unfall getötet wird (..) und falls dieses Tier eine Nahrungsquelle ist, warum sollte man es nicht essen, wenn es essbar ist?» Ja, warum nicht. Die einflussreiche Tierschutzorganisation PETA («People for the Ethical Treatment of Animals») hat sich dieses Argument zu eigen gemacht. Sie preist Roadkill unter dem Slogan «Meat without Murder» an – vermutlich nicht ohne Ironie. «Roadkill ist (..) für den Konsumenten gesünder als das Fleisch voller Antibiotika, Hormone und Wachstumsstimulanzien (..) Es ist auch menschlicher, insofern als die auf der Strasse getöteten Tiere nicht kastriert, enthornt oder entschnabelt werden (..), nicht das Trauma und Elend des Transports in einem überfüllten Lastwagen erleiden, und nicht die Schreie und den Geruch der Angst der Tiere vor ihnen auf der Schlachtbank wahrnehmen».    

Das ist ein seltsames und irritierendes Argument. Ist das Töten von Tieren auf der Strasse humaner, weil keine Absicht dahinter steckt? Gewiss, es ist strikt gesehen kein Mord. Aber damit befördert man es nicht in ein ethisches Jenseits. Der Mainstream des Tierschutzes regt sich auf über die Hegemonie der industriellen Tierhaltung und -verwertung. Aber wie steht es mit der Hegemonie des Autos? Ist sie nicht das grosse Problem hinter dem Roadkill? Das Problem struktureller Gewalt, welche die Strasse auf die Umwelt ausübt?

Die strukturelle Gewalt der Strasse

Als strukturelle Gewalt bezeichnet die Soziologie die Benachteiligung von Gruppen aufgrund politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine Gewalt, die nicht von Personen oder Personengruppen ausgeübt wird. Der Soziologe Dennis Soron macht sie auch im Verkehr aus,   nämlich als ethische «Benachteiligung» von Strassentötung gegen-über industrieller Massentötung: «Kücken in Käfigen zu entschnabeln oder Labortiere zu quälen werden als absichtliches Verhalten betrachtet, das man ethisch beurteilen kann. Im Gegensatz dazu betrachtet man den vom Fahrzeuggebrauch verursachten Tod von Tieren eher als zufällig, unabsichtlich und deshalb jenseits ethischer Prüfung».

Natürlich wird das Tier von der individuellen Gewalt des Fahrzeugs zermalmt. Aber darum geht es Soron nicht: «Tatsächlich sucht die Mehrheit der Automobilisten, abgesehen von ein paar Sadisten, den Zusammenstoss mit Tieren zu vermeiden (..) Wenn wir die Verantwortung für Roadkill verorten wollen, müssen wir über die individuellen Werte und Absichten hinausblicken und untersuchen, wie Automobilität mit umfassenden Imperativen der Produktion, Konsumption und Regierungspolitik unter spätkapitalistischen Bedingungen verwickelt ist». Über die individuellen Werte hinausblicken bedeutet also, nicht nur eine tierfreundlichere Verkehrsinfrastruktur anzuvisieren, sondern mehr noch: im Roadkill Systemkritik am «auto-industriellen Komplex» zu üben, an der «sozial, psychisch und ökologisch zersetzenden Logik der Kommodifizierung selbst.»

Roadkill als ökologische Erziehung

Roadkill kann freilich auch der ökologischen Erziehung dienen. Bücher wie «Dieser Dreck auf deinem Fahrzeug. Ein einzigartiger Führer über Insekten in Nordamerika» («That gunk on your car: A unique guide to insects of North America»)  lehren einen Blick von der Tech-nik auf das Tier. Der Biologe Roger M. Knutson hat ein Buch mit dem Titel «Flattened Fau-na» («Flachgefahrene Fauna») geschrieben. Eine Zoologie des Roadkills. Sie mag unappetit-lich und  pietätlos klingen, sorgt aber genau für die notwendige Verstörung, die uns bewusst macht, wie tief das Auto unseren Blick auf die Umwelt prägt. In extremster Ausprägung im «off road»,  das Natur zum Übungsgelände von SUVs (Sport Utility Vehicle) umdefiniert. «Strassen gehören zur Landschaft» schrieb der amerikanische Kulturgeograf John Brinckerhoff Jackson. Wenn damit der Primat der Landschaft vor den sie erschliessenden technischen Mitteln gemeint ist, dann sind wir heute Zeugen einer umgekehrten Entwicklung: Landschaft gehört zur Strasse. Das heisst, Landschaft definiert sich dem modernen, urbanen, mobilen Menschen zunehmend über das Kriterium ihrer verkehrstechnischen Leitfähigkeit und Erreichbarkeit. Von dieser Entwicklung zeugt das Roadkill.

Ein Denkmal für jedes Roadkill

Der holländische Zoologe Bram Koese errichtete eine denkwürdige Installation entlang ei-ner Landstrasse.  Ihm fielen die zahlreichen Roadkills während der Stosszeiten auf, in denen Pendler die Staus auf den grossen Strassen zu umfahren suchen. Und er begann die toten Tiere während eines Jahres aufzulisten. 35 Säuger, 90 Vögel, 515 Amphibien. Schockiert von seinem Fund, informierte er die Gemeindeverwaltung. Sie zeigte sich unbeeindruckt. Daraufhin organisierte er mit Nachbarn und Freunden eine zivile Guerillaaktion. Sie stellten am Strassenrand 640 Grabkreuze auf, für jedes Roadkill, mit Todesdatum und Angabe der Spezies. Eine traurige Parade von weissen Kreuzen, die sich vier Kilometer lang bis zum Horizont hinzog. Ein Memento für die zahllos angehäuften Tode. Natürlich waren viele Strassenbenutzer über diese «Wokeness» nicht amüsiert und rissen die Mahnmale nieder. Koese und seine Guerillas richteten sie wieder auf. Der «Kampf» erregte öffentliche Aufmerksamkeit. Den kommunalen Autoritäten wurde ein wissenschaftlicher Bericht präsentiert, der die Funde detailliert analysierte. Man trug sich mit dem Plan, die Landstrasse nur für den lokalen Verkehr zu erlauben. 

Ich weiss nicht, ob mit politischem Erfolg. Aber die Sichtbarmachung des Massensterben am Strassenrand ist ein nachwirkender symbolischer Akt. Auch den Tieren gebührt ein Memento mori. Und das Sichtbarmachen ist ein Denkbarmachen. Die nachhaltigste Verwertung von Roadkill ist das Nachdenken über es. Auto und Tier sind Teile des Ökosystems. Denkmal für Roadkill verstehe ich deshalb im Sinne eines österreichischen Kabarettisten: «Für mich ist ‘Denkmal’ ein Imperativ, der aus zwei Wörtern besteht». 

Denk mal! Vielleicht sogar zweimal! 



Montag, 16. Juni 2025



Das Rudozän - Zeitalter des Mülls

Dass sich die Erde zunehmend in eine Müllhalde verwandelt, gehört zu den Trivia, die wir mehr oder weniger schuldbewusst abschütteln. Müll ist zwar Produkt aus Menschenhand, freilich will ihn niemand besitzen, bedenken oder sehen. Man kann ihn aber auch nicht ein-fach der Natur zuschlagen, jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem der vorindustrielle Abfall über Jahrtausende hinweg abbaubar war. Der neue Müll verträgt sich nicht mit der Erde – zu synthetisch, zu schädlich, zu haltbar, zu voluminös. 2020 war zu lesen, dass die anthropogene Masse auf der Erde die Biomasse zum ersten Mal übersteigt. 

Natur und Müll fusionieren, in planetarischer wie in mikrobiologischer Dimension. Es gibt im Pazifik eine riesige Platikmüllregion – den Great Pacific Garbage Patch - , und Plastikmüll findet sich bereits in kleinsten Dimensionen vermischt mit organischer Materie. Müll ist nicht mehr einfach «Abfall» der Kultur. Müll gehört zur Kultur. Wir unterscheiden Zeit-alter nach dem menschlichen Umgang mit Materie: Von der Steinzeit und Bronzezeit über die Dampfzeit und Elektrizitätszeit zur Informationszeit. So gesehen gewinnt man den Eindruck, dass die postindustrielle Arbeitswelt sich zunehmend «entmaterialisiert». Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Seit der Dampfzeit produzieren wir eine exponenziell wachsende Menge materieller Güter – und Müll. Wir sprechen heute vom Anthropozän, passender wäre: Rudozän – (lateinisch rudus = Abfall).

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Sein offensichtlichstes Symptom ist der lukrative globale Abfallhandel. Das alles absorbierende spätkapitalistische System produziert nicht einfach Müll, sondern schafft zugleich Anreize, sich am Müll eine goldene Nase zu verdienen. Der Journalist Alexander Clapp deckt in seinem Buch «Waste Wars» (deutsch September 2025) die Machenschaften eines Geschäfts auf, das sich gern «grünwäscht», aber mit Recycling eigentlich wenig am Hut hat. Vielmehr die Probleme der westlichen Konsumgesellschaft dadurch löst, dass es sie in gesundheitsschädliche  Mülldeponien in Ghana, Kenia, Indonesien, Indien und wo auch immer transferiert. Die Ironie ist schreiend. Früher lieferten solche Länder Rohstoffe für die industrielle Produktion des Westens. Nun liefert ihnen der Westen den Müll dieser Produktion zurück. Dieser Missstand hat grosses Empörungspotenzial. Unsere Anstrengungen der Mülltrennung, auf die wir uns so viel zugute halten,  ja, unser ganzes ökologisches Gewissen sieht sich durch solche Praktiken beleidigt und besudelt.

Dabei müssten wir gerade dieses «Gewissen» einer näheren Analyse unterziehen. Von einem Symptom zu sprechen meint: das Problem liegt tiefer. Und zwar nicht einfach im dominanten Wirtschaftssysstem, sondern in einem Denken, das sein Wurzelgrund ist. Der streitbare Kulturkritiker Ivan Illich legte schon 1989 im Buch «Ex und Hopp» den Finger auf den neuralgischen Punkt. Müll sei nicht das Ergebnis des industriellen Produktionsprozesses, sondern werde mit dem Produkt schon a priori mitgedacht. Gebrauchen heisst Verbrauchen und hat deshalb ein Ende, und das ist der Wegwurf. 

Müll ist Materie, aber er entsteht im Kopf, entspringt einem Denken. «Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen», liest man im Roman «Müll» von Wolf Haas. Wir kennen die berühmte Definition der Ethnologin Mary Douglas: Müll ist Materie am falschen Ort. Die Definition macht sogleich klar, dass Müll nicht bloss eine physikalische, chemische oder biologische Eigenschaft der Materie ist, sondern eine kulturelle. Erst eine Kultur definiert das Falsche, wertet oder entwertet. Und der Rumpf einer Kultur besteht in – meist unbewussten – Verhaltensweisen. Sie zu studieren ist die Disziplin der Anthropologen oder Ethnologen. Was also dringend not tut, ist eine Ethnologie unseres eigenen Müllverhaltens. 

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Betrachten wir als banales Beispiel unser «westliches» Essverhalten. Bekanntlich kämpfen wir auch hier mit dem Müll, mit Nahrungsmaterie am falschen Ort, nämlich ausserhalb unserer Mägen. Gewiss, das Verrotten von Nahrungsmitteln ist ein biochemischer Prozess, aber ebenso definiert unsere Esskultur, was Müll ist. Und in ihr gibt es ein dominantes binäres Denkraster: Entweder ist etwas zum Essen oder es ist nicht zum Essen, ergo Müll. Ein Drittes gibt es nicht.

Allmählich entdecken wir dieses Dritte zwischen Teller und Müll. «Food Waste» nennen wir es: brauchbaren Essmüll. Was wir entdecken, ist eigentlich nicht die Nahrungsmaterie, son-dern unser Denken darüber. Schon Daniel Spörri forderte es heraus, als er Essensreste an die Wand nagelte. «Empörend» daran war ja, dass er eine Blickumkehr provozierte: Das kann nicht weg, das ist Kunst! Er zeigte einen Umgang mit dem Müll, an den wir nicht «gedacht» hatten, weil das Wegwerfsystem «des Westens» zugleich eine Denkverhinderung ist. In allen Kulturen und zu allen Zeiten ging der Mensch mit den Nahrungsmitteln erfindungsreich und nachhaltig um. Es gibt im Übrigen eine wahre Grossindustrie an Nahrungsmittelverarbeitern, die wir leicht vergessen: die Natur. Hefe, Schimmel, Bakterien wachsen auf Essensresten. Ohne sie gäbe es weder Bier, noch Brot, noch Käse. Einige der verbreitetsten und beliebtesten Speisen – Saucen, Suppen, Aufläufe, Eintöpfe – sind «Deponien» von Essensabfällen.  

Die Kategorie der Nahrungsmaterie zwischen Tisch und Müll kann uns ein kritischeres Essverhalten lehren, das heisst, selber zu urteilen, unseren Sinnen zu trauen, Phantasie zu entwickeln und täglich die Frage zu stellen: Gehört das wirklich in die Tonne? Man könnte von einer nichtbinären Esskultur sprechen. Und auf ähnliche Weise liesse sich dieser Blick zwischen die gängigen Kategorien auch auf andere kulturelle Gewohnheiten übertragen, etwa auf die Kleidung: Ist das noch tragbar oder Lumpenware? Oder auf das Wohnen: Ist das noch bewohnbar oder gehört es abgebrochen? 

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Vergessen wir nicht den geistigen Müll. Er bedroht den Planeten ebenso wie der materielle. Und der grosse Unterschied liegt darin, dass der geistige Müll sich nicht in peripheren Deponien lagern lässt, er zirkuliert ungehemmt zwischen den Knoten des Internets. Seine Entsorgung erweist sich als grosses Problem. Denn Müll in Umlauf zu bringen ist sehr viel leichter, als ihn als solchen zu entlarven. Es braucht dazu die Anstrengung des Faktenchecks, des argumentativen Eintretens auf eine Behauptung. «Flood the zone with shit» lautet das Dreckschleuderprinzip des ehemaligen Trump-Beraters Steve Bannon: Die Medien und Debattenforen mit Lügen und Falschinformationen fluten, damit ein sich am Wahr-Falsch-Raster orientierendes Denken gar nicht mehr nachkommt, sie zu prüfen – bis im Meinungsmüll die Trennung von falsch und richtig versagt. «Enshittification» nennt sich die Entwicklung neuestens. 

Die Technologie der Textgeneratoren treibt sie voran. Das Internet wird zunehmend auch von KI-generiertem Output überschwemmt. Benutzt man diesen Output wiederum zum Training der Textgeneratoren, entsteht ein Loop, aus dem die «rein» menschengenerierten Texte tendenziell verschwinden. Der Textgenerator frisst dann seinen eigenen Müll, und gibt am Ende nur noch Blahblah heraus. In der Branche kursiert bereits ein einschlägiger Ausdruck dafür: «KI-Slop», KI-Schlabber.  Man kann Daten als «vermüllt» bezeichnen, wenn man nicht mehr verlässlich entscheiden kann, ob sie vom Menschen oder vom Computer stammen. So gesehen zeichnet sich eine grosse Netzvermüllung am Horizont ab.

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Man kann die Alltagsdinge aus mehr als einer Perspektive betrachten und beurteilen. Das entpuppt sich als eine revolutionäre Trivialität. Schon Karl Marx schlug im «Kapital» vor: «Jedes nützliche Ding ist ein Ganzes vieler Eigenschaften und kann daher nach verschiedenen Seiten nützlich sein. Diese verschiedenen Seiten und daher die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken, ist geschichtliche Tat». Rudozän oder Müllzeitalter ist ein expliziter Aufruf zu dieser Tat.



  Das Paradox der technologischen Entwicklung Nach einer vorherrschenden Technikauffassung macht Not erfinderisch: Notwendigkeit ist die Mut...