Freitag, 13. September 2024



NZZ, 12.9.24

Rohstoff Wissen – Treibstoff Nichtwissen

Wissenschaft ist nicht Wissensdienst


Warum stecken wir eigentlich so viel Geld in die Wissenschaft? Gängige Antwort: Weil sie uns Wissen liefert. Und damit meinen wir in der Regel Wissen, das sich in Anwendungen umsetzen lässt: Die Quantenphysik in superschnelle Computer, die Chemie in neue synthetische Stoffe, die Molekularbiologie in Nano-Medikamente, die KI-Forschung in intelligente Maschinen, die Neurophysiologie in Hirnimplantate. Gerade die beiden letzten Jahrzehnte haben einer Mentalität zum Aufschwung verholfen, die man als «Muskisierung» der Wissenschaft bezeichnen könnte; also die risikokapitalistische Investition in hochfliegende, ja, grössenwahnsinnige Forschungsprojekte zur Beglückung der Menschheit. 

Diese Mentalität ist eigentlich jüngster Auswuchs eines Mythos, der seinen Ursprung im 17. Jahrhundert beim ersten Propagandisten der neuzeitlichen Forschung Francis Bacon hat. Er lautet kurz und bündig: Wissen ist gut; mehr wissen ist besser. Damit halten wir es bis heute. Dank Wissenschaft wissen wir immer mehr. Und Wissen befreit uns aus dem Dämmerzustand der Ignoranz. Nur vergisst dieser Mythos die andere Hälfte der Geschichte. Wissenschaft schafft auch Nichtwissen. 

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Das bedarf der Erläuterung. Vergleichen wir der Einfachheit halber eines der zentralen wissenschaftlichen Instrumente, die Theorie,  mit einer Laterne. Heute spricht man auch ruhmredig von «Leuchttürmen». Ihr Lichtkreis erhellt ein Stück Dunkelheit, und in diesem Kreis entdecken und erklären wir viele Dinge. Fortschritt besteht darin, diesen Kreis - und dadurch unser Wissen – zu erweitern. Aber bekanntlich vergrössert sich mit dem Radius des Kreises sein Umfang, das heisst: die Grenze zum Dunkel draussen, zum Nichtwissen. Kreative Geister in der Wissenschaft sind sich dieser Grenze ihres Lichtkreises bewusst, sie betonen oft geradezu mit Pathos die Bedeutung des Nichtwissens. Und das liegt an der inneren Dynamik des Erkenntnisprozesses. Forschende Neugier braucht die Spannung zwischen zwei erkenntnistheoretischen Polen, zwischen dem, was man weiss, und dem, was man nicht weiss. Diese Spannung elektrisiert buchstäblich die Phantasie, die explorative Lust am Dunkel draussen. Der Wert der Wissenschaft liegt ebenso im Nichtwissen wie im Wissen. 

Dieser Slogan leugnet nicht die Bedeutung des Wissens als Produktionsfaktor. Er richtet sich gegen ein eindimensionales «finalisierendes» Forschungsverständnis, das an die Wissenschaft immer mehr «externe» Leistungserwartungen heranträgt. Ein solches Verständnis zersetzt – so meine These - den wissenschaftlichen Geist von innen. Denn Wissenschaft steht nicht im Wissensdienst von Industrie und Wirtschaft. Sie ist kein marktgängiges Unternehmen, das unter Vorgabe von Zielen und Plänen seine problemlösenden Produkte – «silver bullets» - liefert. Und Wissenschaft lässt sich nicht - wie die alte Leier «Rohstoff Wissen» suggeriert - als blosse Res-source für industrielle Anwendung vereinnahmen. Zum Rohstoff Wissen gehört der Treibstoff Nichtwissen. 

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Natürlich profitieren Forscher vom traditionellen Bild des Wissen-Schaffers. Wie sonst sollten sie ihr Tun plausibel machen. Niemand erhält Fördergelder, um das Nichtwissen zu erweitern. Erkenntnissuche aber setzt Nichtwissen voraus, als eigentlichen Beweger der Forschung! Wie der renommierte Biochemiker Erwin Chargaff schrieb: «Es gibt in der wissenschaftlichen Forschung ein Suchen und ein Finden. Sucher sind nicht notwendigerweise auch Finder, aber sie verfassen die wertvolleren Reisebeschreibungen. Die älteren Generationen von Wissenschaftlern (..) gehörten vorwiegend zum Typ des Suchers. Das Suchen enthält auch ein Stück Träumen, und man könnte sagen, dass manch ein grosser Wissenschaftler seinen grossen Fund wie im Traum machte, wobei er übrigens nicht immer das fand, was er suchte. Die heutige Forschung aber misst dem Finden allzu grosse Bedeutung zu und pflügt ihre Abkürzungen mit dem Bulldozer durch die stummen Wiesen der Natur». 

Es wäre ein grosses Missverständnis, aus diesen Worten bloss das Lamento eines Nostalgikers herauszuhören. In der kognitiven Leidenschaft Neugier steckt kreative Anarchie, sie ist die wertvollste Ressource der Wissenschaft. Deshalb stellt das Austrocknen dieser Quelle die grösste Gefahr für eine wissensbasierte Gesellschaft dar. 

Läge es deshalb nicht an den Universitäten, das Ethos des Nichtwissens neben aller Exzellenzhuberei öffentlich zu bekunden? Das heisst, sich nicht einfach als Ausbildungsstätten von Skills zu begreifen? Wie wäre es mit einem Propädeutikum, das sich näher mit dem Im-Dunkeln-tappen beschäftigt? Einem Lehrgang für Formen der Ignoranz? Immerhin: Es gibt in Deutschland eine «Akademie der Wissenschaft vom Nichtwissen».  Sie lobt einen Essaypreis aus für die Förderung des Nichtwissens. Kein Jux, kein Spinnerprojekt. Sondern eine Idee, den Wert der Wissenschaft vor ihren Verwertern zu retten.








NZZ, 12.9.24 Rohstoff Wissen – Treibstoff Nichtwissen Wissenschaft ist nicht Wissensdienst Warum stecken wir eigentlich so viel Geld in die ...