Montag, 26. August 2024




Der Wille zur Rache

Das Wiederaufleben des Vergeltungsgedankens in der Politik

Im Rückblick erscheint die Attacke von 9/11 wie ein düsteres Fanal der kommenden Jahrzehnte. 2002 publizierte der «Guardian» einen «Brief an das amerikanische Volk», verfasst von Osama Bin Laden.  Er suchte darin die Attacke zu begründen, indem er alle Amerikaner zu Unterdrückern erklärte: 

«Ihr habt uns in Palästina angegriffen, das Blut, das aus Palästina floss, muss gesühnt wer-den (..) Die Sühne ist uns anbefohlen, von unserer Religion und unserer Idee, dass die Unterdrückten ein Recht darauf haben, die Agression umzukehren (..) Erwartet von uns nichts anderes als den Dschihad, Widerstand und Vergeltung (..) Wenn wir attackiert werden, dann haben wir das Recht, zurückzuschlagen. Wenn ihr unsere Dörfer und Städte zerstört, dann steht uns das Recht zu, eure Dörfer und Städte zu zerstören (..) Wenn ihr unsere Zivilbevölkerung tötet, dann töten wir rechtmässig eure Zivilbevölkerung».

Was man von einem solchen Begründungsschwulst auch halten mag, er zeigt seine Virulenz in der Zeit nach 9/11. Der Terrorismus ist bedenklich und bedrohlich genug. Wirklich beunruhigend ist er meiner Meinung nach als Symptom einer allgemeineren Entwicklung: des Wiederauflebens des Rachegedankens in der Politik. 

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Am 2. Mai 2011 exekutierte eine Spezialeinheit der US-Navy Bin Laden in dessen Heim in Pakistan. Präsident Obama verkündete dem amerkanischen Volk: «Justice has been done». Und damit bediente er sicher ein vorherrschendes Gefühl, das eine populäre Zeitung so zum Aus-druck brachte: «Wir haben ihn! Endlich wurden wir gerächt!» Solche Wortwahl erinnert an Vendettas. Besonnenere Zeitgenossen wunderten sich allerdings, wie Obama, immerhin ein ausgebildeter Jurist, sich an einer solchen Formulierung vergreifen konnte. Was für eine Gerechtigkeit meinte er eigentlich?

Gerechtigkeit, so wie wir sie gewöhnlich verstehen, verlangt ein Rechtssystem. Und ihr wird Genüge getan, indem man einen Verdächtigen vor Gericht stellt, das über ihn urteilt, nach dem üblichen juristischen Prozedere. Obwohl kein Zweifel hinsichtlich der Schuld Osamas bestand, machten die Amerikaner kurzen Prozess und töteten ihn. Sie zahlten es ihm heim. Und damit praktizierten sie im Grunde genau jene Rachejustiz, die bei Terroristen gang und gäbe ist. 

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In der Rache meldet sich ein Erbe aus frühester Menschheit, ein Atavismus, so lautet die gängige «aufgeklärte» Ansicht. In der Rache kollidieren Moral und Recht. Und die Erzählung von der primitiven Rache zur aufgeklärten Gerechtigkeit gehört zur Folklore des «westlichen» Selbstverständnisses, die moderne Justiz habe sich endgültig von der früheren Rachejustiz emanzipiert. 

Dieses Selbstverständnis wird heute in Frage gestellt, zum Beispiel vom Philosophen Fabian Bernhardt in seinem Buch «Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne». Aber das ist hier nicht das Thema, sondern die Infektion der Politik durch den Rachegedanken. Die Islamisten sind die Pioniere, wie das deutlich in Bin Ladens Brief zum Ausdruck kommt. Die Terroranschläge sind nicht Kriegsakte gegen «den» Westen, sie erfolgen im Zeichen der Revanche. Die Ideologen des Terrors verstehen sie als Antwort auf die Erniedrigung und Kränkung der islamischen Kultur durch die Entwicklung der modernen Zivilisation, die ja nun tatsächlich primär in Europa und Nordamerika stattgefunden hat. 

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Dieses Gefühl der Erniedrigung ist die eigentliche Brutstätte des Racheaffekts. Demagogen aller Art bedienen sich Taktiken zur Weckung dieses Affekts. Man redet dem Publikum zunächst ein, wie stark es gedemütigt werde. Dann sucht man nach den Urhebern dieser Erniedrigung. Schliesslich stellt man sich als die Figur dar, die Vergeltung zu üben verspricht. 

Ein Schulbeispiel lieferte Donald Trump in seinem Wahlkampf 2016. Er begann auf dem Register der Erniedrigung und Bedrohtheit: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (..) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (..) Es schickt Leute mit einem Haufen von Problemen, und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (..) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, sondern von überall her aus dem Süden (..) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten». Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nachrichten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (..) einen wirklich grossen Führer (..), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär (..) Wir brauchen jemanden, der dem Markenzeichen USA wieder zu Grösse verhilft: Make America Great Again (MAGA)». Diesem Niveau bleibt Trump bis heute treu. An einer Konferenz der Konservativen 2023 sagte er: «Ich bin euer Krieger. Ich bin eure Gerechtigkeit. Und für all die, denen Unrecht getan wurde: Ich bin eure Vergeltung». 

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Es verlockt, zumindest hypothetisch das Aufleben des Rachegedankens mit der ethnisch-kulturellen Zersplitterung der Welt in Zusammenhang zu bringen. Im Zuge der Postmoderne, des antikolonialistischen Denkens und der «Identity-first»-Manie scheint der universelle Begriff des Menschen an Attraktivität einzubüssen und einem neuen Stammesbegriff Platz zu machen. «Wir Menschen» heisst jetzt zuerst «Wir Palästinenser», «Wir Deutschen», «Wir Eurasier», «Wir Chinesen». «Make america great again» dünstet ebenfalls diesen tribalen Geist aus. Mit «America» meint Trump natürlich die Clan-Halbwelt der Trickster, Verführer und Lügner. 

Das heisst, die Verpflichtung zu einem all die Stammes-Wir übergreifenden Regelwerk erweist sich als schwach bindend. Ein typisches Anzeichen für den Rückfall ins alte Vergeltungsdenken. Trotz UNO-Charta spricht man heute schon fast abschätzig über eine sogenannte regel-basierte Weltordnung. Wo aber kein übergeordnetes Regelwerk existiert, fasst der Rachegedanken Fuss. Ganz offensichtlich und tragisch ist der Israel-Palästina-Konflikt von diesem Gedanken durchtränkt. Vergeltungsschlag folgt auf Vergeltungsschlag, und bisher fehlt jegliche schlichtende Instanz. Ein Perpetuum mobile der Gewalt. Es lässt sich ebenfalls im Russland-Ukraine-Krieg beobachten. Ständig  hören wir in dem Medien von Vergeltungsschlägen. Man mag sie als strategische Züge deuten, aber im Untergrund dürfte auch hier der Rachegedanke mitmischen.  

So ist bekannt, dass für Putin der Mauerfall 1989 eine tiefe Kränkung darstellt, die «der» Westen Russland zugefügt hat. Deshalb wird nach der Ansicht des russischen Soziologen Grigori Judin dieser Krieg nicht aufhören, solange es den «Rächer» Putin gibt. Weil dessen Vergeltungsmotiv als Teil seiner Existenz unauslöschbar sei: «Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet und genau hier befindet sich Wladimr Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft (..) Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann». Und dieses Ressentiment verbreitet sich epidemisch in all jenen Weltgegenden, die unter globaler Ungleichheit leiden. Judin: «Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, neigen dazu, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen». 

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Vor über dreissig Jahren klotzte der Politikwissenschaftler Francis Fukujama mit dem Postulat des Endes der Geschichte, also des flächendeckenden Siegszugs der liberalen Demokratie – und damit auch der Rechtsstaatlichkeit - auf der Erde. Ein von Eigendünkel eingefärbter, geradezu fahrlässiger Optimismus. Die Geschichte beginnt jetzt erst richtig, und sie wird von Emotionen geprägt sein. Das Rachemotiv wird keine unbedeutende Rolle spielen. Verdrängen wir im Hochmut der «Aufgeklärten» nicht dieses Motiv, denn gerade im Verdrängten entwickelt es seine diabolischen Potenz. 




















NZZ, 12.9.24 Rohstoff Wissen – Treibstoff Nichtwissen Wissenschaft ist nicht Wissensdienst Warum stecken wir eigentlich so viel Geld in die ...