Samstag, 5. April 2025



The Message is the Massage

Über die Krise der epistemischen Autorität

Wenn ich einer anderen Person etwas mitteilen will, will ich sie überzeugen, einschüchtern, täuschen, für mich gewinnen; ich will sie «kneten» - griechisch: «mássein». Das heisst, Informieren und Massieren sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. The Message is the Massage. Am eindeutigsten beobachtbar in der Werbung. Hier «knetet» die Botschaft immer. 

Die These ist nicht neu. Der Titel von Marshall McLuhans berühmtem Buch lautete bekanntlich nach einem Fehler des Schriftsetzers «The Medium is the Massage.» Der Untertitel hob den Kernpunkt hervor: «Ein Inventar an Effekten». Später doppelte Paul Watzlawick mit einer weiteren These nach: Es ist unmöglich, nicht zu kommunizieren. Was man auch interpretieren kann als: Es ist unmöglich, nicht zu manipulieren. Schliesslich schrieben die Evolutionsbiologen John R. Krebs und Richard Dawkins in einem wegweisenden Aufsatz: «Wir unterscheiden zwei Ansichten der Evolution von Tiersignalen. Die eine, die wir als die klassische bezeichnen, betont die Kooperation zwischen Individuen. (..)  Die andere Ansicht, die wir vertreten, betont die Kompetition (..) Die Selektion bevorzugt Individuen, die das Verhalten anderer Individuen erfolgreich manipulieren, sei dies zu deren Vorteil oder Nachteil.»

Tiere haben das Vermögen des «Unehrlichseins». Die eine Art entwickelt Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen sie die andere ausstechen kann. Die evolutionären Psychologen proben schon länger eine Umwertung der Werte. Sie sprechen von der Machiavelli-Intelligenz bei Tieren, also von einer erworbenen Fähigkeit, die sich der Strategie des «Massierens» bedient: des Irreführens, Verwirrens, Übervorteilens. 

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Die bekannteste Form des Massierens nennt man heute «Bullshitten». Es hat sich zum allgegenwärtigen dominanten Kommunikationsstil gemausert, so dass sich die Forschung mit der Frage zu beschäftigen beginnt, ob denn daran nicht doch respektable kognitive Kompetenzen zu erkennen seien. Nachgerade symptomatisch scheint mir der Titel einer Publikation (Preprint) von kanadischen Psychologinnen und Psychologen zu klingen: «Bullshit Ability as an Honest Signal of Intelligence». In der Konklusion liest man: «Wir stellen fest, dass jene, die geschickter sind, befriedigenden (..) Bullshit zu produzieren, auf einer Skala kognitiver Fähigkeiten höher rangieren und auch von anderen als intelligenter wahrgenommen werden (..) Aufs Ganze gesehen, lässt sich die Fähigkeit, befriedigenden Bullshit zu erzeugen, als Strategie betrachten, erfolgreich durch soziale Systeme zu navigieren.» 

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Bullshitten als «ehrliches» Anzeichen von Intelligenz zu betrachten irritiert aus einem ganz bestimmten Grund. Zweifellos erweisen sich manipulative Taktiken da als vorteilhaft, wo der Erfolg von der Geschicklichkeit abhängt, andere zu «massieren». Also nahezu überall heute. Und deshalb sollte uns nicht die Frage nach dem Zusammenhang von Bullshit und Intelligenz beschäftigen, sondern vielmehr das Motiv der Fragestellung. 

Denn hier stossen wir auf das Symptom einer tieferen kulturellen Regression. Unser aktuelles Kommunikationsverhalten lässt auf weiten Gebieten sozialen Lebens – und das heisst primär: in den sozialen Netzwerken - den Charakter der freien Wildbahn erahnen, in Anlehnung an Nietzsche: den Willen zur Manipulation. Es herrscht ein Selektionsdruck, unter dem man nur durch Täuschen, Tricksen, Faken: durch «Massieren» des anderen erfolgreich besteht. Ein Biotop für die Subspezies der Leugner, Profilneurotiker, Spinner, Trolle, Zyniker. 

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Man kann darüber mit den Schultern zucken. Aber dass «Massieren» auf die gleiche Stufe wie ehrliches Informieren gehoben werden soll, beschert uns ein wirklich ernstes intellektuelles Umweltproblem. Ich nenne es Krise der epistemischen Autorität. 

Herkömmlicherweise gilt das wissenschaftliche Expertentum als solche Autorität. Coronaepidemie und Klimawandel haben den Ruf der Experten nicht gefördert. Das liegt gewiss an der Komplexität des Themas, aber auch an etwas anderem: die Phänomene sind von allgemeinem Belang, sie gehen Wissenschaftler und Laien direkt an. Und hier tritt ein gestörtes Verhältnis zwischen beiden zutage. Ganz offensichtlich und banal daran zu erkennen, dass man den Leuten, die dafür ausgebildet sind, über ein gewisses Gebiet kompetent zu urteilen, nicht mehr glaubt und vertraut. Gleichzeitig aber meint, mit einer zusammengeschusterten Do-it-yourself-Theorie das ganze gesammelte Wissen einer Disziplin über den Haufen werfen zu können. 

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Zugegeben, es gibt auch in der Wissenschaft falsche oder Pseudoautoritäten. Man erinnere sich nur an die Coronapandemie, die ja auch als eine Pandemie der falschen Experten bezeichnet worden ist.  Es meldeten sich Fachleute zu Wort, die sich zwar weder als Virologen, noch als Infektiologen, noch als Epidemiologen ausweisen konnten, aber dennoch mit unfehlbarem Durchblick die «wahre» Situation erkannten. 

Ohnehin sollte man aber epistemische Autorität nicht mit der Autorität von Personen gleichsetzen, seien sie Wissenschaftler, Philosophen oder öffentliche Intellektuelle. Sie liegt vielmehr in intellektuellen Tugenden, auf die ein robustes demokratisches Zusammenleben abstellt: etwa das Überwinden des Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst der Neigung, nur gleichen Meinungen Glauben zu schenken und die anderen mit einem Shitstorm zu überziehen; Skepsis gegenüber vorschnellen Verallgemeinerungen und patenten Problemlösungen; das Vermeiden von Argumenten ad personam;  das Misstrauen gegenüber Leuten, die ihre Gefühle für Fakten halten; das Ersetzen von moralisierenden Schuldfragen durch empirische Ursachenfragen; die Erkenntnis, dass Rationalität nicht nur den Glauben an die eigene Vernunft, sondern auch an die Vernunft des anderen bedeutet. Lassen wir die Aufzählung. Aufs Ganze gesehen könnte man den epistemischen Tugendkatalog mit der Bezeichnung des bekannten Wissenschaftsautors Carl Sagan zusammenfassen: «Baloney Detection» - Quatscherkennung. Sagan nannte sie eine «hohe Kunst». 

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Aber wer sagt eigentlich, was der Fall ist, was ein korrektes Argument, was ein triftiges Urteil? Gibt es überhaupt eine solche universelle Instanz, die wir alle – oder zumindest die Mehrzahl – anerkennen, sozusagen ein Schiedsgericht über das Objektive? 

Lange ist es her, da Jürgen Habermas eine ideale Spielwiese der Kommunikation ersann, wo der «eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments» regiert. Dieser «Zwang» hat eine ganz einfache Basis: das Vertrauen in den anderen, das Vertrauen darauf, dass der andere wie ich die Spielregeln des «besseren Arguments» anerkennt. Alle unsere zivilisatorischen Errungenschaften - Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Politik, Religion – sind Systeme des Vertrauens. Wir erleben heute eine beispiellose Erosion dieses Vertrauens. Es wird herausgefordert durch eine Halunkenmentalität, die dem anderen a priori täuschenden Vorsatz, Feindseligkeit, üble Absichten oder Irrationalität unterstellt. Weite Teile des öffentlichen Lebens sind infiziert vom viral um sich greifenden Empörungs-, Verdächtigungs-, Beschuldigungs- und Bedrohungsdiskurs.

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«Massage» in Mc Luhans Buch liess sich auch lesen als «Mass Age»: Massenzeitalter.  Lange vor McLuhan schrieb der spanische Philosoph Ortega y Gasset  den Essay «Der Aufstand der Massen» (1929). Darin stehen die Sätze: «Wer Ideen haben will, muss zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an, von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt». Bullshitter und andere «Kneter» wollen nicht die Wahrheit. Sie anerkennen keine solche Instanz. Sie haben deshalb auch keine Meinungen, sie sondern Meinungen ab wie Speichel. Und wer diesen Speichel unkritisch resorbiert, ist ein… 


Samstag, 29. März 2025



NZZ,27.3.25

Über die Psychologie und Psychopathologie des Automaten

René Descartes’ Tochter Francine starb fünfjährig an Scharlachfieber. Darüber kursiert eine ebenso seltsame wie traurige Geschichte. Der Tod seines geliebten Kindes stürzte den Philosophen in derartige Verzweiflung, dass er eine künstliche Reproduktion anfertigen liess, eine mechanische Puppe namens Francine. Diese konnte sich bewegen und sprechen. Als Descartes 1649 von Königin Christina an den schwedischen Hof eingeladen wurde, nahm er seine künstliche Tochter im Koffer mit auf die Reise. Neugierige oder argwöhnische Matrosen öffneten ihn, die Puppe setzte sich auf, begrüsste sie und sprach zu ihnen. Zutiefst erschrocken warfen die Seeleute den Au-tomaten über Bord. 

Die Geschichte ist nicht verbürgt. Aber man kann sie als emblematisch für die Epoche betrachten, in der Descartes lebte. Sie stand im Banne des Automaten. Descartes selbst war so verschossen in die künstliche Kreatur, dass er die nichtmenschlichen Lebewesen als von Gott geschaffene Automaten – «göttliche Maschinen» - betrachtete. Der Körper der Tiere enthüllte ein kompliziertes System physiologischer Prozesse, mehr nicht.  

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Solche mechanistischen Beschreibungen blieben nicht bloss Theorie. Versierte Uhrmacher des 18. Jahrhunderts suchten Lebensvorgänge mit mechanischen Mitteln nach-zuahmen. So konstruierte zum Beispiel Jacques de Vaucanson 1738 eine mechanische Ente mit künstlicher Darmentleerung. Sie streckte ihren Kopf, pickte Körner aus der Hand, schluckte sie, verdaute sie und liess sie hinten gewandelt als Exkremente wieder hinaus. Das Publikum bestaunte das physiologische Schauspiel, das sich im seitwärts offenen Automaten wie in einem Diorama darbot. Führende Intellektuelle wie Diderot, Voltaire und Condorcet feierten das Genie Vaucansons. Voltaire hob ihn gleich aufs mythische Podest, als «Rivalen von Prometheus, der die Natur nachahmend, das Feuer des Himmels (nahm), um die Körper zu beleben».

Verkneifen wir uns ein Lächeln über die alten Automatenbauer und ihr wundergläubiges Publikum. Wir haben uns kaum weiter entwickelt. Wir behandeln heute KI-Systeme, als ob in ihnen eine künstliche Psyche wohnte. Dabei ist aber unsere Psyche im Grunde gleich naiv und animistisch geblieben wie beim Frühmenschen, geradezu retardiert gegenüber dem atemberaubenden Fortgang der Technik. Besonders in den «avanciertesten» Technozirkeln. Erst kürzlich behauptete ein verspulter Softwareentwickler bei Google, das Konversationsprogramm LaMDA habe zu ihm gesprochen und eine empfindsame Seele offenbart. 

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Hüten wir uns vor übereiliger Pathologisierung. Der Mensch kann nicht nicht anthropomorphisieren. Sobald er in Lebewesen, Dingen oder Artefakten ein «selbstbewegtes» Verhalten beobachtet, neigt er fast zwangsläufig dazu, einen inneren Antrieb – eine Intelligenz oder Intention – zu postulieren. Und je mehr heute ein Automat komplexe Aufgaben übernimmt, desto eher trauen wir ihm eine spezifische Intelligenz zu. Wir sagen dann nicht «Als ob er denken würde», sondern einfach «Er denkt». 

Die Psychologie des Automaten enthüllt so gesehen eine Psychologie der Verführung. Verführung durch Ambiguität. Schon das Wort «Simulation» ist doppeldeutig. Es meint Nachahmung und Vortäuschung. Vaucansons Ente war, bei allem Einfluss auf das Denken seiner Zeit, keine Nachahmung von Lebensvorgängen, sondern ein Schwindel. Kritische Zeitgenossen fanden schnell heraus, dass der Automat die Körner nicht «verdaute», vielmehr wurden diese am Ende der Kehle in einem versteckten Behälter aufgefangen und der Darmausgang vor der Vorführung mit künstlichen «Verdauungsresten» gefüllt. 

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Ist die heutige künstliche Intelligenz ebenfalls ein Schwindel? Wir können die neuen Automaten nicht mehr so leicht entlarven wie Vaucansons Ente. Der notorische Turingtest für Maschinen lässt sich im Grunde auf ein einfaches Kriterium reduzieren: Wenn mich die Maschine mit ihrem «intelligenten» Verhalten täuscht, dann ist sie intelligent. Die Frage stellt sich sogar: Wollen wir die Automaten überhaupt ent-larven, und was gibt es denn zu entlarven? 

Man könnte von der Bestechung durch die Technologie sprechen, auch hier im Doppelsinn des Wortes. Die Artefakte bestechen uns durch ihre teils übermenschlichen Fähigkeiten, und zugleich durch ihrer Verführungskraft. Heute, im Universum der smarten Dinge, entgehen wir dieser Bestechung kaum noch. Die uns auf Schritt und Tritt begleitenden Gadgets und Apps tun alles für uns. Dieses allgegenwärtige paternalisierende Etwas-für-uns-tun saugt vampirisch und unmerklich alle Eigeninitiative, alles Eigenleben aus uns. 

Wir Menschen gestalten die Technologie und dann gestaltet die Technologie uns. Wenn wir Maschinen an unseren Umgangsformen teilnehmen lassen, dann ist es wahrscheinlicher, dass wir uns den Maschinen anpassen, und nicht umgekehrt. Werden wir allmählich ihr Verhaltensrepertoire als «echt» empfinden? Lassen wir uns von ihnen absichtlich täuschen oder wird uns dieses Als-ob vielleicht am Ende egal sein? Bis es soweit ist, tun wir gut daran, uns darauf zu besinnen, was es heisst, Mensch zu sein. Es steht also eine neue Aufklärung im Automatenzeitalter bevor. 


Freitag, 28. März 2025

Dienstag, 25. März 2025

 

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    Partikel treffen auf Wand                               Welle trifft auf Wand


Wie die Quantenphysik durch einen Versuch 
philosophisch wurde

Es gibt Experimente, die sich als Schlüsselmomente in der Entwicklung der modernen Physik erweisen.  Eines ist der Doppelspaltversuch. Im Versuch schiesst man Partikel – zum Beispiel Elektronen - auf eine Wand mit zwei Spalten, und dahinter treffen sie auf einen Detektorschirm. Verhielten sich die Partikel klassisch, müsste man auf dem Schirm zwei Streifen beobachten, da, wo die meisten Elektronen aufprallen. Tatsächlich aber beobachtet man ein Interferenzmuster, wie man es  von Wellen her kennt. Aus irgend einem Grund verhalten sich die Elektronen wie Wellen. Wohlgemerkt: Damit ist nicht eine Kollektiveigenschaft von vielen Elektronen gemeint. Das einzelne Elektron manifestiert Wellencharakter. Man kann also ein Partikel nach dem anderen auf die Wand mit dem Doppelspalt schiessen und beobachtet nach einer genügenden Zahl von Aufprallern ein Interferenzmuster.

Das "Herz" der Quantenmechanik
Richard Feynman spricht in seinen berühmten Vorlesungen über die Quantentheorie vom Doppelspaltversuch als vom «Herz der Quantenmechanik». Er enthalte ihr «einziges Geheimnis». Was ist dieses Geheimnis? Stellt man sich ein Elektron als klassisches Partikel vor, dann bewegt es sich, wie jeder klassische Körper, auf einer eindeutigen Bahn, von der Elektronenquelle durch einen der Spalten bis zum Schirm. Und dann ergibt sich das Zwei-Streifen-Muster. Stellt man sich das Elektron - wohlgemerkt: das einzelne Elektron - als Welle vor, dann wird es an den beiden Spalten gebeugt und erzeugt das Interferenzmuster. Nun ist schleierhaft, wie ein einzelnes Teilchen, das die Spalten passiert, ein solches Verhalten zeigen kann - als ob es gleichzeitig durch beide Spalten treten und mit sich interagieren würde. Total verrückt!

"Die Natur ist absurd"
Die Geschichte der Quantentheorie ist auch eine Geschichte, wie die Physiker mit dieser Verrücktheit umzugehen versuchten. Bis heute. Um den Doppelspalt kreisen die Interpretationen der Quantentheorie wie um ein mysteriöses Gravitationszentrum. Und dies, obwohl die Quantenphysik sich als die am besten bestätigte Disziplin der Naturwissenschaften ausgewiesen hat. Noch einmal Feynman, in seinem Buch «QED. Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie»: «Die Natur, wie sie die Quantenelektrodynamik beschreibt, erscheint dem gesunden Menschenverstand absurd. Dennoch decken sich Theorie und Experiment. Und so hoffe ich, dass Sie die Natur  akzeptieren können, wie sie ist – absurd». 

Zwei Beschreibungsweisen
«Die Natur, wie sie ist» - der Ausdruck erweist sich als äusserst irreführend. Und es ist gerade der Doppelspaltversuch, der seinen problematischen – sprich: philosophischen - Charakter aufdeckt. Was meint der Ausdruck genau? Er akzentuiert den fundamentalen Unter-schied zwischen zwei Beschreibungsweisen

Wir werfen einen Tennisball. Die klassische Physik beschreibt seine klar definierte Bahn – zumindest theoretisch. Zu jedem Zeitpunkt befindet er sich in einem Zustand: hat er beispielsweise einen Ort x und eine Geschwindigkeit v.  Und wir berechnen mit den Bewe-gungsgesetzen, wie sich der Zustand zeitlich ändert. Auch die Quantentheorie beschreibt die Bewegung von Teilchen, aber sie tut dies auf andere Art, mit einer sogenannten Zustandsfunktion. In sie ist alle Information über das Teilchen gepackt, insbesondere Ort x, Geschwindigkeit v. Und hier tritt der fundamentale Unterschied zutage. Ein klassischer Zustand definiert eindeutig die Eigenschaften eines Objekts. Ein Quantenzustand definiert nur die Wahrscheinlichkeit, dass ein Objekt die Eigenschaften hat. Die klassische Physik spricht über die Natur im Indikativ – wie sie  ist - , die Quantenphysik spricht im Konjunktiv – wie sie sein könnte.  

Das ergibt ein ganz anderes Bild der Teilchenbahn im Doppelspaltversuch. Die Zustandsfunktion beschreibt das Verhalten eines Elektrons so:  Es tritt sowohl durch den Spalt A mit der Wahrscheinlichkeit a, wie auch durch Spalt B mit der Wahrscheinlichkeit b. Solange uns die Beobachtungsinformation fehlt, welchen Spalt das Elektron passiert, ist eine solche Be-schreibungsweise die angemessenste. Man sagt, das Teilchen befinde sich in einer Superposition zweier Zustände. Das hat etwas Gespensterhaftes (so sah es Einstein, der von dieser Deutung nie überzeugt war). Es widerspricht völlig unserem klassischen Realitätsverständnis. Denn unabhängig davon, ob wir beobachten oder nicht, so hat doch das Elektron «in Wirklichkeit» eindeutig einen Spalt passiert. 

Hinschauen, dann Partikel - nicht hinschauen, dann Welle
Nun ist Beobachten selbst auch ein physikalischer Prozess, nämlich die Wechselwirkung des untersuchten Objekts mit einer Messapparatur. Eine solche Apparatur könnte folgendermassen aussehen: Wir montieren hinter Spalt A einen Detektor, der registiert, ob ein Elektron vorbeifliegt. Lautet die Antwort «Nein» und beobachten wir einen Aufprall auf dem Schirm, bedeutet dies, dass das Elektron Spalt B passiert hat. Eine solche Vorrichtung stellt also den eindeutigen Weg eines Elektrons fest, ohne es zu stören. Was wir dabei auch feststellen: Auf dem Schirm zeigt sich das Zwei-Linien-Muster. Nun schalten wir den Detektor aus. Wir wissen also nicht, welchen Spalt das Elektron passiert. Und siehe da: Das Interferenzmuster erscheint wieder. Es handelt sich nicht bloss um ein Gedankenexperiment. Es wurde in zahlreichen Versionen real durchgeführt.

Ein seltsamer Zusammenhang wird sichtbar. Der Detektor liefert uns Information. Einschalten bedeutet: Wir wollen die Information, durch welchen Spalt das Teilchen getreten ist. Ausschalten: Wir verzichten auf die Information. Lediglich Ein- und Ausschalten des Detektors «bewirken» die unterschiedlichen Muster auf dem Schirm. Unter Quantenphysikern kursiert das Bonmot: Nicht hinschauen, dann Welle – hinschauen, dann Teilchen. Es macht den Anschein, als ob allein die Tatsache, dass man das Elektron beobachtet, einen Einfluss auf sein Verhalten ausübt. Das ist schwer verdaulich.

Shut up and calculate!
Der Doppelspaltversuch holt eine alte philosophische Frage in die Physik hinein: Existiert etwas, unabhängig davon, ob wir es beobachten; oder existiert es erst dann, wenn wir es beobachten? George Berkeley warf diese Frage zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf und verdichtete die Antwort in die bekannte Formel: Existieren = beobachtet werden («esse est percipi»). Die Quantentheorie scheint ihm Recht zu geben. Heisst das nun, das Partikel Elektron existiert nur, wenn wir den Detektor einschalten? Wechselt es von Partikel zu Welle, wenn wir ausschalten? Niels Bohr sah in solchen Fragen Pseudoprobleme. Er leugnete damit nicht die Realität der gemessenen Effekte, er mahnte die Physiker nur an: Fragt nicht, was ein Elektron ist, fragt, wie es sich in einer bestimmten Messvorrichtung verhält. Man kann mit den Gesetzen der Quantentheorie sehr exakt die Resultate berechnen und voraus-sagen, wenn die Elektronen mit einer Messapparatur interagieren. Von daher der berühmt-berüchtigte Rat: «Shut up and calculate!»

Er stammt vom Physiker David Mermin. Und man vergisst in der Regel seinen Nachsatz: «And I won’t shut up». Richtig! Denn das Schweigegebot ist eine Art von Zensur, über das Problem nachzudenken. Und so werden die Physiker nicht müde, die Problematik des Doppelspaltversuchs bis heute zu debattieren, in zahlreichen, oft äusserst ausgetüftelten Versionen, angefangen bei Schrödingers Katze, über  Wigners Freund, Everetts viele Welten, Wheelers verzögerte Wahl, Penroses Kollapstheorie bis zum «QBismus» (Quantenbayesianismus). Was ein untrügliches Lebenszeichen der Quantentheorie ist. In ihr schlägt nach wie vor das geheimnisvolle «Herz». Seine Natur ist philosophisch. 


Freitag, 21. März 2025



Der Duft der Rose und der riechende Roboter

Wie die technologische Entwicklung die Philosophie notwendig macht

Kann ein Roboter eine Rose riechen? Das heisst, können wir eine künstliche Nase bauen, die wie wir den Duft der Blume wahrnimmt? Die Frage klingt ziemlich abstrus. Aber sie kann uns ein schon seit langem diskutiertes philosophisches Problem veranschaulichen, das nun auch die KI-Forscher beschäftigt. 

Was geschieht, wenn ich eine Rose rieche? Objektiv betrachtet, handelt es sich um Informationsübermittlung durch Moleküle. Die Blume emittiert bestimmte Duftmoleküle. Sie flottieren in der Luft und sie suchen als «Schlüssel» die «Schlösser» von Rezeptormolekülen in der Zellmembran meines Nasenepithels. Wenn ein Duftmolekül ein «Schloss» öffnen kann, veranlasst dies die Rezeptorzelle, elektrische Signale zu produzieren, den Input in das neuronale Netz meines olfaktorischen Cortex.  Er verarbeitet sie und der Output ist das, was ich als den Duft der Rose wahrnehme. 

Das Quale des Duftes

Natürlich zeichne ich hier die Karikatur eines hochkomplexen physiologischen Prozesses.  Es geht mir nun auch nicht um diesen Prozess, sondern um die Eingangsfrage. Wir müssten, um eine künstliche Nase zu bauen, diesen Prozess in seinen Details kennen und reproduzieren können. Das ist prinzipiell denkbar. Angenommen, die Wissenschaft habe diesen Wissensstand erreicht. Sie kann objektiv und bis in die letzten Einzelheiten die Vorgänge zwischen Nase und Hirn beschreiben.  Aber dennoch würde die künstliche Nase den Rosenduft nicht riechen. Sie reproduziert den ganzen elektrophysiologischen Prozess «von aussen». Was ihr fehlt, ist die Erfahrung «von innen», also die spezifische Empfindung des Dufts. 

Selbst wenn sich in der künstlichen Nase exakt dieselben Prozesse abspielen wie in meiner Nase, bliebe ein fundamentaler Unterschied: Ich registriere nicht einfach ein elektro-physiologisches Signal, ich empfinde es als etwas Qualitätshaftes – als Quale, wie die Philosophen sagen. Es fühlt sich an, es lässt sich empfinden. Das Quale des Rosendufts ist in der Sprache der Physiologie nicht ausdrückbar. Es ist der künstlichen Nase unzugänglich. Wie aber kommt beim menschlichen Körperapparat dieser Übergang vom elektrophysiologischen Vorgang zur qualitativen Duftwahrnehmung zustande? Oder allgemeiner gefragt: Wie «taucht» aus unbewussten Vorgängen bewusstes Erfahren «auf»?

Olfaktorische KI

Wir landen hier bei einem der dornigsten Probleme der Philosophie. Es gibt eine intensive Diskussion über die Qualia. Sie hat zum Teil ein recht akademisch verstiegenes Format angenommen, aber der angesprochene Unterschied dürfte uns allen aus dem Alltag wohlbekannt sein. Empfindungen wie der Duft der Rose sind elementare Erfahrungen eines bewussten Wesens. Auch Tiere machen solche Erfahrungen – zumindest höhere Arten mit hinreichend komplexen Nervensystemen. Und Roboter? Denkbar ist zum Beispiel, dass die Ingenieure ein System bauen, dessen Sensoren die chemischen Bestandteile des Duftes exakt analysieren: olfaktorische KI. Tatsächlich existiert bereits eine Firma wie etwa «Osmo», die genau dies tut. «Giving computers a sense of smell», lautet deren Motto. Osmo brüstet sich damit, die grösste KI-kompatible Duftdatenbank zu sein, die ihrerseits hilft, KI-Systeme in der Duftwahrnehmung zu trainieren. Die Firma verwendet KI zur Generierung neuartiger Düfte.  

Das «harte Problem»

Wie gesagt, reproduziert ein KI-System Prozesse, die sich auch im Körper eines Lebewesens abspielen. Und dennoch fehlt ihm das Quale des Duftes, dieses einzigartige subjektive Erfahren. Wie minutiös die Wissenschaft zu einer objektiven Beschreibung des Duft- oder Geschmacksempfindens fähig ist, sie bleibt «ausserhalb» dieses rätselhaften Phänomens. Und wenn ich hier ausdrücklich von einem Rätsel spreche, dann spiele ich an auf das ungelöste Problem der Neurowissenschaften, wie Empfindung, allgemeiner Bewusstsein aus dem unbewussten neuronalen Geschehen entsteht. Es gibt zahlreiche Theorien darüber, aber keine befriedigt. Ein Forscher hat das einmal so auf den Punkt gebracht: Theorien des Bewusstseins sind wie Zahnbürsten. Jeder Wissenschaftler hat eine, und keiner will sie mit den anderen teilen. In der Philosophie des Geistes spricht man denn auch vom «harten Problem». 

Die Grenze der Objektivität

Ob es je lösbar ist, bleibe dahingestellt. Nur schon das Problem zu formulieren, setzt ja Bewusstsein voraus, sprich: das, was erklärt werden soll. Der Duft der Rose definiert so gesehen die Grenze der Objektivität. Er gehört zur Welt, insofern als diese Welt empfindungsfähige Wesen enthält. Für Bienen oder für Vögel «fühlt» sich der Duft der Rose wahrscheinlich ganz anders «an» als für Menschen. Aber der auf Objektivität gerichtete Blick erfasst dieses Phänomen des Subjektiven nie vollständig. Wie der Philosoph Thomas Nagel schreibt, kann dieses Phänomen durchaus physiologisch beschrieben werden, «doch die Qualitäten, die sie zu Erlebnissen machen, existieren jedenfalls nur aus der Perspektive solcher Wesen, die diese Erlebnisse haben. Da wir nicht die einzigen Geschöpfe des Universums sind, müsste ein allgemeines  Bild der Realität ein allgemeines Bild des Erlebens enthalten, das unsere eigene subjektive Perspektive als Spezialfall beinhalten würde. Dieses generische Bild des Erlebens geht völlig über unseren Verstand, und wahrscheinlich wird es dabei bleiben, solange menschliche Wesen existieren».

Die Technologen sind Arbeitsbeschaffer der Philosophen

«Sensible» Roboter werden zu einem Hotspot der KI-Forschung. Es ist heute kaum abzusehen, wohin uns diese Entwicklung noch trägt. Wahrscheinlich wird die ganze Palette menschlichen Empfindens in den Fokus der Roboterbauer geraten. Und je besser wir unsere Physiologie kennen - also über ein immer genaueres objektives Bild des Empfindens verfügen - , desto klarer nimmt die «Machina sentiens» Gestalt an: die Reproduktion dieses Empfindens auf nichtbiologischem Substrat.  

Genau hier werden deshalb umso klarere Begriffsunterscheidungen nötig. Ein riechender Roboter ahmt das Geruchsverhalten nach, er hat kein Geruchsempfinden. Das «weiss» auch der ChatGPT.  Auf die Frage «Hast du Empfindungen?», lautet der Output: «Nö. Ich habe keine Empfindungen – Ich fühle keine Schmerzen, Wärme, oder etwas Körperliches. Aber ich kann Reaktionen simulieren, auf der Basis dessen, was ich gelernt habe». 

Je menschenähnlichere Artefakte die KI-Ingenieure bauen, desto wichtiger wird der kritisch differenzierende Blick. Denn das Menschenähnliche der KI-Systeme akzentuiert ja nur das Menschenunähnliche. Anders gesagt, stellt sich uns die Frage, worin wir Menschen uns denn von Maschinen unterscheiden. Ohne dieses Nachdenken über die Differenz ist der technische Fortschritt der KI ein gefährliches blindes Vorwärtsstolpern. Gefährlich deshalb, weil unter den Technologen die Neigung grassiert, schon die kleinsten Verbesserungen ihrer Systeme zu epochalen «Durchbrüchen» hochzujubeln, und mit überschwenglichen Visionen menschliche Vermögen in die Maschine zu projizieren. Das ist Techno-Magie. Sie verhext den Techniknutzer. Und ihn von dieser Verhexung zu befreien wird zur vordringlichen Aufgabe der Philosophie. Die Technologen sind heute die wichtigsten Arbeitsbeschaffer der Philosophen. Es ist absehbar, dass diese immer mehr zu tun bekommen werden. 


Sonntag, 16. März 2025



Zurück zum globalen Ausnahmezustand 

Carl Schmitt und der antiliberale Backlash 

Neuerdings wird vermehrt die Klage über den Verfall einer regelbasierten Weltordnung laut. Wie aber steht es mit deren Legitimität?  Mit welchem Recht erklärt "der Westen" die Regeln dieser Ordnung als universell verbindlich? 

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Keiner hat die Frage kompromissloser gestellt als der deutsche Rechtsphilosoph Carl Schmitt, theoretischer Mitfundierer der Nazi-Justiz, und Apologet der Feindschaft als Condition humaine. Bezeichnenderweise erfreut sich sein bellizistisches Gedankengut einer düsteren Wiederbelebung - speziell in autokratischen Kreisen Chinas und Russlands. 

Kriege werden mit Waffen geführt. Aber Kriege entstehen immer aus Gedanken. Und es gibt Gedanken, die fast zwangsläufig zum Krieg tendieren - ein Arsenal der Ideen. Lange vor Michel Foucault hob Schmitt den Krieg als Realgrund des Rechts und der Politik heraus. Die Kernfäule des liberalen Systems liege darin, dass sie das Politische dem Rechtlichen unterordnet. Schmitt sieht in dieser Unterordnung eine «Denaturierung». Als Hintergrund fungiert ein Standardkonzept:  die Naturordnung – das «Organische» - als Gegenpol zu einem vom Menschen geschaffenen universalistischen Normenkorsett – zum «Künstlichen». Auf dem Planeten herrscht ein «organisches» Gesetz. Schmitt nennt es «Nomos der Erde» - eine metaphysisch aufgestelzte Legitimation kolonialistischer Usurpation: «So ist die Landnahme für uns nach aussen (gegenüber anderen Völkern) und nach innen (für die Boden- und Eigentumsordnung eines Landes) der Ur-Typus eines konstituierenden Rechtsvorgangs». 

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Der Liberalismus scheut nach Schmitt den «echten» natürlichen Konflikt. In diesem Zusammenhang kann ein weiteres konservatives Schlüsselingredienz nicht fehlen: die Erzählung vom Sinnverlust modernen Lebens. Der Liberalismus «entzaubert» die Politik, indem er ihr die Sinn und Ernst stiftende Dimension des Kampfes raubt. Er verkennt, dass unter-halb von Gesetz und Norm permanenter Kampf und Krieg herrschen, eine «im Bereich des Realen liegende Eventualität». Im Kontrast dazu steht der vom Recht geleitete «seelenlose Mechanismus» bürokratischer Staatsführung, die auf Konventionen beruhende Ordnung der Nationen - der spirituelle Verfall der Politik. Wo kein Feind, kein wirklicher Sinn. Schmitt: «Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten».

Gravitationszentrum dieses Denkens ist der tödliche Ernstfall oder Ausnahmezustand. Es gibt keine Regeln «von Natur aus», Regeln entstehen vielmehr aus Ausnahmezuständen.«Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet», lautet der berüchtigte Schmitt-Satz. Der Souverän «entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen». Das ganze Schmittsche Projekt sucht eine Restitution dieser Souveränität, der «höchste(n), nicht abgeleitete(n) Herrscher-macht». «Nicht abgeleitet» bedeutet: Die Macht ist Beweis ihrer selbst. Sie braucht keine philosophische oder juridische Begründung, gilt kraft einer Entscheidung. Und die unbegrenzte Entscheidungsbefugnis dieser Macht verleiht ihr einen quasigöttlichen Status. Deshalb konnte Schmitt schreiben: «(Alle) prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe».

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Das Management des Ausnahmezustands benötigt Gewalt. Am besten geeignet ist ein starker Führer oder eine Führungsclique: der «Souverän». Die Autokratie – die Herrschaft der Wenigen – erweist sich so gesehen als die genuine Form der Demokratie – der Herrschaft der Vielen. «Souveräne Demokratie» nennt man dies in China. Sie definiert sich dadurch, dass sie klar Freund und Feind unterscheidet. Wie dies der Rechtswissenschafter Chen Duanhong ausdrückt: «Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Unterscheidung von Freund und Feind das Wesen nationaler Verfassungstreue ist». 

Nichts exemplifiziert diese Logik deutlicher als die Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes in Hongkong 2020. Der Protest der Bevölkerung – ihre «Untreue» - stellte die staats-feindliche Ausnahme dar, also musste der «Souverän» reagieren. Man sprach in China vom «Schmitt-Moment». Chen Duanhong, einer der massgeblichen Theoretiker hinter diesem Moment, beruft sich ausdrücklich auf den Deutschen. Wenn der Staat in einer Notlage sei, dann legitimiere dies die Führung, via Entscheid Bürgerrechte zu suspendieren. Einer der Hammersätze Schmitts lautet: «Das Recht ist nicht im Staat, der Staat ist im Recht». Chen klingt ähnlich: «Der Souverän verschafft der Verfassung Geltung und Vitalität».  Der Sou-verän qua Parteispitze repräsentiert das Volk und kann ihm legitimerweise auch eine von Bürgerrechten und -freiheiten Demokratie diktieren. Nach dieser Logik erscheint es auch folgerichtig, dass der Staat das Volk vor den Gefahren der «Weltdemokratie» schützt, wie sie die Globalisierung darstellt. 

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Ein weltpolitischer Ausnahmezustand hält uns gegenwärtig in Atem. Russland sieht sich vom liberalen westlichen «Hegemon» bedroht. Hier gewinnt eine wichtige Figur Schmitts an Aktualität: der Partisan. Alexander Dugin, der philosophische Scharfmacher, ein Fan von Schmitt, träumt vom eurasiatischen Reich, das Europa absorbieren wird. Er schwadroniert von einem grossen Neustart gegen alle universalistischen Tendenzen, wie sie in einer regelbasierten Weltordnung zum Ausdruck kommen. Denn wer definiert diese Regeln? Der «Westen». Er entscheide überall, und das hält Dugin für eine «organische Ungerechtigkeit»: «Wenn andere – das heisst die Befürworter des ‘Universalismus’, der ‘Menschenrechte, des ‘Egalitarismus’ (..) - die Entscheidung treffen, dann wird die Zukunft nicht nur ‘nichtrussisch’ sein, sondern ‘allgemein-menschlich’ und damit ‘No future’ im Sinn von: keine Zu-kunft für das Volk, die Nation, den Staat.»

Dugin sieht in Russland eine rechtlos gemachte Nation. Und daraus folgt das Recht auf Partisanenkrieg. Das ist Schmittsche Logik: «In der Feindschaft sucht der rechtlos Gemach-te sein Recht. In ihr findet er den Sinn der Sache und den Sinn des Rechts, wenn (..)  das Normengewebe der Legalität zerreisst, von dem er bisher Recht und Rechtsschutz erwarten konnte. Dann hört das konventionelle Spiel auf». Fürwahr.

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Dugin verdankt nach eigenen Angaben die «politische Imagination» dem Denken Schmitts. Einen Eindruck dieser Imagination vermittelt das Elaborat «Carl Schmitts fünf Lektionen für Russland».  Dugin schreibt: «Wir leben heute im Ausnahmezustand, auf der Schwelle einer Entscheidung von so grosser Wichtigkeit, wie sie unsere Nation wohl noch nie gesehen hat.» Dugin propagiert den Partisanenkampf gegen den liberalen Welthegemon, die Instituierung einer neuen weltpolitischen Ordnung aus «Grossräumen» mit ihren dominierenden Ethnien: «Wenn ein deutsches Genie unserem Erwachen hilft, dann verdienen die Teutonen einen privilegierten Platz unter den Freunden Grossrusslands, und sie werden zu den ‘Unsrigen’, zu ‘Asiaten’, ‘Hunnen’ und ‘Skythen’ wie wir – die Urbevölkerung der grossen Wälder und Steppen». 

Derartige Sätze zeugen vom Backlash des Denkes, dem Entlarvenden aller Reaktionäre: Sie beschwipsen sich an der imaginären «Grösse» eines zurückliegenden Urstadiums der Clan- und Stammesherrschaft. Und solches Delirieren im Ohr, fragt man sich mit wachsendem Argwohn, in welche vorzivilisierten Zustände uns das 21. Jahrhundert noch zurückwerfen werde. Seien wir jedenfalls vorbereitet. 


The Message is the Massage Über die Krise der epistemischen Autorität Wenn ich einer anderen Person etwas mitteilen will, will ich sie überz...