Über die Psychologie und Psychopathologie des Künstlichen
René Descartes’ Tochter Francine starb fünfjährig an Scharlachfieber. Darüber kursiert eine ebenso seltsame wie traurige Geschichte. Der Tod seines geliebten Töchterchens stürzte den Philosophen in derartige Verzweiflung, dass er eine künstliche Reproduktion anfertigen liess, eine mechanische Puppe namens Francine. Diese konnte sich bewegen und sprechen. Als Descartes 1649 von Königin Christina an den schwedischen Hof eingeladen wurde, nahm er seine künstliche Tochter im Koffer mit auf die Reise. Auf dem Schiff nach Schweden öffneten neugierige oder argwöhnische Matrosen ihn, die Puppe setzte sich auf, begrüsste sie und sprach mit ihnen. Zutiefst erschrocken warfen die Seeleute den Automaten über Bord.
***
Die Geschichte ist nicht verbürgt, aber emblematisch für die Epoche, in der Descartes lebte. Sie stand im Banne des Automaten. Descartes selbst war so verschossen in die künstliche Kreatur, dass er die natürlichen Lebensformen als von Gott geschaffene Automaten - als «göttliche Maschinen» - betrachtete. Der Körper der Tiere enthüllte ein kompliziertes Uhrwerk physiologischer – «mechanischer» - Prozesse, ja, selbst psychische Vorgänge wie das menschliche Lachen beschrieb Descartes als maschinellen Ablauf.
Solche mechanistischen Beschreibungen blieben nicht bloss Theorie. Versierte Uhrmacher des 18. Jahrhunderts suchten Lebensvorgänge auch mit mechanischen Mitteln nachzubauen. So sorgte etwa 1738 eine künstliche Darmentleerung für europaweites Aufsehen. Der französische Automatenbauer Jacques de Vaucanson hatte eine mechanische Ente konstruiert, die er in Paris vorstellte. Sie streckte ihren Kopf, pickte Körner aus der Hand, schluckte sie, verdaute sie und liess sie hinten gewandelt als Exkremente wieder hinaus. Das Publikum bestaunte die physiologische Simulation, die sich im seitwärts offenen Automaten wie in einem Diorama darbot. Führende Intellektuelle wie Diderot, Voltaire und Condorcet feierten das Genie Vaucansons. Voltaire hob ihn gleich aufs mythische Podest, als «Rivalen von Prometheus, der die Natur nachahmend, das Feuer des Himmels (nahm), um die Körper zu beleben.»
***
Verkneifen wir uns das Lächeln ob dieses naiven Glaubens in die «Lebendigkeit» der Automaten. Sie haben sich rasant weiterentwickelt, wir begegnen ihnen heute in der Gestalt der KI-Tools. Zentral in der Psychologie des Künstlichen ist der «animistische Umschlag» des Blicks. Wir beginnen Artefakte als quasilebend wahrzunehmen. In ihnen scheint eine künstliche Psyche zu wohnen, die uns dazu verleitet, sie wie unseresgleichen zu behandeln. Dabei ist aber unsere Psyche im Grunde gleich naiv und animistisch geblieben wie beim Frühmenschen, geradezu retardiert gegenüber dem atemberaubenden Fortgang der Technik. Besonders in den «avanciertesten» Technozirkeln. Erst kürzlich behauptete ein abgedrehter Softwareentwickler bei Google, das Konversationsprogramm LaMDA habe zu ihm gesprochen und zeige eine empfindsame Seele.
***
Die Psychologie des Automaten enthüllt im Wesentlichen eine Psychologie der Verführung. Schon das Wort «Simulation» ist doppeldeutig. Es meint Nachahmung und Vortäuschung. Vaucansons Ente war, bei allem Einfluss auf das Denken seiner Zeit, keine Nachahmung von Lebensvorgängen, sondern ein Schwindel. Kritische Zeitgenossen fanden schnell her-aus, dass der Automat die Körner nicht «verdaute», vielmehr wurden diese am Ende der Kehle in einem versteckten Behälter aufgefangen und der Darmausgang vor der Vorfüh-rung mit künstlichen Verdauungsresten gefüllt.
Der ChatGPT «schreibt» keine Texte, er simuliert das Texteschreiben. Ist die heutige künstliche Intelligenz ebenfalls ein Schwindel? Wir können die neuen Automaten nicht mehr so leicht entlarven wie Vaucansons Ente. Der notorische Turingtest für Maschinen lässt sich im Grunde auf ein einfaches Kriterium reduzieren: Wenn mich die Maschine mit ihrem «intelligenten» Verhalten täuscht, dann ist sie intelligent. Die Frage stellt sich sogar: Wollen wir die Automaten überhaupt entlarven, und was gibt es denn zu entlarven? Unsere Leichtgläubigkeit in die neue Technologie ist phänomenal, auf der Schwelle zur Groteske. Und sie wird von den Technogiganten hemmungslos gefördert.
***
Man könnte von der Bestechung durch die Technologie sprechen, auch hier im Doppelsinn des Wortes. Die Artefakte bestechen uns durch ihre teils übermenschlichen Fähigkeiten, und zugleich durch ihrer Verführungskraft. Heute, im Universum der smarten Dinge, entgehen wir dieser Bestechung kaum noch. Die uns auf Schritt und Tritt begleitenden Gadgets und Apps tun alles für uns. Dieses allgegenwärtige paternalisierende Etwas-für-uns-tun saugt vampirisch und unmerklich alle Eigeninitiative, alles Eigenleben aus uns.
Descartes gestand dem Apparat Mensch immerhin noch eine Seele zu. Heute scheint sie verzichtbar zu sein. Beschwipste Messianisten eines neuen technologischen Zeitalters sagen: Tant mieux! Ob Mensch oder Artefakt – bloss Automaten. Wenn wir ein bisschen tiefer hineinschauen, ist da niemand zuhause.