Samstag, 2. November 2024

 


Über die Psychologie und Psychopathologie des Künstlichen

René Descartes’ Tochter Francine starb fünfjährig an Scharlachfieber. Darüber kursiert eine ebenso seltsame wie traurige Geschichte. Der Tod seines geliebten Töchterchens stürzte den Philosophen in derartige Verzweiflung, dass er eine künstliche Reproduktion anfertigen liess, eine mechanische Puppe namens Francine. Diese konnte sich bewegen und sprechen. Als Descartes 1649 von Königin Christina an den schwedischen Hof eingeladen wurde, nahm er seine künstliche Tochter im Koffer mit auf die Reise. Auf dem Schiff nach Schweden öffneten neugierige oder argwöhnische Matrosen ihn, die Puppe setzte sich auf, begrüsste sie und sprach mit ihnen. Zutiefst erschrocken warfen die Seeleute den Automaten über Bord. 

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Die Geschichte ist nicht verbürgt, aber emblematisch für die Epoche, in der Descartes lebte. Sie stand im Banne des Automaten. Descartes selbst war so verschossen in die künstliche Kreatur, dass er die natürlichen Lebensformen als von Gott geschaffene Automaten - als «göttliche Maschinen» - betrachtete. Der Körper der Tiere enthüllte ein kompliziertes Uhrwerk physiologischer – «mechanischer» - Prozesse, ja, selbst psychische Vorgänge wie das menschliche Lachen beschrieb Descartes als maschinellen Ablauf.

Solche mechanistischen Beschreibungen blieben nicht bloss Theorie. Versierte Uhrmacher des 18. Jahrhunderts suchten Lebensvorgänge auch mit mechanischen Mitteln nachzubauen. So sorgte etwa 1738 eine künstliche Darmentleerung für europaweites Aufsehen. Der französische Automatenbauer Jacques de Vaucanson hatte eine mechanische Ente konstruiert, die er in Paris vorstellte. Sie streckte ihren Kopf, pickte Körner aus der Hand, schluckte sie, verdaute sie und liess sie hinten gewandelt als Exkremente wieder hinaus. Das Publikum bestaunte die  physiologische Simulation, die sich im seitwärts offenen Automaten wie in einem Diorama darbot. Führende Intellektuelle wie Diderot, Voltaire und Condorcet feierten das Genie Vaucansons. Voltaire hob ihn gleich aufs mythische Podest, als «Rivalen von Prometheus, der die Natur nachahmend, das Feuer des Himmels (nahm), um die Körper zu beleben.»

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Verkneifen wir uns das Lächeln ob dieses naiven Glaubens in die «Lebendigkeit» der  Automaten. Sie haben sich rasant weiterentwickelt, wir begegnen ihnen heute in der Gestalt der KI-Tools. Zentral in der Psychologie des Künstlichen ist der «animistische Umschlag» des Blicks. Wir beginnen Artefakte als quasilebend wahrzunehmen. In ihnen scheint eine künstliche Psyche zu wohnen, die uns dazu verleitet, sie wie unseresgleichen zu behandeln. Dabei ist aber unsere Psyche im Grunde gleich naiv und animistisch geblieben wie beim Frühmenschen, geradezu retardiert gegenüber dem atemberaubenden Fortgang der Technik. Besonders in den «avanciertesten» Technozirkeln. Erst kürzlich behauptete ein abgedrehter Softwareentwickler bei Google, das Konversationsprogramm LaMDA habe zu ihm gesprochen und zeige eine empfindsame Seele. 

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Die Psychologie des Automaten enthüllt im Wesentlichen eine Psychologie der Verführung. Schon das Wort «Simulation» ist doppeldeutig. Es meint Nachahmung und Vortäuschung. Vaucansons Ente war, bei allem Einfluss auf das Denken seiner Zeit, keine Nachahmung von Lebensvorgängen, sondern ein Schwindel. Kritische Zeitgenossen fanden schnell her-aus, dass der Automat die Körner nicht «verdaute», vielmehr wurden diese am Ende der Kehle in einem versteckten Behälter aufgefangen und der Darmausgang vor der Vorfüh-rung mit künstlichen Verdauungsresten gefüllt. 

Der ChatGPT «schreibt» keine Texte, er simuliert das Texteschreiben. Ist die heutige künstliche Intelligenz ebenfalls ein Schwindel? Wir können die neuen Automaten nicht mehr so leicht entlarven wie Vaucansons Ente. Der notorische Turingtest für Maschinen lässt sich im Grunde auf ein einfaches Kriterium reduzieren: Wenn mich die Maschine mit ihrem «intelligenten» Verhalten täuscht, dann ist sie intelligent. Die Frage stellt sich sogar: Wollen wir die Automaten überhaupt entlarven, und was gibt es denn zu entlarven? Unsere Leichtgläubigkeit in die neue Technologie ist phänomenal, auf der Schwelle zur Groteske. Und sie wird von den Technogiganten hemmungslos gefördert.

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Man könnte von der Bestechung durch die Technologie sprechen, auch hier im Doppelsinn des Wortes. Die Artefakte bestechen uns durch ihre teils übermenschlichen Fähigkeiten, und zugleich durch ihrer Verführungskraft. Heute, im Universum der smarten Dinge, entgehen wir dieser Bestechung kaum noch. Die uns auf Schritt und Tritt begleitenden Gadgets und Apps tun alles für uns. Dieses allgegenwärtige paternalisierende Etwas-für-uns-tun saugt vampirisch und unmerklich alle Eigeninitiative, alles Eigenleben aus uns. 

Descartes gestand dem Apparat Mensch immerhin noch eine Seele zu. Heute scheint sie verzichtbar zu sein. Beschwipste Messianisten eines neuen technologischen Zeitalters sagen: Tant mieux! Ob Mensch oder Artefakt – bloss Automaten. Wenn wir ein bisschen tiefer hineinschauen, ist da niemand zuhause.











Donnerstag, 31. Oktober 2024

 


NZZ, 30.10.24


Der Wille zur Rache

Das Erstarken des Vergeltungsgedankens in der Politik

Wir erinnern uns: Anfangs Mai 2011 exekutierte eine Spezialeinheit der US-Navy Osama Bin Laden in dessen Heim in Pakistan. Präsident Obama verkündete dem amerikanischen Volk: «Justice has been done». Und damit bediente er ein vorherrschendes Gefühl, das eine populäre Zeitung so zum Ausdruck brachte: «Wir haben ihn! Endlich wurden wir gerächt!» Solche Wortwahl erinnert an Vendettas. Besonnenere Zeitgenossen wunderten sich, wie Obama, im-merhin ein ausgebildeter Jurist, sich an einer solchen Formulierung vergreifen konnte. Meinte er nun «Gerechtigkeit» als Rache?

Der Terrorismus ist bedrohlich genug. Noch bedrohlicher ist eine allgemeinere Entwicklung: des Wiederauflebens und Erstarkens des Rachegedankens in der Politik. Die Islamisten sind die Pioniere. Ihre Ideologen des modernen Terrors wollen primär keinen Krieg gewinnen, sie wollen Vergeltung als Antwort auf die Erniedrigung und Kränkung der islamischen Kultur durch die Entwicklung der modernen Zivilisation, die ja nun tatsächlich primär in Europa und Nordamerika stattgefunden hat. 

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Dieses Gefühl der Erniedrigung ist die eigentliche Brutstätte des Racheaffekts. Demagogen aller Art verwenden eine Dreischritt-Taktik zur Weckung dieses Affekts. Man redet dem Publikum zunächst ein, wie stark es gedemütigt werde. Dann sucht man nach den Urhebern dieser Erniedrigung. Schliesslich inszeniert man sich als die Figur, die Vergeltung verspricht. 

Ein Schulbeispiel lieferte Donald Trump in seinem Wahlkampf 2016. Er begann auf dem Regis-ter der Erniedrigung und Bedrohtheit: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (..) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (..) und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (..) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, sondern von überall her aus dem Süden (..) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten». Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nach-richten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (..) einen wirklich grossen Führer (..), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär». Diesem Niveau bleibt Trump bis heute treu. Er spielt den Rächer der Erniedrigten. An einer Konferenz der Konservativen 2023 sagte er: «Für all die, denen Unrecht getan wurde: Ich bin eure Vergeltung». 

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Es verlockt, zumindest hypothetisch, das Aufleben des Rachegedankens mit der globalen Lage in Zusammenhang zu bringen. Die Welt ist ethnisch-kulturell zersplittert, trotz UNO-Charta. Heute spricht man schon fast abschätzig über eine sogenannte regelbasierte Weltordnung. Wo aber die Fundamente eines internationalen Regelwerks bröckeln, kann der Rachegedanken ungehindert Fuss fassen. 

Ganz offensichtlich im Israel-Hamas/Hizbullah-Konflikt. Die Medien gebrauchen gerne das Bild der unaufhaltsamen Eskalationsspirale. Beide Parteien «müssen» vergelten, aber nach unterschiedlicher Logik. Die islamistische Logik sieht im Terror Vergeltungsaktionen gegen die «Kolonialmacht» Israel, letztlich gegen «den Westen». Und die Rache trifft mit wahlloser Grausamkeit Zivilisten. Die israelische Logik sieht sich gezwungen, darauf zu reagieren. Aber wie? Soll man Gleiches mit Gleichem vergelten? Palästinensische und libanesische Zivilisten eben-falls wahllos «bestrafen»? Das kollaterale Leid, das israelische Gegenschläge verursachen, ist entsetzlich, und gewiss spielen auch Rachemotive mit. Aber der Staat Israel steckt in der Zwickmühle. Er hängt von westlicher Unterstützung ab, und er sieht sich im Gegensatz zur Hamas und dem Hizbullah einem Internationalen Gerichtshof verpflichtet. Das Urteil des Genozid-Staates hängt über allen seinen Aktionen.  

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Abgesehen von solcher Rechtfertigungsproblematik vernimmt man in Zeitungskommentaren nun Atavismus-Alarm; die Warnung vor biblischen Zeiten des «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Also letztlich vor kompromisslosen Vergeltungskriegen. Zeigt sich hier das Modell für ähnliche politische Konflikte? Spekulationen über kulturelle Rückschritte sind stets abenteuerlich. Aber mich sucht in diesen Tagen die Erinnerung an Francis Fukujamas These vom Ende der Geschichte heim, die den globalen Siegeszug der liberalen Demokratie – und damit auch der Rechtsstaatlichkeit - verkündete. Man konnte die These als Lob «westlicher» politischer Reife lesen, die das Zeitalter der Vergeltung endlich überwindet, und uns «Aufgeklärten» erlaubt, die Welt dank Recht und Gesetz zu regulieren. 

Nichts gegen Aufklärung, aber hüten wir uns vor leichtfertigem Idealismus. Ressentiment und Rache lassen sich durch Recht und Gesetz nicht überwinden, nur verdrängen. Und gerade im Souterrain des Verdrängten entfaltet der Wille zur Rache seine diabolische Potenz. 

Also potenziell  in uns allen.







Dienstag, 15. Oktober 2024

 


Der mathematische Beweis im Zeitalter der Algorithmen 

Was, wenn Mathematiker den Computer nicht mehr verstehen?

Was ist ein Beweis? Das ist das tiefste erkenntnistheoretische Problem der Mathematik. Der Beweis garantiert die Geltung mathematischer Sätze. Und in ihnen sieht man die höchste Art der Wahrheit. Unumstösslich, ewig, weil sie Sachverhalte beschreiben, die «nicht von dieser Welt» sind: platonisch. Der Satz von Pythagoras ist ein solcher Sachverhalt. Er existiert in einem Reich, über dessen Seinsweise die philosophierenden Mathematiker allerdings nie eins wurden. 

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Aus diesem Grund wuchs um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Bedürfnis, das Fundament der Mathematik philosophisch zu «reinigen», indem man ihr eine logisch makellose Architektur zugrundelegt. Das ist die grandiose Idee einer Beweismaschine, die kraft einer Formalsprache sowie klarer Schlussregeln aus einer endlichen Anzahl von Axiomen alle mathemati-schen Sätze deduziert. Nach dem Konsens der Mathematiker geht die Mengenlehre - das Fundament der Mathematik - von 10 Standardannahmen aus, den sogenannten Zermelo-Fraenkel-Axiomen. Tatsächlich gibt es zahlreiche Sätze, deren Wahrheit man vermutet, deren Beweis aber aussteht. Eine Beweismaschine wäre ein Geschenk des platonischen Himmels. Man müsste ihr einfach ein Theorem vorlegen, und innert endlicher Frist würde sie das Theorem aus den Axiomen deduzieren. 

Ein Wunschtraum, den der Logiker Kurt Gödel in den 1930er Jahren zerstörte. Er zeigte, dass nur schon eine Maschine, in der sich die Arithmetik formalisieren lässt, nicht alle arithmetischen Sätze aus den zugrundegelegten Axiomen beweisen kann. Das System lässt sich erweitern, aber es bleibt in diesem Dilemma gefangen. Der britische Mathematiker Alan Turing doppelte in den 1950er Jahren nach, als er zeigte, dass es Sätze gibt, bei denen die Beweismaschine keine Antwort liefert, das heisst in unendlichen Leerlauf gerät. Wenn also schon die Arithmetik in diesem Sinn unvollständig ist, wie steht es um die ganze Mathematik? Was hat es für einen Sinn, von der Wahrheit eines Theorems zu sprechen, wenn es nicht beweisbar ist? 

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Die Frage zielt direkt auf die Fundamente der Mathematik. Und sie hat den kanadischen Mathematiker Andrew Granville veranlasst, einen neuen, pragmatischeren Gesichtspunkt in die Debatte einzubringen. Kurz gesagt lautet seine These: Letztlich beruht der Beweis auf einer Übereinkunft unter den Mathematikern. Mathematik ist ein Sprachspiel mit Regeln und Normen, und die Objektivität – die «Wahrheit» - ihrer Sätze ist durch ein solches Sprachspiel be-gründet. Wie Granville schreibt, besteht das beste System in der Mathematik darin, «dass viele Forscher einen Beweis aus verschiedenen Perspektiven prüfen, und dass dieser Beweis gut in einen Kontext passt, den sie kennen und dem sie vertrauen. In einem gewissen Sinn sagen wir nicht, wir wüssten, der Satz sei wahr. Wir sagen, wir hofften, er sei korrekt, weil eine Vielzahl von Leuten ihn aus verschiedenen Blickwinkeln gestestet haben». So gibt es zum Beispiel über 400 Beweise des Satzes von Pythagoras.  Deshalb wäre es wahrscheinlich unverfänglicher, statt von der Wahrheit von Theoremen von ihrer Robustheit zu sprechen. 

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Eine solche Sichtweise gewinnt nun an unerwarteter Aktualität, wenn wir die neuesten KI-Systeme in die Diskussion einbeziehen. Sie lernen ja immer mehr intellektuelle Fähigkeiten des Menschen, sie lernen auch Mathematik. Im gegenwärtigen Vertrauen in die Gelehrigkeit von Computern stellt sich die Frage, wie es denn um einen künstlichen Mathematiker stünde, um ein KI-System also, das Mathematik von den elementaren arithmetischen Grundlagen auf lernen und die rechnerischen, logischen und metamathematischen Kompetenzen schrittweise selbst erwerben und entwickeln würde, bis es schliesslich die Stufe eines künstlichen Supermathematikers erreicht hätte. Es wäre nicht nur in der Lage, die uns bekannten mathematischen Theoreme zu beweisen, es würde auch bisher ungelöste Probleme bewältigen, auf eine Art und Weise freilich, die den Mathematikern Kopfzerbrechen bereitet. Seine Spielzüge wären  für den Menschen eine Black Box. Was aber ist ein mathematischer Beweis, wenn die Mathematiker ihn nicht verstehen?

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Die Frage ist brisant, denn sie ist vom fiktiven Szenario ins reale übergetreten. Kürzlich entwickelte Deep Mind von Google zwei KI-Systeme – Alpha Proof und Alpha Geometry 2 -, die komplexe Probleme lösen.  Und schon seit längerem lassen sich Mathematiker von Beweisassistenten helfen. Zum Beispiel von Lean, einem System, das 2013 entwickelt worden ist. Grosse Teile des mathematischen Wissens finden sich darin in eine Computersprache übersetzt. Schlägt man einen Beweis vor und formuliert ihn in Lean, vollzieht ihn das System Schritt für Schritt nach und versieht ihn mit dem Siegel «korrekt» oder «nicht korrekt». 

Aber wie robust ist der Beweis eines Theorems, der von einem KI-System geliefert wird? Bekanntlich können KI-Systeme «halluzinieren». Sie generieren Output, der nur scheinbar mit dem Input zusammenhängt: Fake-Beweise. Ein Bot lieferte zum Beispiel den «Beweis», dass zwischen zwei ganzen Zahlen unendlich viele ganze Zahlen existieren. 

Oder der Fall könnte eintreffen, dass ein Programmierer vergisst, den Trainingsalgorithmus eines neuronalen Netzwerks anzuhalten. So soll es vorgekommen sein, dass ein solcher «vergessener» Algorithmus selbständig eine neue Form der Addition herausgefunden hat (sogenannte modulare Addition), die man ihn nicht lehrte. Im Maschinenlernen nennt man diese neuen Einsichten des Computers «Grokking». Was also, wenn der Computer Beweise «grokkt», die unseren Begriffshorizont übersteigen? 

Hier nimmt eine neue Interaktionsform zwischen Mensch und Maschine Gestalt an, in der der Computer seinen «autonomen» Beitrag zum Wissenskorpus leistet. Die Mathematiker müssten ihm das Vertrauen in die Beweiskompetenz schenken, und das heisst, sie müssten ihn in ihre Community aufnehmen. Anzunehmen ist dabei, dass das Zusammenspiel von menschlichen und künstlichen Mathematikern durchaus den Beweis eines schwierigen Theorems erlaubt. Erneut stellt sich also die Frage der Übereinkunft als Basis des Beweises. Übereinkunft zwischen Mensch und Computer? Und wenn die Computer mit der Zeit die ganze Arbeit übernehmen würden? 

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Das ist äusserst unwahrscheinlich. Denn gerade die Kooperation mit dem Computer kann möglicherweise den Unterschied zwischen Mensch und Maschine deutlicher hervortreten lassen. Mathematik ist eine geistige Terra incognita. Es zeugt von einem völlig falschen Verständnis für sie, wenn man den Beweis als Abschnurren formallogischer «maschineller» Schritte betrachtet. Er ist im Gegenteil ein hoch kreativer Prozess, der sehr viel an intuitiver Einsicht, Einfallsreichtum, Umgang mit Paradoxien, «unscharfem» Denken voraussetzt. KI-Modelle werden ja auf dem Korpus der niedergeschriebenen mathematischen Arbeiten trainiert. Aber wie die KI-Forscherin Katie Collins von der University of Cambridge bemerkt, sind «online wenig Daten über formalisierte Mathematik zu finden, verglichen mit Daten in natürlicher Sprache». Das ist kaum verwunderlich, denn kreative Mathematiker wissen in der Regel mehr, als sich in Programmsprachen codieren lässt. Und aus diesem Grund ist es fraglich, ob man diesen impliziten Rumpf der Mathematik jemals völlig explizite darstellen kann.  

Das heisst, die Mathematik wird sich im Zeitalter der KI als das zu erkennen geben, was sie schon immer war: als eine Kunst des Vermutens, die in glücklichen Fällen zu robusten Resultaten führt. 



Mittwoch, 9. Oktober 2024

 


NZZ,7.10.24

Diagnose: Naturanalphabetismus

Sprachverödung heisst Naturverödung


Das Lamento über das Verschwinden der Arten ist allbekannt. Mit dem Schwund in der Natur korrespondiert allerdings ein anderer, ebenso bedenklicher Schwund, nämlich in der Sprache. Dabei wuchert unser Wortschatz traditionell wohl nirgendwo üppiger und dichter als im Reich von Flora und Fauna. 

Zum Beispiel diese zarte und lustvoll exakte Annäherung an das Gewächs in alten Botanik-schwarten. Linnés „Pflanzensystem“ (deutsch 1787) beschreibt eine Flechtenart (Hunds-flechte) so: „Die Blätter sind zart, breit, flach, eben, einfach oder in ziemlich runde Lappen geteilt. Die Oberfläche derselben ist an der frischen (..) Pflanze braungrünlich oder bleich-bleifärbig, mit einem aschgrauen mehlartigen Staube bedeckt (..) An der aufgerichteten Spitze des Blattes sitzt ein Fingernagel-förmiges, eirundes, oberwärts konvexes, unterwärts konkaves bräunliches oder dunkelrötliches Schildchen, welches an seiner Unterfläche ebenfalls inkarnatrot ist.“ 

Oder dann Vogelbücher wie etwa Petersons „Die Vögel Europas“, wo über den Habichtsadler zu lesen ist: „Länglicher Schwanz mit einem halben Dutzend matter Binden und einer breiten dunklen Endbinde. Von unten gesehen hebt sich die schmal gestreifte, seidenweisse oder rahmfarbene Unterseite von den langen dunklen Flügeln ab. Junge mit rostfarbenem Kopf, dicht röstlichbraun gestreifter Unterseite und eng gebändertem Schwanz.“ Und erst noch die Lautmalerei. Seine Stimme: ein schnatterndes „kai, kai, kikiki.“ 

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Immer, wenn ich solches lese, beschleicht mich eine unbestimmte leise Trauer: Habe ich das je beobachtet, je gehört? Der britische Reiseschriftsteller Robert Macfarlane betreibt eine Art von Archäologie der Landschaftssprache und er macht in seinem neuen Buch „Landmarks“ (2015) auf ein generelles Symptom in unserem Verhältnis zur Natur aufmerksam: Wir verlernen diese Sprache. Auf den Hebriden fand er zum Beispiel ein „Torf-Glossar“, eine Sammlung von über hundert gälischen Ausdrücken für das Moorland. Er stiess auf Wörter für feinen Eisfilm auf Blättern und Zweigen, für den leisen Windhauch auf der Oberfläche eines stillen Gewässers, für den Tunnel am Grund einer Hecke, den kleine Tiere für ihren regelmässigen Durchgang schaffen. „Landspeak“ nennt Macfarlane diese Sprache. Nun wird aber unsere Ökologie zunehmend überformt von technischen Systemen, und das schlägt sich notgedrungen im Sprachgebrauch nieder. Mit Videos auf Youtube brauchen wir kein Vokabular der Landschaftsbeschreibung mehr. Wie der amerikanische Umwelthistoriker William Cronon bemerkt hat, besteht das beste Verständnis der Natur um uns im Verständnis der Natur in uns; und dazu gehört Sprache: „Die Natur in unseren Köpfen ist ebenso wichtig wie die Natur, die uns umgibt, denn die eine gestaltet und filtert ständig die Art und Weise, wie wir die andere wahrnehmen.“ 

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Macfarlane weist auf ein anderes Phänomen hin, das mit dem Sprachverlust für die Natur einhergeht: auf die Kompensation oder vielmehr den Ersatz durch ein neues universelles Technospeak. Der Oxford Junior Dictionary, ein Nachschlagewerk für Kinder, hat eine Vielzahl von Wörtern für die Natur getilgt. Sie seien für ein Leben in den heutigen Umwelten nicht mehr relevant: zum Beispiel Eichel, Kreuzotter, Esche, Buche, Weidenkätzchen, Löwenzahn, Heide, Efeu, Mistel Wiese. An ihrer statt nimmt der Diktionär jetzt Begriffe auf wie Attachment, Block-Graph, Blog, Breitband, Chatroom, Cut-and-Paste, MP3-Player, Voice-Mail. 

Eine fundamentale Verschiebung. Wie Macfarlane schreibt, manifestiert sich darin nicht nur ein Schwinden unseres Gespürs für die Natur, sondern auch der Verlust einer „Art von Wortmagie: einer Kraft, die bestimmte Begriffe besitzen, um unser Verhältnis zur Natur und ihren Orten zu verzaubern.“ Wir vermüllen die Natur nicht zuletzt dadurch, dass wir das Vokabular der Imagination zum Abfall werfen. Wir bemerken nicht, dass Sprachverödung nur die eine Seite der Naturverödung ist. 

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Ein Einspruch wie jener Macfarlanes wird heute schnell als pastorales Genre, als „romantisch“ oder „nostalgisch“ abgetan. Aber das verunglimpft die Romantik, die alles andere als rückwärtsgewandt war. Adalbert von Chamisso zum Beispiel schrieb nicht nur „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, er war Botaniker; er entdeckte unter anderen den Goldmohn -  die kalifornische Wappenblume – und nach ihm ist etwa auch eine Heidelbeerart - Vaccinium chamissonis – benannt. Er verfasste ein Lehrbuch mit dem ziemlich un-romantischen Titel: Übersicht über die nutzbarsten und schädlichsten Gewächse, die wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen (1827). 

Chamisso wäre heute wohl am ehesten den Ökologen zuzurechnen - allerdings wäre er ein besonderer Ökologe. Immer hatte er auch die Verschränkung von Natur und Kultur – also Sprache - im Blick. Die Pflanze war für ihn nie nur Forschungsobjekt, sondern ein Natur-subjekt, das „mächtig auf die Geistesrichtung einzelner Individuen, wie die Kulturgeschichte ganzer Völker eingewirkt hat (..) Die Vegetation ist es, die an den Boden gefesselt, den festen Teil der Erdoberfläche mit einem grünen Teppich bekleidend, so mächtig Geist und Gemüt anregt. Sie ist es, die vorzugsweise der Erdoberfläche das Ansehen einer belebten gibt und den Eindruck der allverbreiteten Lebensfülle hervorruft.“ Das gleiche liesse sich auch von der Sprache sagen. Eine Landschaft ist eine  geologische und linguistische Sedimentation.

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Hoffnung besteht allerdings. Die Tilgung der Naturwörter aus dem Oxford Junior Dictiona-ry hat den Protest von – zum Teil bekannten - Autorinnen und Autoren hervorgerufen. Der Schriftsteller und Photograph Tim Robinson stellte das Bedürfnis nach einer Sprache fest, die einer „säkularen Zelebrierung von Orten“ angemessen sei. Ein anderer Photograph, Dominick Tyler, veröffentlichte einen prachtvollen Band über englische Landschaften („Uncommon Grounds“), in dem paarweise 100 Wörter für Naturszenen mit entsprechen-den Bildern zusammengestellt sind. Vom Botaniker Richard Mabey stammt das Buch „The Cabaret of Plants“, in dem er für eine „neue Sprache“ plädiert, welche die Pflanze in ihrer spezifischen Individualität würdigt.

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Dann gibt es natürlich immer noch die Naturlyrik, etwa Marion Poschmanns „Geliehene Landschaften“ (2016). Sie nennt ihre Lyrik „Lehrgedichte und Elegien“. Ihr Blick auf die Natur ist von der Stadt geprägt. Er weiss vom Vordringen des Technischen und Urbanen, zum Beispiel in die ehemals besungene Pracht der Alpen. Die Sprache ist kalt und technisch. Mönch und Jungfrau im Berner Oberland werden da direkt angesprochen:

„Du schläfst in stabiler Seitenlage am Rande

der Alpen, am Rand der Verbreitungskarten 

rotkarierter Lawinengefahr. Thermikzieher

schrauben sich durch die Habitusbilder der Skigebiete,

und Abluft in haushaltsüblichen Mengen verfängt sich 

in Hecken, steigt auf zu den glitzernden Wolken der Welt.“

Die Eroberung der Alpenwelt ist hier längst Banalität. Es mischen sich das Erhabene der „glitzernden Wolken der Welt“ und die „haushaltsüblichen Mengen“ an Abluft. Das Gedicht handelt vom Anthropozän, von der Dominanz des Menschen über die Natur. Aber trotz ihres „elegischen“ Charakters hört man aus dieser Lyrik einen trotzigen Appell heraus: Schaut doch mal hin, in was für einer Umwelt ihr lebt! Und ich liefere euch das Vokabular für die Sichtbarmachung dieser Umwelt! 

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Hoffnung kommt auch von einer anderen Seite. Macfarlane erzählt von einem fünfjährigen Mädchen, das für die weichen Grassamen in seinen Händen eine eigene Bezeichnung aus-heckte: „Honigpelz“ („honeyfur“). Oder, als er seinem kleinen Sohn sagte, dass es keinen Ausdruck für den schimmernden Buckel gibt, der entsteht, wenn Wasser über einen Stein strömt, antwortete der Kleine spontan: Strömungspopo („currentbum“). Wunderschön. Kinder haben diese magische Fähigkeit, die Erde mit Sprache stets wieder neu zu verzaubern. Treiben wir ihnen diese Fähigkeit nicht aus. Die Rettung der Natur liegt nicht zuletzt in der Auswilderung unserer Sprache für die Natur. 


Mittwoch, 2. Oktober 2024



Schwierigkeiten mit der Identität

Das Unbehagen vor dem Uneindeutigen


Jeder Mensch ist jemand: eine Person. So weit, so banal. Fragt man aber, warum ich der bin, der ich bin, gerät man schnell in die Bredouille. Schon der geläufige Sprachgebrauch hilft wenig. Wir verbinden unser Personsein leicht mit der Vorstellung eines Besitzes. Ich bin der, der ich bin, weil ich eben eine Identität «habe», die mich zu dem macht, was ich bin. Aber was versteckt sich hinter dieser «Habe»?

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Man kann zur Beantwortung der Frage auf zwei etwas abgehobene Begriffe im philosophischen Vokabular zurückgreifen: Essenzialismus und Voluntarismus. Essenzialismus bedeutet: Meine Identität ist definiert durch etwas, das nicht meiner Bestimmung unterliegt: durch den Willen Gottes, durch mein Genom, meine gesellschaftliche Rolle - mein «Wesen». Der Wesensbegriff ist perfid. Er nagelt eine Person an ganz bestimmten, scheinbar unveränderlichen Merkmalen fest. Er beschreibt nicht Eigenschaften einer Person, er schreibt sie ihr diktatorisch zu. So bist du und so hast du zu sein! Amartya Sen hat dafür den treffenden Begriff der Identitätsfalle geprägt. Einmal Schwarzer, immer Schwarzer. Einmal Frau, immer Frau. Einmal Jude, immer Jude! Und das bedeutet nicht selten, dass man mit der «Verwesentlichung» eine Person gedank-lich vergewaltigt – in letzter Konsequenz auch physisch. 

Voluntarismus bedeutet: Meine Identität ist Sache meines Willens, meiner Wahl. Wer ich bin, bestimme letztlich ich. Ich bin nicht der, als den ihr mich festzunageln versucht! Ich bin nicht Stiller! Man erkennt sofort das Aufbegehren gegen den Essenzialismus. Ich wehre mich gegen Kategorien, die in einer Gesellschaft als normative Macht wirken. Ich bin frei, mich so auszudrücken und auszuleben, wie ich es für gut befinde, unabhängig von all den Identitätsfutteralen, die eine Gesellschaft bereithält. 

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Die Positionen schliessen einander nicht aus, sie markieren Pole eines Spektrums. Am einen Pol liegt die «plombierte» Identität: Du bist notwendig der, der du bist! Am anderen liegt die «frei flottierende» Identität: Wähle dich, der du bist! Die meisten Menschen situieren sich im Mittelbereich. Sie bewegen sich in einer gewissen Instabilität zwischen Selbst- und Fremdidentifikation, nach der berühmten Devise Rimbauds «Ich ist ein Anderer». Die Instabilität auszuhalten kennzeichnet die robuste Person.  

Dieses Spektrum der Identitäten ist heute durch beide Extreme akut bedroht. Ganz offenkundig von Hardcore-Essenzialisten, die die Person aufgrund einer Weltanschauung oder Ideologie ein für allemal festgelegt haben möchten. Andererseits aber auch von «Libertinisten», die sich frei fühlen, ihre Identitäten wie Hemden und Hosen zu wechseln. 

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Und unversehens landen wir in der aktuellen Genderdebatte. Die queere Gemeinschaft wehrt sich gegen einen biologischen Essenzialismus, gegen die Zuschreibung der Geschlechtsidentität allein im Namen der «Natur». Kritikerinnen und Kritiker der Binarität «dekonstruieren» diese «Natur» als eine soziale Macht, die Andersartige in das Prokrustesbett von traditionellen Normen zu zwängen sucht. Normen aber sind keine Fakten, sie beruhen auf einer Übereinkunft der Menschen. Und die Legitimität einer Übereinkunft ist stets hinterfragbar. 

Nun beobachten wir freilich eine Verhärtung der Fronten. Gegen nichtbinäre Identitäten wappnen sich erstarkende reaktionäre Kräfte. Autoritäre Regimes haben in der Gendertheorie ihre Lieblingsfeindin entdeckt. Als Unterwanderin der «natürlichen» Weltordnung. Putin und Orban zum Beispiel sehen die Staatssicherheit durch die queere Community gefährdet. Papst Franziskus entblödete sich nicht, die Gendertheorie mit der Atombombe zu vergleichen.  

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Ich stelle als Vermutung eine These auf: Dieser intellektuelle Backlash drückt ein Unbehagen vor dem Uneindeutigen aus. Es geht dabei um weit mehr als bloss um die Geschlechtsidentität. Gerade die Freiheit, zu sagen «Ich bin nicht so, ich bin auch anders», macht aus uns lebende, weil «uneindeutige» Personen - und nicht abstrakte, statistisch verwertbare Kategorien. Unserer «natürlichen» Persönlichkeit moduliert sich ja zunehmend eine digitale, von der Technoindustrie manipulierbare Identität auf. Identifizierung ist immer auch ein Instrument der Machtausübung, durch Unternehmen, staatliche Behörden oder andere Institutionen. Im Uneindeutigen steckt eine heimliche Subversion gegen das Gleichmacherische. Wir sollten sie angesichts immer potenterer Identifizierungs- und Überwachungstechnologien gerade heutzutage bewahren und pflegen. 

«Ich bin nicht der, der ich bin (zu sein habe)!» wird deshalb zur Losung eines Aufstands des Uneindeutigen in der digitalen Ära. 









Donnerstag, 19. September 2024

 


Wenn ein Löwe sprechen könnte

„Wenn ein Löwe sprechen könnte, würden wir ihn nicht verstehen“, schrieb einst Ludwig Wittgenstein. Und warum? Wir würden uns nicht in den Löwen finden. Wirklich? - Stellen wir uns vor, wir beobachten aus einem Savannenversteck ein Rudel Löwinnen beim gemeinsamen Frass einer frisch getöteten Antilope. Unweit von uns sehen wir einen jungen Löwen. Er ist verwundet, jagdunfähig, hungrig: die Rippen stechen hervor. Nur zu gerne möchte er den Löwinnen karnivore Gesellschaft leisten. Aber er ist zu schwach, zu klein, zu unsicher. Er umschleicht unruhig das Rudel, zieht sich mehrmals zurück, kommt wieder. Schliesslich gibt er auf und sucht das Weite. Muss dieser Löwe zu uns sprechen können, damit wir ihn verstehen? Sein Verhalten drückt doch alles aus: Einsamkeit, Hunger, Schmerz, Frustration, Begehren –  ist das so weit von unserer Emotionalität entfernt?

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Sogleich ertönt der Warnruf der Ethologen: Sei vorsichtig, du vermischst Beobachtung und Interpretation - du unterstellst dem Löwen ein Innenleben, von dem wir keine Evidenz haben! Die Warnung hat Tradition, und sie ist verständlich aus der bewegten Geschichte der modernen Tierforschung, in der stets wieder zwei Metaphern miteinander kämpfen: Tier als Mensch und Tier als Maschine. Die erste Metapher ist uralt, Grundlage von Tier-fabeln durch Kulturen und Epochen hindurch. Die zweite Metapher ist neueren Datums, sie stammt aus dem 17. Jahrhundert, als man die Natur mechanomorph, nach dem Muster der Maschine zu erklären begann. Locus classicus ist die Philosophie von Descartes. Mit ihr erfolgte sozusagen der cartesianische „Sündenfall“ der Neuzeit, der das Tier zur „res extensa“, zum komplexen organischen Automaten aus Muskeln, Knochen und Nerven machte, mit Mechanik als Innenleben. 

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Darwin zweifelte nicht an einem Innenleben der Tiere, und er schrieb auch ein zu seiner Zeit kaum beachtetes Buch darüber: „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“ (1872). Während der Wissenschaftler Darwin sich skrupulös an die beobachtbaren Merkmale von Emotionen – z.B. Angst, Freude, Wut, Abscheu - hielt, schlug sein Freund George Romanes methodisch über die Schnur, etwa mit Anekdoten über Ratten, die eine Nahrungsversorgungskette bildeten, indem sie einander gestohlene Eier mit ihren Pfoten weiterreichten; oder über einen von einer Kugel getroffenen Affen, der nun seine Hand mit eigenem Blut einfärbte und sie dem Jäger hinhielt, auf dass dieser sich schuldig fühle. – Der Anthropomorphismus hielt Einzug in die Tierforschung. Und die Angst vor ihm sollte den Ethologen das ganze 20. Jahrhundert hindurch in den Knochen stecken.

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Man kann zwei Hauptschulen der Ethologie unterscheiden, jene mit und jene ohne „Tierpsyche“. Die erste steht a priori unter Anthropomorphismusverdacht. Begonnen hatte sie ausdrücklich als „Tierpsychologie“. Dabei war von Anfang an nie hinreichend klar, was man sich darunter vorzustellen hatte. Viele Forscher sahen sich in einem Dilemma gefangen: Eine Fülle von Beobachtungen wies auf ein Innenleben der Tiere hin, aber das Ethos der Objektivität gebot, sich nicht auf dieses Innenleben einzulassen. Man machte sich so schnell zur Witzfigur. Symptomatisch für diese Situation ist der vom Begründer der experimentellen Tierpsychologie - Conwy Lloyd Morgan - aufgestellte „Morgansche Kanon“ (1894): Erkläre das Verhalten eines Tiers nie durch höhere kognitive Vermögen, wenn es auch als Ergebnis eines niedrigeren Vermögens interpretiert werden kann: durch Instinkte und Reflexe.

Damit war das Paradigma für Generationen von Ethologen festgeschrieben: Das Tier ist eine Verhaltensmaschine. Zu sagen, dass der Hund winselt, weil er Schmerzen hat, ist keine Erklärung. Denn Schmerzen haben und Winseln sind im Grunde dasselbe. Nun ist die Verwendung eines solchen Modells an sich kein Problem – sofern man es als Werkzeug betrachtet. Je erfolgreicher aber das Modell, desto mehr vergessen wir seinen Werkzeugcharakter und schlagen dann alles über seinen Leisten. Wir halten das Modell für die Wirklichkeit und am Ende wird auch das Reden des Menschen über sich selbst anthropomorph. 

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Gewiss, wir können nicht in Haut, Fell oder Gefieder des Tiers schlüpfen. Das behauptet auch niemand. Wir können ebensowenig in die Haut anderer Menschen schlüpfen, und dennoch in sie finden. Der Grund liegt zum wesentlichen Teil darin, dass wir, gemäss Witt-genstein, das gleiche Sprachspiel spielen. Aber es gibt noch einen anderen Zugang. Wir alle kennen den Mitmenschen auch durch sein Verhalten, die Art, wie er wohnt, isst, sich kleidet, mit den Leuten umgeht: wir kennen seine Umwelt. Es war die geniale Idee des Zoologen Jakob von Uexküll vor über hundert Jahren, sich dem Tier auf diese Weise zu nähern. Er stellte die später berühmt gewordene Frage des Philosophen Thomas Nagel: Wie ist es, ein Tier zu sein? Genauer fragte Uexküll: Was ist die Umwelt des Tiers? Und durch das penible Studium seiner Umwelt finden wir uns immer mehr in das Tier. Was eine Umwelt hat, ist Subjekt seines Verhaltens – also ist alles Subjekt, von der Zecke bis zum Philosophen.

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Die Reichweite von Uexkülls Idee – einer Art von „kopernikanischer Revolution“ im Denken über das Tier - erschliesst sich uns eigentlich erst heute, und sie entfaltet ihre Heuristik umso mehr, als den Ethologen ein ungleich potenteres Instrumentarium zur Verfügung steht, in der Gestalt von Evolutionsbiologie, Kognitionspsychologie, Neurowissenschaft usw. Die moderne Ethologie hat sich zu einer faszinierenden Disziplin entwickelt, um das Zentrum des Tiersubjekts mit seinem artspezifischen Mentalleben herum. Einer der renommiertesten gegenwärtigen Verhaltensforscher, Frans de Waal, fragt im Titel eines seiner Bücher: „Are We Smart Enough To Know How Smart Animals Are?“ ( 2016). 

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Ein Grossteil von uns foutiert sich darum. Denn im gleichen Atemzug, in dem man auf die Fortschritte in der Ethologie hinweist, macht sich ein schreiender Widerspruch Luft. Er drückt sich in einem Zahlenverhältnis aus, jenem von Nutztieren und Wildtieren. Eine re-zente Übersicht gibt an, dass sich die gesamte planetarische Biomasse der Säuger auf 32% Menschen, 65 % Nutztiere und 3% Wildtiere verteilt. Über die Robustheit der Zahlen lässt sich debattieren, nichtsdestoweniger kann man daraus eine bedenkliche philosophische Lektion ziehen. Im technisch-ökonomischen Scheuklappenblick erscheint das Nutztier nicht als Subjekt. Allem besseren ethologischen Wissen zum Trotz degradieren wir das Tier zur organischen Maschine. Weil nicht der Erkenntnisgewinn das letzte Wort hat, sondern der wirtschaftliche.

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Und es mutet allmählich wie ein abgenutzter Treppenwitz an, wenn der Mensch stets wieder ein Alleinstellungsmerkmal des Humanen zu finden sucht, und jedes Mal entdeckt, dass irgend eine andere Spezies ebenfalls dieses Merkmal oder zumindest Anlagen dazu mit sich bringt: Emotion, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Werkzeuggebrauch, Imagination, Sozialität, Verhaltenserziehung (Kultur), Humor, Altruismus, Todesahnung ... eine fortgesetzte „Enttäuschung“ humaner Einzigartigkeit, dieser hartnäckigen und arroganten Obsession. Natürlich kann und soll man über das spezifisch Humane an solchen Merkmalen debattieren – speziell darüber, was menschliche Kultur dazu beiträgt - , aber ob wir daraus je ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal gewinnen können, bleibt fraglich. Und warum sollten wir auch?

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Bevor Descartes das Tierreich zu einer „res extensa“ degradierte, plädierte der italienische Humanist Hyeronimus Rorarius in einem Buch dafür, „dass die Tiere die Vernunft besser nutzen als die Menschen“ (1654). Nun wäre es an der Zeit, dass wir das Tierreich zu einer „mens extensa“ erklärten, einer Welt des ausgedehnten Geistes. Menschen sind ein Teil davon. Erst noch ein ausnehmend kleiner. 


Freitag, 13. September 2024



NZZ, 12.9.24

Rohstoff Wissen – Treibstoff Nichtwissen

Wissenschaft ist nicht Wissensdienst


Warum stecken wir eigentlich so viel Geld in die Wissenschaft? Gängige Antwort: Weil sie uns Wissen liefert. Und damit meinen wir in der Regel Wissen, das sich in Anwendungen umsetzen lässt: Die Quantenphysik in superschnelle Computer, die Chemie in neue synthetische Stoffe, die Molekularbiologie in Nano-Medikamente, die KI-Forschung in intelligente Maschinen, die Neurophysiologie in Hirnimplantate. Gerade die beiden letzten Jahrzehnte haben einer Mentalität zum Aufschwung verholfen, die man als «Muskisierung» der Wissenschaft bezeichnen könnte; also die risikokapitalistische Investition in hochfliegende, ja, grössenwahnsinnige Forschungsprojekte zur Beglückung der Menschheit. 

Diese Mentalität ist eigentlich jüngster Auswuchs eines Mythos, der seinen Ursprung im 17. Jahrhundert beim ersten Propagandisten der neuzeitlichen Forschung Francis Bacon hat. Er lautet kurz und bündig: Wissen ist gut; mehr wissen ist besser. Damit halten wir es bis heute. Dank Wissenschaft wissen wir immer mehr. Und Wissen befreit uns aus dem Dämmerzustand der Ignoranz. Nur vergisst dieser Mythos die andere Hälfte der Geschichte. Wissenschaft schafft auch Nichtwissen. 

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Das bedarf der Erläuterung. Vergleichen wir der Einfachheit halber eines der zentralen wissenschaftlichen Instrumente, die Theorie,  mit einer Laterne. Heute spricht man auch ruhmredig von «Leuchttürmen». Ihr Lichtkreis erhellt ein Stück Dunkelheit, und in diesem Kreis entdecken und erklären wir viele Dinge. Fortschritt besteht darin, diesen Kreis - und dadurch unser Wissen – zu erweitern. Aber bekanntlich vergrössert sich mit dem Radius des Kreises sein Umfang, das heisst: die Grenze zum Dunkel draussen, zum Nichtwissen. Kreative Geister in der Wissenschaft sind sich dieser Grenze ihres Lichtkreises bewusst, sie betonen oft geradezu mit Pathos die Bedeutung des Nichtwissens. Und das liegt an der inneren Dynamik des Erkenntnisprozesses. Forschende Neugier braucht die Spannung zwischen zwei erkenntnistheoretischen Polen, zwischen dem, was man weiss, und dem, was man nicht weiss. Diese Spannung elektrisiert buchstäblich die Phantasie, die explorative Lust am Dunkel draussen. Der Wert der Wissenschaft liegt ebenso im Nichtwissen wie im Wissen. 

Dieser Slogan leugnet nicht die Bedeutung des Wissens als Produktionsfaktor. Er richtet sich gegen ein eindimensionales «finalisierendes» Forschungsverständnis, das an die Wissenschaft immer mehr «externe» Leistungserwartungen heranträgt. Ein solches Verständnis zersetzt – so meine These - den wissenschaftlichen Geist von innen. Denn Wissenschaft steht nicht im Wissensdienst von Industrie und Wirtschaft. Sie ist kein marktgängiges Unternehmen, das unter Vorgabe von Zielen und Plänen seine problemlösenden Produkte – «silver bullets» - liefert. Und Wissenschaft lässt sich nicht - wie die alte Leier «Rohstoff Wissen» suggeriert - als blosse Res-source für industrielle Anwendung vereinnahmen. Zum Rohstoff Wissen gehört der Treibstoff Nichtwissen. 

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Natürlich profitieren Forscher vom traditionellen Bild des Wissen-Schaffers. Wie sonst sollten sie ihr Tun plausibel machen. Niemand erhält Fördergelder, um das Nichtwissen zu erweitern. Erkenntnissuche aber setzt Nichtwissen voraus, als eigentlichen Beweger der Forschung! Wie der renommierte Biochemiker Erwin Chargaff schrieb: «Es gibt in der wissenschaftlichen Forschung ein Suchen und ein Finden. Sucher sind nicht notwendigerweise auch Finder, aber sie verfassen die wertvolleren Reisebeschreibungen. Die älteren Generationen von Wissenschaftlern (..) gehörten vorwiegend zum Typ des Suchers. Das Suchen enthält auch ein Stück Träumen, und man könnte sagen, dass manch ein grosser Wissenschaftler seinen grossen Fund wie im Traum machte, wobei er übrigens nicht immer das fand, was er suchte. Die heutige Forschung aber misst dem Finden allzu grosse Bedeutung zu und pflügt ihre Abkürzungen mit dem Bulldozer durch die stummen Wiesen der Natur». 

Es wäre ein grosses Missverständnis, aus diesen Worten bloss das Lamento eines Nostalgikers herauszuhören. In der kognitiven Leidenschaft Neugier steckt kreative Anarchie, sie ist die wertvollste Ressource der Wissenschaft. Deshalb stellt das Austrocknen dieser Quelle die grösste Gefahr für eine wissensbasierte Gesellschaft dar. 

Läge es deshalb nicht an den Universitäten, das Ethos des Nichtwissens neben aller Exzellenzhuberei öffentlich zu bekunden? Das heisst, sich nicht einfach als Ausbildungsstätten von Skills zu begreifen? Wie wäre es mit einem Propädeutikum, das sich näher mit dem Im-Dunkeln-tappen beschäftigt? Einem Lehrgang für Formen der Ignoranz? Immerhin: Es gibt in Deutschland eine «Akademie der Wissenschaft vom Nichtwissen».  Sie lobt einen Essaypreis aus für die Förderung des Nichtwissens. Kein Jux, kein Spinnerprojekt. Sondern eine Idee, den Wert der Wissenschaft vor ihren Verwertern zu retten.








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