Sonntag, 6. Juli 2025

 


Ein neuer Kalter Krieg

Das Dilemma des technologischen Fortschritts

Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Jervis formulierte in der Zeit des Kalten Krieges das sogenannte Sicherheitsdilemma, eine für die Geopolitik zentrale Denkfigur aus der mathematischen Spieltheorie. Jervis’ Annahme: Nationen sind primär mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt. Dazu rüsten sie sich mit Waffen auf. Auch wenn dies aus defensiven Gründen geschieht, so kann daraus ein nichtintendierter offensiver Effekt resultieren. Was die eine Nation als Schutz betrachtet, interpretiert die andere als agressiven Akt. In einer Situation, in der keine supranationale  Instanz  bindende Übereinkünfte durchsetzen kann, empfiehlt sich für beide Nationen die Strategie des Aufrüstens. Aber dadurch manövrieren sie sich in eine paranoide Spirale wechselseitigen Verdächtigens, die das Risiko und die Letalität eines Krieges erhöht. 

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Drohkulisse für Jervis’ Sicherheitsdilemma war die Nuklearwaffe. Sie bezieht den Nimbus der Einzigartigkeit ja aus ihrem immensen Zerstörungspotenzial – aus dem  «harten» materiellen Zerstörungspotenzial, muss man präzisieren. Nun steht die technologische Entwicklung im Zeichen der KI-Systeme, einer «weichen» immateriellen Waffe. Sie droht den Menschen nicht materiell zu zerstören, sondern geistig, indem sie Möglichkeiten schafft, sein Verhalten unterschwellig  zu steuern und somit das auszuschalten, was wir  – zumindest in modernen Demokratien – als das Wertvollste am Menschen schätzen: die Unantastbarkeit seines Willens, seine intellektuelle Mündigkeit, sein Status als frei entscheiden-der Bürger. Dass die globale Autokratenclique die KI als patente künstliche Prätorianergarde begrüsst, versteht sich von selbst. 

Heute prägt das Sicherheitsdilemma primär das globale technologische Brinkmanship,  im Besonderen die Beziehung der beiden Grosskonkurrenten USA und China. Beide sind sich einig über den Charakter des Spiels. Wer sich obenauf schwingt, regiert die Welt. Mit den Worten von Alex Karp, Mitbegründer von Palantir, einer der führenden Firmen für Softwareanalyse: «Unsere Gegner werden keine Auszeit nehmen, um theatralische Debatten über die Vorzüge von Technologien mit kritischen militärischen und sicherheitspolitischen Anwendungen zu führen. Sie werden einfach vorangehen.» 

Das ist der Punkt. Wenn nicht wir in Silicon Valley es tun, tun es die anderen in Shenzhen. Entweder verzichtet eine Nation auf geopolitische Vormachtstellung und begibt sich in die Abhängigkeit der avancierteren Nation – oder sie tritt ein in die  entfesselte agressive Technologieentwicklung, ungewiss der Schäden und Trümmer, die daraus resultieren mögen. Eine unbehagliche Option tut sich auf: To boost (win) or not to boost (lose). 

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Nun ist diese binäre Logik des Siegens oder Verlierens nicht naturgegeben. Es sind geopolitische Druckverhältnisse, die die Technologieentwicklung fördern und beschleunigen. Der Zweite Weltkrieg war der Start des Computerrennens. Der Kalte Krieg befeuerte das Rennen im Weltraum zwischen den USA und der Sowjetunion. Japans Überlegenheit in der Halbleiterindustrie in den 1980er Jahren war der Beginn des Chipherstellungsrennens mit den USA. Vergessen wir nicht die Gentechnologie. In China studierte die Beijing Genomics Institution (BGI) schon 2013 die DNA von Personen mit überdurchschnittlichem IQ. Ziel: eine dank Gen-Engineering smartere Bevölkerung. In ein buchstäbliches Rattenrennen tritt die Forschung über Verbindungen zwischen Rattenhirnen, respektive zwischen Menschen- und Rattenhirnen (Brain-Brain-Interface, BBI). «Unsere Experimente deuten darauf hin, dass die Kooperation via mehrdimensionaler Informationsübermittlung durch computerassistiertes BBI vielversprechend ist», bemerkt der Leiter eines chinesischen Teams. «Vielversprechend» klingt nicht vielversprechend. Elon Musk zog 2016 mit der Gründung der Firma «Neuralink» nach, die sich mit der direkten Verschaltung von Gehirn und Computer be-schäftigt. 

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Kein Ausweg in Sicht? Eine wachsende Zahl von Technoskeptikern spekuliert darauf, dass die Nutzer der smarten Geräte sich deren negativen Seiten bewusst werden. Dadurch sehen sie das Dilemma in einer Art von technologischem Waffenstillstand entschärft und ein Fo-rum der Debatte über eine alternative Entwicklung eröffnet. Ein Techno-Moratorium. So wünschenswert es ist, damit machen wir die Rechnung ohne das Dilemma. Es besagt, dass wir es uns heute nicht leisten können auf die Technologie zu verzichten, selbst im Bewusst-sein ihrer  Schattenseiten. Wider Willen müssen wir das Spiel spielen. 

Der Techno-Booster leugnet die Schattenseiten, muss allerdings seine Rechnung mit dem andern Horn des Dilemmas machen. 2023 verfasste der Risikokapitalist Marc Andreessen ein «techno-optimistisches Manifest», in dem er das Aufkommen von Supermännern be-schwört. Man liest darin zum Beispiel: «Wir können zu einer weitaus höheren Lebens- und Daseinsweise fortschreiten. Wir haben die Werkzeuge, die Systeme, den Willen. Wir glauben, dass unsere Nachkommen in den Sternen leben werden. Wir glauben an die Grösse. Wir glauben an den Ehrgeiz, an die Agression, die Hartnäckigkeit, die Unbarmherzigkeit, die Stärke.» 

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Man fühlt sich auf höchst unangenehme Art an eine Mentalität des Ersten Weltkriegs erinnert. Damals sprachen die französischen Militärhandbücher von der «attaque à outrance», dem Krieg bis zum Exzess. Nach dieser Doktrin verhelfen neue Superwaffen der Erstschlag-Nation zu einem überwältigenden strategischen Vorteil: Maschinengewehre, Flammenwerfer, Panzer, Flugzeuge, Giftgas. Militärstrategen waren überzeugt, dass nur das kompromisslose Vorwärtsdrängen Erfolg versprach. Sie glaubten, mit Andreessen gesprochen,  an «den Ehrgeiz, an die Agression, die Hartnäckigkeit, die Unbarmherzigkeit, die Stärke.» 

Andreessens Manifest atmet den Geist des technologischen Exzesses. Er ist in das Sicherheitsdilemma eingebaut, unabhängig von den Ideologien und Motiven der beteiligten Spieler. Die Struktur selbst zwingt zu bestimmten Optionen und Handlungen. Sicherheit bringt nur das Vorwärtsstürmen, nicht das Einhalten, nicht das Überlegen. Das technologische Wettrüsten ist ein Spiel, dessen Regeln zu ändern eine  umsichtige Vernunft gebietet. Sie sagt den Spielern: Ihr wärt besser dran, würdet ihr die Spirale nicht bedenkenlos weiter drehen. Die Spieler sehen darin keinen logischen Grund, die Spirale nicht weiter zu drehen. Sie sind besessen vom Wunschgedanken, das nächste «Superding» zwinge den Gegner in die Knie. Sie sind gefangen in einem Dilemma, das  nichts Gutes verspricht. Was umso absurder erscheint, als die ökologischen Probleme auf dem Planeten dringlich nach technischen Lösungen rufen. 

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Zweifellos hat uns der technologische Fortschritt das Leben in mancherlei Hinsicht erleichtert. Aber moderne Gesellschaften erfahren über kurz oder lang eine Dialektik: die Last der Entlastung. Sie besteht darin, dass all die Geräte, die uns das Leben erleichtern, immer auch unvorhergesehene und unbeabsichtige Folgen haben. Sie können nicht nur kurzfristig zu wirtschaftlichen Instabilitäten und Jobverlusten führen, sondern längerfristig zu sozialen Verwerfungen, zum Verlust menschlicher Fähigkeiten und Handlungsoptionen, zur Unterminierung von Traditionen, zur Ausweitung der staatlichen Macht über die Bürger und nicht zuletzt zu einer geopolitischen Unsicherheitslage, wie wir sie heute erleben.

Das Mindeste, was wir im Wettrüsten von Computer-, Gen- und Neurotechnologie tun können, ist das Vermeiden falscher Hoffnungen. Und es ist ein schwacher Trost, darauf hinzuweisen, dass der alte Kalte Krieg nicht zu einem Weltenbrand führte. Der amerikanische Ökonom, Kriegsspieltheoretiker und Nobelpreisträger Thomas Schelling erklärte dieses Nicht-Ereignis zum «spektakulärsten Ereignis» der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob der neue Kalte Krieg auch in einem spektakulären Nicht-Ereignis endet, ist nicht ausgemacht. 


Samstag, 28. Juni 2025

 



Eine Zoologie des Roadkills  


Automobilität und Animobilität

Die Strasse ist Technik in der Natur. Hier treffen sich die Mobilität der Fahrzeuge und die Mobilität der Tiere,  Automobilität und Animobilität. Und wo sich die Wege der Tiere und die Wege der Fahrzeuge kreuzen, liegt ein Kollisionspunkt von Ökologie und Technologie, der zu wenig bedacht wird: Roadkill, vom Fahrzeug «erledigte» Tiere. Eine abstrakte, tote und traurige Spezies. Hunderte von Millionen weltweit und jährlich, vom zerquetschten Insekt auf der Windschutzscheibe bis zum umgemähten Elch.  Tiere lassen sich nicht nur in Arten, sondern auch in soziokulturelle Kategorien unterteilen. Es gibt das Hätscheltier (Haus, Wohnung), das Nutztier (Bauernhof, Fleischfabrik, Labor), das schädliche Tier (Krankheiten), das didaktische Tier (Zoo), das Wildtier – und das Roadkill. Die ersten fünf Kategorien betrachten Ökologie aus der Sicht des Lebens, die letzte aus der Sicht des Todes.  Zwar tot, lebt das Roadkill nichtsdestotrotz weiter als Symbol für ein ganz bestimmtes Mensch-Tier-Verhältnis in unserer Gesellschaft. Und dieses Verhältnis ist geprägt von der Technologie - der Hegemonie des Autos – und vom Kapitalismus – dem Imperativ der totalen Verwertbarkeit. 

Hegemonie des Autos

Das Roadkill ist das Tier am falschen Ort, zur falschen Zeit. Also «Abfall» der Strasse. Das bringt den normalen Gesichtspunkt zum Ausdruck. Das Auto definiert, was ein falscher Ort ist. Es hat Vorfahrtsrecht vor dem Tier. Und ganz in diesem Sinn betrachtet sich der Auto-fahrer nicht als verantwortlich für die Kalamität. Er macht sich in der Schweiz allerdings strafbar, wenn er nicht den Tierbesitzer, die Polizei oder die Jagdaufsicht über den Unfall informiert. Er muss aus tierquälerischen Gründen mit weiteren rechtlichen Folgen rechnen, wenn das Tier qualvoll stirbt. Und wenn er ein totes Wildtier eigenständig transportiert, macht er sich der Wilderei schuldig. 

Ganz ohne Kollision mit dem Recht kommt also der in eine Tierkollision verwickelte Fahr-zeuglenker nicht davon. Dennoch kann er Absolution durch ein weitverbreitetes ideologisches Vorfahrtsrecht erwarten, das Automobilität über Animobilität setzt. Das heisst, normalerweise sieht man das Tier vom Gesichtspunkt der Strasse, und nicht die Strasse vom Gesichtspunkt des Tiers her. 

Die «nebensächliche Sterblichkeit»

Für die meisten Menschen in automobilzentrierten Regionen ist der Anblick von toten Tieren am Strassenrand zum Faktum des alltäglichen Lebens geworden. Und trotz dieser makabren Sinnfälligkeit tritt das Roadkill nicht ein in unser Kollektivbewusstsein. Schon der Pionier des Naturschutzes Aldo Leopold sprach von «accidental mortality», von nebensächlicher Sterblichkeit, die kein Grund zur Sorge sei, zumindest nicht auf Populationsebene. Die «ungewöhnliche Sichtbarkeit» der Todesfälle sei Anlass zu weitverbreitetem Alarm über die Zerstörung von Wild durch Autos. Aber es bedürfe keiner Berufung auf Autoritäten, um zu zeigen, dass dieser Alarm übertrieben sei.  Leopolds Beschwichtigung ist aus seinem Engagement für die Wildnis verständlich. Und hinter diesem Engagement steht eine Idee, die bis heute unsere Verhältnis von Zivilisation und Wildnis tief prägt. Beide sind getrennte Bereiche. Hier die Strasse, dort die Natur; hier das Zivilisierte, dort das Wilde. Wenn sie sich in zufälligen Kalamitäten begegnen, ist das einfach ein kollaterales Ereignis. 

Roadkill in Mode und Menu 

Tierkörper sind schon lange direkt und indirekt in einem immensen Angebot von Waren enthalten, von Nahrungsmitteln, Textilien, Pharmaka, Kosmetika bis zu – Gipfel der Ironie – Produkten rund ums Auto: Frostschutzmittel, Bremsflüssigkeit, Reifen. Der Verwertungsprozess macht auch vor dem Roadkill nicht Halt. Die Amerikanerin Pamela Paquin verkauft Modeartikel unter dem Namen «Petite Mort Furs», «Pelze des Kleinen Todes» - damit meint sie nicht orgasmische Freuden beim Tragen der Artikel, sondern weist auf deren Herkunft hin: Roadkill. 

Im Zeichen von Food Waste lässt sich der «Abfall» der Strasse auch als Nahrungsmaterie betrachten. Einmal von Gesundheitsrisiken abgesehen sind die am häufigsten totgefahrenen Tiere von Natur aus vitamin- und proteinreich und fettarm. Sie stammen zudem nicht aus industrialisierten Fleischfabriken, und weisen deshalb keine Antibiotika, Steroide und Hormone auf. Deshalb hat die sogenannte Roadkill-Küche Anklang unter Gourmets des Strassenkadavers gefunden. Vom amerikanischen Humorschriftsteller Autor Buck Peterson stammt eine Reihe von Roadkill-Kochbüchern. Er meint das ernst. Ernst meinen es auch die Subkulturen um den Verzehr von Roadkill. In West Virginia gibt es sogar ein Roadkill Festival, inklusive «cook-off», Kochwettbewerb. Man isst sich dabei sozusagen ein gutes Gewissen an. Wie die Kennerin und «Schamanin» Alison Brierley schreibt: «Die Leute den-ken, es handle sich bloss um Asphalt-Brei, den man von der Strasse loskratzen muss. Ich hatte am Anfang die gleiche Vorstellung, aber als ich mehr darüber lernte, begann ich zu denken: Das ist tatsächlich besser, besser für dich und besser für die Umwelt». 

Die Tierethiker entdecken Roadkill

Auch ein tierethisches Argument kommt zum Zuge. Den Tieren wurde in den meisten Fällen nicht unnötiges Leiden zugefügt, sie starben eines «akzidentellen» Todes. Deshalb sieht sogar der philosophische Guru der Tierbefreiung, Peter Singer, im Verzehr von Roadkill nichts Anstössiges: «Falls ein Tier bei einem Unfall getötet wird (..) und falls dieses Tier eine Nahrungsquelle ist, warum sollte man es nicht essen, wenn es essbar ist?» Ja, warum nicht. Die einflussreiche Tierschutzorganisation PETA («People for the Ethical Treatment of Animals») hat sich dieses Argument zu eigen gemacht. Sie preist Roadkill unter dem Slogan «Meat without Murder» an – vermutlich nicht ohne Ironie. «Roadkill ist (..) für den Konsumenten gesünder als das Fleisch voller Antibiotika, Hormone und Wachstumsstimulanzien (..) Es ist auch menschlicher, insofern als die auf der Strasse getöteten Tiere nicht kastriert, enthornt oder entschnabelt werden (..), nicht das Trauma und Elend des Transports in einem überfüllten Lastwagen erleiden, und nicht die Schreie und den Geruch der Angst der Tiere vor ihnen auf der Schlachtbank wahrnehmen».    

Das ist ein seltsames und irritierendes Argument. Ist das Töten von Tieren auf der Strasse humaner, weil keine Absicht dahinter steckt? Gewiss, es ist strikt gesehen kein Mord. Aber damit befördert man es nicht in ein ethisches Jenseits. Der Mainstream des Tierschutzes regt sich auf über die Hegemonie der industriellen Tierhaltung und -verwertung. Aber wie steht es mit der Hegemonie des Autos? Ist sie nicht das grosse Problem hinter dem Roadkill? Das Problem struktureller Gewalt, welche die Strasse auf die Umwelt ausübt?

Die strukturelle Gewalt der Strasse

Als strukturelle Gewalt bezeichnet die Soziologie die Benachteiligung von Gruppen aufgrund politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine Gewalt, die nicht von Personen oder Personengruppen ausgeübt wird. Der Soziologe Dennis Soron macht sie auch im Verkehr aus,   nämlich als ethische «Benachteiligung» von Strassentötung gegen-über industrieller Massentötung: «Kücken in Käfigen zu entschnabeln oder Labortiere zu quälen werden als absichtliches Verhalten betrachtet, das man ethisch beurteilen kann. Im Gegensatz dazu betrachtet man den vom Fahrzeuggebrauch verursachten Tod von Tieren eher als zufällig, unabsichtlich und deshalb jenseits ethischer Prüfung».

Natürlich wird das Tier von der individuellen Gewalt des Fahrzeugs zermalmt. Aber darum geht es Soron nicht: «Tatsächlich sucht die Mehrheit der Automobilisten, abgesehen von ein paar Sadisten, den Zusammenstoss mit Tieren zu vermeiden (..) Wenn wir die Verantwortung für Roadkill verorten wollen, müssen wir über die individuellen Werte und Absichten hinausblicken und untersuchen, wie Automobilität mit umfassenden Imperativen der Produktion, Konsumption und Regierungspolitik unter spätkapitalistischen Bedingungen verwickelt ist». Über die individuellen Werte hinausblicken bedeutet also, nicht nur eine tierfreundlichere Verkehrsinfrastruktur anzuvisieren, sondern mehr noch: im Roadkill Systemkritik am «auto-industriellen Komplex» zu üben, an der «sozial, psychisch und ökologisch zersetzenden Logik der Kommodifizierung selbst.»

Roadkill als ökologische Erziehung

Roadkill kann freilich auch der ökologischen Erziehung dienen. Bücher wie «Dieser Dreck auf deinem Fahrzeug. Ein einzigartiger Führer über Insekten in Nordamerika» («That gunk on your car: A unique guide to insects of North America»)  lehren einen Blick von der Tech-nik auf das Tier. Der Biologe Roger M. Knutson hat ein Buch mit dem Titel «Flattened Fau-na» («Flachgefahrene Fauna») geschrieben. Eine Zoologie des Roadkills. Sie mag unappetit-lich und  pietätlos klingen, sorgt aber genau für die notwendige Verstörung, die uns bewusst macht, wie tief das Auto unseren Blick auf die Umwelt prägt. In extremster Ausprägung im «off road»,  das Natur zum Übungsgelände von SUVs (Sport Utility Vehicle) umdefiniert. «Strassen gehören zur Landschaft» schrieb der amerikanische Kulturgeograf John Brinckerhoff Jackson. Wenn damit der Primat der Landschaft vor den sie erschliessenden technischen Mitteln gemeint ist, dann sind wir heute Zeugen einer umgekehrten Entwicklung: Landschaft gehört zur Strasse. Das heisst, Landschaft definiert sich dem modernen, urbanen, mobilen Menschen zunehmend über das Kriterium ihrer verkehrstechnischen Leitfähigkeit und Erreichbarkeit. Von dieser Entwicklung zeugt das Roadkill.

Ein Denkmal für jedes Roadkill

Der holländische Zoologe Bram Koese errichtete eine denkwürdige Installation entlang ei-ner Landstrasse.  Ihm fielen die zahlreichen Roadkills während der Stosszeiten auf, in denen Pendler die Staus auf den grossen Strassen zu umfahren suchen. Und er begann die toten Tiere während eines Jahres aufzulisten. 35 Säuger, 90 Vögel, 515 Amphibien. Schockiert von seinem Fund, informierte er die Gemeindeverwaltung. Sie zeigte sich unbeeindruckt. Daraufhin organisierte er mit Nachbarn und Freunden eine zivile Guerillaaktion. Sie stellten am Strassenrand 640 Grabkreuze auf, für jedes Roadkill, mit Todesdatum und Angabe der Spezies. Eine traurige Parade von weissen Kreuzen, die sich vier Kilometer lang bis zum Horizont hinzog. Ein Memento für die zahllos angehäuften Tode. Natürlich waren viele Strassenbenutzer über diese «Wokeness» nicht amüsiert und rissen die Mahnmale nieder. Koese und seine Guerillas richteten sie wieder auf. Der «Kampf» erregte öffentliche Aufmerksamkeit. Den kommunalen Autoritäten wurde ein wissenschaftlicher Bericht präsentiert, der die Funde detailliert analysierte. Man trug sich mit dem Plan, die Landstrasse nur für den lokalen Verkehr zu erlauben. 

Ich weiss nicht, ob mit politischem Erfolg. Aber die Sichtbarmachung des Massensterben am Strassenrand ist ein nachwirkender symbolischer Akt. Auch den Tieren gebührt ein Memento mori. Und das Sichtbarmachen ist ein Denkbarmachen. Die nachhaltigste Verwertung von Roadkill ist das Nachdenken über es. Auto und Tier sind Teile des Ökosystems. Denkmal für Roadkill verstehe ich deshalb im Sinne eines österreichischen Kabarettisten: «Für mich ist ‘Denkmal’ ein Imperativ, der aus zwei Wörtern besteht». 

Denk mal! Vielleicht sogar zweimal! 



Montag, 16. Juni 2025



Das Rudozän - Zeitalter des Mülls

Dass sich die Erde zunehmend in eine Müllhalde verwandelt, gehört zu den Trivia, die wir mehr oder weniger schuldbewusst abschütteln. Müll ist zwar Produkt aus Menschenhand, freilich will ihn niemand besitzen, bedenken oder sehen. Man kann ihn aber auch nicht ein-fach der Natur zuschlagen, jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem der vorindustrielle Abfall über Jahrtausende hinweg abbaubar war. Der neue Müll verträgt sich nicht mit der Erde – zu synthetisch, zu schädlich, zu haltbar, zu voluminös. 2020 war zu lesen, dass die anthropogene Masse auf der Erde die Biomasse zum ersten Mal übersteigt. 

Natur und Müll fusionieren, in planetarischer wie in mikrobiologischer Dimension. Es gibt im Pazifik eine riesige Platikmüllregion – den Great Pacific Garbage Patch - , und Plastikmüll findet sich bereits in kleinsten Dimensionen vermischt mit organischer Materie. Müll ist nicht mehr einfach «Abfall» der Kultur. Müll gehört zur Kultur. Wir unterscheiden Zeit-alter nach dem menschlichen Umgang mit Materie: Von der Steinzeit und Bronzezeit über die Dampfzeit und Elektrizitätszeit zur Informationszeit. So gesehen gewinnt man den Eindruck, dass die postindustrielle Arbeitswelt sich zunehmend «entmaterialisiert». Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Seit der Dampfzeit produzieren wir eine exponenziell wachsende Menge materieller Güter – und Müll. Wir sprechen heute vom Anthropozän, passender wäre: Rudozän – (lateinisch rudus = Abfall).

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Sein offensichtlichstes Symptom ist der lukrative globale Abfallhandel. Das alles absorbierende spätkapitalistische System produziert nicht einfach Müll, sondern schafft zugleich Anreize, sich am Müll eine goldene Nase zu verdienen. Der Journalist Alexander Clapp deckt in seinem Buch «Waste Wars» (deutsch September 2025) die Machenschaften eines Geschäfts auf, das sich gern «grünwäscht», aber mit Recycling eigentlich wenig am Hut hat. Vielmehr die Probleme der westlichen Konsumgesellschaft dadurch löst, dass es sie in gesundheitsschädliche  Mülldeponien in Ghana, Kenia, Indonesien, Indien und wo auch immer transferiert. Die Ironie ist schreiend. Früher lieferten solche Länder Rohstoffe für die industrielle Produktion des Westens. Nun liefert ihnen der Westen den Müll dieser Produktion zurück. Dieser Missstand hat grosses Empörungspotenzial. Unsere Anstrengungen der Mülltrennung, auf die wir uns so viel zugute halten,  ja, unser ganzes ökologisches Gewissen sieht sich durch solche Praktiken beleidigt und besudelt.

Dabei müssten wir gerade dieses «Gewissen» einer näheren Analyse unterziehen. Von einem Symptom zu sprechen meint: das Problem liegt tiefer. Und zwar nicht einfach im dominanten Wirtschaftssysstem, sondern in einem Denken, das sein Wurzelgrund ist. Der streitbare Kulturkritiker Ivan Illich legte schon 1989 im Buch «Ex und Hopp» den Finger auf den neuralgischen Punkt. Müll sei nicht das Ergebnis des industriellen Produktionsprozesses, sondern werde mit dem Produkt schon a priori mitgedacht. Gebrauchen heisst Verbrauchen und hat deshalb ein Ende, und das ist der Wegwurf. 

Müll ist Materie, aber er entsteht im Kopf, entspringt einem Denken. «Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen», liest man im Roman «Müll» von Wolf Haas. Wir kennen die berühmte Definition der Ethnologin Mary Douglas: Müll ist Materie am falschen Ort. Die Definition macht sogleich klar, dass Müll nicht bloss eine physikalische, chemische oder biologische Eigenschaft der Materie ist, sondern eine kulturelle. Erst eine Kultur definiert das Falsche, wertet oder entwertet. Und der Rumpf einer Kultur besteht in – meist unbewussten – Verhaltensweisen. Sie zu studieren ist die Disziplin der Anthropologen oder Ethnologen. Was also dringend not tut, ist eine Ethnologie unseres eigenen Müllverhaltens. 

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Betrachten wir als banales Beispiel unser «westliches» Essverhalten. Bekanntlich kämpfen wir auch hier mit dem Müll, mit Nahrungsmaterie am falschen Ort, nämlich ausserhalb unserer Mägen. Gewiss, das Verrotten von Nahrungsmitteln ist ein biochemischer Prozess, aber ebenso definiert unsere Esskultur, was Müll ist. Und in ihr gibt es ein dominantes binäres Denkraster: Entweder ist etwas zum Essen oder es ist nicht zum Essen, ergo Müll. Ein Drittes gibt es nicht.

Allmählich entdecken wir dieses Dritte zwischen Teller und Müll. «Food Waste» nennen wir es: brauchbaren Essmüll. Was wir entdecken, ist eigentlich nicht die Nahrungsmaterie, son-dern unser Denken darüber. Schon Daniel Spörri forderte es heraus, als er Essensreste an die Wand nagelte. «Empörend» daran war ja, dass er eine Blickumkehr provozierte: Das kann nicht weg, das ist Kunst! Er zeigte einen Umgang mit dem Müll, an den wir nicht «gedacht» hatten, weil das Wegwerfsystem «des Westens» zugleich eine Denkverhinderung ist. In allen Kulturen und zu allen Zeiten ging der Mensch mit den Nahrungsmitteln erfindungsreich und nachhaltig um. Es gibt im Übrigen eine wahre Grossindustrie an Nahrungsmittelverarbeitern, die wir leicht vergessen: die Natur. Hefe, Schimmel, Bakterien wachsen auf Essensresten. Ohne sie gäbe es weder Bier, noch Brot, noch Käse. Einige der verbreitetsten und beliebtesten Speisen – Saucen, Suppen, Aufläufe, Eintöpfe – sind «Deponien» von Essensabfällen.  

Die Kategorie der Nahrungsmaterie zwischen Tisch und Müll kann uns ein kritischeres Essverhalten lehren, das heisst, selber zu urteilen, unseren Sinnen zu trauen, Phantasie zu entwickeln und täglich die Frage zu stellen: Gehört das wirklich in die Tonne? Man könnte von einer nichtbinären Esskultur sprechen. Und auf ähnliche Weise liesse sich dieser Blick zwischen die gängigen Kategorien auch auf andere kulturelle Gewohnheiten übertragen, etwa auf die Kleidung: Ist das noch tragbar oder Lumpenware? Oder auf das Wohnen: Ist das noch bewohnbar oder gehört es abgebrochen? 

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Vergessen wir nicht den geistigen Müll. Er bedroht den Planeten ebenso wie der materielle. Und der grosse Unterschied liegt darin, dass der geistige Müll sich nicht in peripheren Deponien lagern lässt, er zirkuliert ungehemmt zwischen den Knoten des Internets. Seine Entsorgung erweist sich als grosses Problem. Denn Müll in Umlauf zu bringen ist sehr viel leichter, als ihn als solchen zu entlarven. Es braucht dazu die Anstrengung des Faktenchecks, des argumentativen Eintretens auf eine Behauptung. «Flood the zone with shit» lautet das Dreckschleuderprinzip des ehemaligen Trump-Beraters Steve Bannon: Die Medien und Debattenforen mit Lügen und Falschinformationen fluten, damit ein sich am Wahr-Falsch-Raster orientierendes Denken gar nicht mehr nachkommt, sie zu prüfen – bis im Meinungsmüll die Trennung von falsch und richtig versagt. «Enshittification» nennt sich die Entwicklung neuestens. 

Die Technologie der Textgeneratoren treibt sie voran. Das Internet wird zunehmend auch von KI-generiertem Output überschwemmt. Benutzt man diesen Output wiederum zum Training der Textgeneratoren, entsteht ein Loop, aus dem die «rein» menschengenerierten Texte tendenziell verschwinden. Der Textgenerator frisst dann seinen eigenen Müll, und gibt am Ende nur noch Blahblah heraus. In der Branche kursiert bereits ein einschlägiger Ausdruck dafür: «KI-Slop», KI-Schlabber.  Man kann Daten als «vermüllt» bezeichnen, wenn man nicht mehr verlässlich entscheiden kann, ob sie vom Menschen oder vom Computer stammen. So gesehen zeichnet sich eine grosse Netzvermüllung am Horizont ab.

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Man kann die Alltagsdinge aus mehr als einer Perspektive betrachten und beurteilen. Das entpuppt sich als eine revolutionäre Trivialität. Schon Karl Marx schlug im «Kapital» vor: «Jedes nützliche Ding ist ein Ganzes vieler Eigenschaften und kann daher nach verschiedenen Seiten nützlich sein. Diese verschiedenen Seiten und daher die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken, ist geschichtliche Tat». Rudozän oder Müllzeitalter ist ein expliziter Aufruf zu dieser Tat.



Montag, 2. Juni 2025


Die Aufklärung misslingt

Der Mensch entwickelt sich vom Primitiven zum Neoprimitiven


Es gehört zur ethnologischen Folklore, Magie und Zauberglauben mit „primitiver“ Entwicklungsstufe des Menschen zu assoziieren. Nun beobachten die Ethnologen im globalen Süden immer wieder Praktiken, die moderne Technologie mit alten magischen Vorstellungen verschmelzen: Internet-basiertes Voodoo in Haiti; hellseherische Chirurgen in Brasilien; Aerosole, die den schützenden Geist der Santa Muerte in Mexiko versprühen; schwerbewaffnete Geistermedien in Uganda; nicht zu vergessen ein berüchtigtes Paar dämonisch besessener Unterhosen in Ghana. Solche Phänomene bekräftigen natürlich das Klischee von der „zurückgebliebenen“ Dritten Welt, deren Bevölkerung einfach nicht den Anschluss an die Moderne findet.  

Tun wir es, die vermeintlich Modernen oder Postmodernen? Schauen wir auf eine technologisch höchst avancierte Gesellschaft wie Japan. In Kotohira steht ein berühmtes altes shintoistisches Heiligtum, der Schrein Kotohira-gū. Dort findet man auch eine Tafel zu Ehren des ersten japanischen Kosmonauten, Akiyama Toyohiro. Genauer besehen, wird nicht nur Toyohiro Ehre bezeugt, sondern es wird auch Konpira, dem Gott der Seefahrer, für den sicheren Flug gedankt. Eine seltsame Verschränkung von alter Religiosität und moderner Technologie. Mit solchen religiös-technischen Hybriden ist die kulturelle Landschaft Japans gespickt. Es gibt Begräbnisrituale für Hunderoboter, iPhone-Apps für Exorzismus und Wahrsagerei, Speichersticks als magische Amulette, buddhistische Stupas (turm- oder glockenförmige Gebilde mit einer herausragenden Spitze), die Thomas Alva Edison und Heinrich Hertz als den „göttlichen Patriarchen der Elektrizität und der elektromagnetischen Wellen“ gewidmet sind. 

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Hüten wir uns hier vor einem anderen Klischee, jenem des „mystischen“ Asiens. In den USA herrscht geradezu eine „Okkultur“, um den gelungenen Neologismus des Religionswissenschaftlers Christopher Partridge zu verwenden. Im New-Age-Spiritualismus und der Popkultur wimmelt es seit den 1960ern nur so von Geistern, Dämonen, Ma-giern, Superhelden, und ohnehin spukt in den Köpfen der Amerikaner der Glaube an Telepathie, ESP, Ufos, Aliens, Hexen, Hellsehen, Reinkarantion, Astrologie. Aufs Ganze gesehen implizieren Umfragestatistiken, dass nur etwa ein Viertel der US-Bevölkerung nicht an das Paranormale glaubt. Mehr als ein Viertel soll dagegen dem Hexenglauben anhängen, obwohl – oder eher: weil - populäre Fernsehserien wie „Bewitched“ das Hexenbild sozusagen haushaltskompatibel gemacht haben. Nach wie vor führen allerdings christliche Fundamentalisten einen Feldzug gegen Hexen, und der evangelikale Sturmtruppführer Pat Robertson entblödet sich nicht, vor Frauen mit eher emanzipatorischen Anliegen zu warnen: sie würden Hexerei praktizieren.

Brüsten wir Europäer uns nur nicht vorschnell damit, im Kerngebiet der Aufklärung zu leben. Zwar kursiert das Gerücht, Gott sei im Engadin getötet worden, und nicht wenige Europäer suchen sich gegenüber Amerikanern gerade durch ihre Säkularität hervorzutun. Mehr als die Hälfte der Engländer soll nach einer jüngsten Umfrage nicht an Gott glauben. Zudem sorgt die agressive Bewegung der neuen Atheisten für ein Dawkinsches Windchen. Aber der Tod Gottes bedeutet nicht notwendig den Tod des Zauberglaubens. Statistische Vergleiche zeigen ein ähnliches Bild wie in den USA: Der Glaube an das Übernatürliche ist weitverbreitet. Auch auf dem Kontinent wimmelt es nach wie vor von verhexten Orten, Schutzengeln, Stimmen aus dem Jenseits, Geistheilern. Im entgotteten Vakuum tanzen fröhlich die Gespenster. 

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Nichts ist hartnäckiger als der Mythos der Aufklärung, der uns einredet, Wissenschaft und Technik hätten uns aus dem Entwicklungsstadium des „Primitiven“ gehoben. Max Weber gebrauchte 1913 zum ersten Mal den Begriff, der die Folgezeit charakterisieren sollte: Entzauberung der Welt. Das geschah in einer Zeit des blühenden Okkultismus, demgegenüber sich Weber übrigens aufgeschlossen zeigte. Ein Jahrhundert später zeigt schon ein kursorischer Blick: Die Welt des Kapitalismus ist verzaubert wie nie zuvor – durch Technik. Wir schaffen andauernd technische Wunderwerke. Verwunderlich dabei ist allerdings, wie wenig wir uns wundern. Wir lassen uns von den neuesten Apps und Gadgets durchaus verzaubern, aber diese Verzauberung verläuft in kommerzialisierbaren Bahnen. Der Zauber selbst ist nun zum Industrieprodukt geworden. Er führt meist kaum weiter als zum reibungslosen Gebrauch und zu einer fiebrigen Erwartung neuer Versionen und Updates; nur nicht zur Frage, wie das Ding funktioniert. Magie und technischer Analphabetismus bedingen einander wechselseitig. Von einem Klassiker der Science-Fiction, Arthur C. Clarke, stammt der vielzitierte Satz: „Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie ununterscheidbar.“

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Man könnte auch sagen: Technologie ist Magie mit modernen Mitteln. Wir leben in ei-ner Epoche der rationalisierten Magie. Das Wort ist altpersischer Herkunft: „maga“ bedeutet bestimmte aussergewöhnliche Fähigkeiten oder Kräfte von Menschen, Tieren oder Dingen. Diese Kräfte können beansprucht oder verliehen werden. Am besten denkt man bei Magie an Charisma. Charismatische Personen haben die „Magie“, andere zu „verzaubern“, das heisst auch, sich anderer zu bemächtigen. Heute läuft das Design der Artefakte primär in diesem Sinne darauf hinaus, sie charismatischer zu machen. Das iPad wurde als „magisch“ lanciert. Laut dem Chefdesigner von Apple, Jonathan Ive, sei die Aufgabe der Firma, harte, schwierige Probleme zu lösen, ohne die Komplexität der Probleme erscheinen zu lassen. Produkte-Design ist „Magifizierung“. Man betrachte das Smartphone: ein glatter, handlicher, undurchsichtiger Kleinmonolith. Mit einer leichten Berührung lässt sich alles herbeizaubern.  Magie heisst nach der Definition des Ethnologen Marcel Mauss: Kurzschluss zwischen Wunsch und Erfüllung. Das Wischen über das Display des Smartphones ist ein magischer Akt.

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Zurzeit wird bekanntlich viel über den „neuen“ posthumanen Menschen schwadroniert, der sich dank Technik auf ein nie dagewesenes Entwicklungsniveau hangelt. Nüchtern betrachtet, nähern wir uns aber eher animistischen früheren Kulturen, die wir doch überwunden zu haben glaubten. Wir sind magiegläubiger denn je. Statt unserem eige-nen Verstand vertrauen wir mehr dem „Verstand“ der Maschinen-Software, und in dieser Hinsicht gleichen wir dem „Primitiven“, der seine Baum- und Wassergeister be-schwört. Wahrscheinlich ist dieser „Primitive“ uns darin sogar voraus, dass er seine Lebensbedingungen ziemlich gut kennt und im Griff hat. Max Weber fragte seine Zuhörerschaft, ob sie eine grössere Kenntnis ihrer Lebensbedingungen habe, „als ein Indianer oder ein Hottentotte (..) Wie der Wilde es macht, um zu seiner täglichen Nahrung zu kommen, und welche Institutionen ihm dabei dienen, das weiss er.“ Wogegen die zunehmende Technisierung unserer Lebenswelten „nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen (bedeutet), (..) sondern (..) etwas anderes: (..) den Glauben daran: dass man alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.“ Der Glaube an das „im Prinzip“, wohlgemerkt. 

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Edward Burnett Tylor, ein Pionier der Religionsanthropologie, schrieb 1871 in seinem Buch „Primitive Cultures“: „Die Welt wimmelt erneut von intelligenten und mächtigen (..) spirituellen Wesen, deren direkte Wirkung auf Geist und Materie wir ebenso vertrauensvoll annehmen wie in jenen Zeiten und Ländern, in denen es der Physik (..)  noch nicht gelungen war, die Geister und deren Wirkungen aus der Natur auszustossen.“ Man ersetze „intelligente und mächtige spirituelle Wesen“ durch „intelligente und mächtige virtuelle Wesen“, und man hat einen prägnanten heutigen Lagebeschrieb. Wir werden die Geister auch weiterhin nicht los. Die Entzauberung, also die Aufklärung, misslingt uns. Wir sind Neoprimitive auf technisch avanciertestem Niveau.


Dienstag, 27. Mai 2025




Technological fix - Das Paradox der technologischen Entwicklung

Erfindungen prägen unser Leben tief, vom Radio über das Auto bis zum Computer. Und nach einer vorherrschenden Ansicht über Technik macht Not erfinderisch: Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung. Da ist ein Problem und durch eine Erfindung lösen wir es, sprich: verschwindet es. Die Ansicht kursiert heute unter der Bezeichnung des technological fix, oder - spezifischer im digitalen Kontext – des Solutionismus: Verwandle ein Problem in ein ingenieurales und löse es durch die Erfindung oder Verbesserung einer entsprechenden Technik. 

Die Ansicht erweist sich bei näherem Betrachten als fatal einseitig. Technik ist ambivalent. Oft erweist sie sich als das Problem, für dessen Lösung sie sich hält. Der amerikanische Technikhistoriker Melvin Kranzberg hat deshalb vor vierzig Jahren den obigen Spruch umgekehrt und als «Kranzberg-Gesetz» formuliert: Erfindung ist die Mutter der Notwendigkeit. Er schlug damit – nicht ohne Ironie - ein anderes Narrativ vor: Innovationen schaffen neue Nöte, machen in der Regel weitere Zusatzerfindungen notwendig, um wirklich effizient zu werden.  Das heisst, Erfindungen setzen einen innovativen Zyklus in Bewegung, der gewissermassen eine «kranzberg’sche» Eigengesetzlichkeit entwickelt. 

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Denken wir an die Automobilindustrie. Die Erfindung des Fliessbandes hat eine gewaltige Kaskade von technischen Problemen und Innovationen losgetreten, von Fords T-Modell bis zu Musks Tesla. Und hier tritt ein paradoxer Aspekt der Technologieentwicklung zutage: Wir sind heute in avancierten Gesellschaften auf Technik mehr denn je angewiesen, und dennoch können wir immer weniger auf Lösungen im Sinne des technological fix zählen.  

Die Umweltwissenschaftler Braden Allenby und David Sarewitz orten darin das Problem zunehmender Komplexität. In ihrem Buch «The Techno-Human-Condition» (2013) skizzieren sie drei Stufen der Komplexität: die lokale, regionale und globale. Man könnte auch von zahmer, vernetzter und tückischer Technologie sprechen. Auf der lokalen Stufe der Werkstatt ist das Auto eine zahme, eine isolierte Technologie. Die Probleme an ihm lassen sich eindeutig formulieren und als Ursache-Wirkungs-Kette konzipieren: Bessere Bremsen, Motoren mit höherem Wirkungsgrad, leichteres Chassis-Material. Das ist die Ebene der Designer und Ingenieure. Auf der regionalen Stufe entpuppt sich das Auto als vernetzte soziokulturelle Technologie. Hier stellen sich Probleme, die nicht mehr so leicht überschaubar und zu bewältigen sind wie in der Werkstatt: Strassenbau, Verkehrsdynamik, Treibstoffversorgung. Das ist die Stufe der Planer und Operations Researcher. 

Zunehmend aber erweist sich das Auto als eine Technologie der globalen Stufe. Hier stellen sich Fragen seiner weltweiten Verbreitung, der supranationalen industriell-politischen Verflechtungen, der globalen Ressourcenpolitik. Auf dieser Stufe kann man die Probleme oft nicht nur nicht klar definieren, vielmehr ändern sie sich ständig und schwer kontrollierbar in Abhängigkeit von sozialen, politischen, ökonomischen Kontingenzen. Das Auto wird zur tückischen Technologie. Das heisst, die Notwendigkeiten, die es schafft, sind nicht mehr «rein» technisch definiert und mit einer patenten Erfindung zu lösen. 

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Ich bestreite nicht ingenieurale Lösungsansätze. Mir geht es hier um etwas anderes, um die Steigerungslogik im Ganzen. Wenn Erfindungen stets weitere Erfindungen nötig machen, führt das, zu Ende gedacht, nicht in einen Circulus vitiosus? Innovative Zyklen bewahren ihr Gleichgewicht durch ständiges Verbessern und Steigern von Geräteleistung. Das kennzeichnet die innere Dynamik der technisierten Gesellschaft. 

Die Computertechnologie macht sie exemplarisch sichtbar. Etwa in der Mitte des letzten Jahrhunderts sahen sich industrielle Produktion, Verkehr, Planung, ja, Politik mit einer Informationsflut konfrontiert, deren Management die menschliche Kapazität überstieg. Das war die Notwendigkeit, die den Computer auf den Plan rief. Und er präsentierte sich zunächst als wunderbarer technological fix. Dem mulmigen Gefühl, eine maschinelle Intelligenz könnte der Kontrolle der menschlichen Intelligenz entgleiten, begegneten die Informatiker schon damals mit der Beschwichtigung, das Problem liesse sich durch weitere technische Entwicklung bewältigen. Und die Beschwichtigung hält bis heute an, im Mantra: Wartet nur, bis wir den richtigen Algorithmus gefunden haben! 

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Kranzbergs Gesetz hat - vor allem im Zeitalter der KI-Technologie und ihrer monopolistischen Firmen - einen anderen, einen psychologischen Aspekt. Lesen wir «Notwendigkeit» als «Bedürfnis», dann lässt sich das Gesetz so formulieren: Die Erfindung ist die Mutter des Bedürfnisses. Sie schafft Bedürfnisse, die vorher nicht existierten. Die Technikgeschichte zeigt ein wiederkehrendes Phänomen: Erfindungen haben es oft schwer. Sozial und kulturell verwurzelte Interessen widersetzen sich Innovationen. Zu Gutenbergs Zeiten ertönten nicht Jubelschreie «Endlich gedruckte Texte!», vielmehr beeilten sich die Kopisten, die Presseprodukte mit einem lokalen Bann zu belegen. Der erste Verbrennungsmotor, um 1860 von Nicolaus Otto gebaut, führte nicht zur Produktion entsprechender Vehikel, weil die Leute mit Pferden und Eisen-bahnen zufrieden waren. Der Transistor wurde in den USA erfunden, aber die Elektroindustrie ignorierte ihn, um die Produkte mit Vakuumröhren zu schützen. Es blieb Sony im Nachkriegsjapan überlassen, den Transistor zum elektronischen Konsumgut zu entwickeln. 

KI-Technologie ist primär eine Bedürfnisproduktion. Sie braucht den Kunden als Be-dürftigen. Ein Ex-Geschäftsstratege bei Google beschreibt die Industrie als die «umfassendste, normierteste und zentralisierteste Form der Verhaltenskontrolle in der Geschichte der Menschheit (..) Ich realisierte: Da ist buchstäblich eine Million Menschen, die wir sozusagen anstubsen und überreden, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden». 

«There’s an App for That» lautete der Werbespruch von Apple 2009. Besessen vom nächsten neuen Ding hetzt heute die Entwicklung in einer Endlosschleife der Innovationen manisch vorwärts: immer neuere Versionen von Apps. Sie verkauft mit all den Apps und ihren laufenden Updates Verhaltensweisen, und sie dressiert uns immer neue Bedürfnisse an. Auch vor Google existierte die Neugier. Aber Google hat sie in ein technikkonformes Suchbedürfnis verwandelt. 

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Gibt es einen Ausstieg? Die Technikhistorikerin Martina Hessler bemüht in ihrem neuen Buch «Sisyphos im Maschinenraum» eine mythische Figur. Der moderne Sisyphos ist der vom technological fix beherrschte Mensch. Er schiebt den Stein der technischen Lösungen immer höher, aber er erreicht dadurch nur, dass der ersehnte Gipfel sich weiter entfernt. Er hat seine Strafe selber gewählt, getrieben vom Wunsch, die Welt allein mit Technik zu verbessern, ja, zu vervollkommnen. Technological fix sagt alles: Befestigung einer bestimmten Vorgehensweise. Das Sisyphoshafte ist dieser Art von Entwicklung inhärent. Wie Martina Hessler bemerkt, verbleiben «technologische Lösungen in der Regel in einer Logik, die das Bisherige fortsetzt (..) Die vermeintlich disruptiven Technologien erweisen sich aus dieser Perspektive gar nicht als disruptiv, sondern lösen das Problem in der Logik des Problems, anstatt es kreativ völlig neu zu denken». 

Das ist der springende Punkt. Menschliche Kreativität und Ingeniosität sind wundervolle Fähigkeiten. Sie müssen sich nicht auf technische Erfindungen beschränken. Was, wenn sie sich weniger von der «Logik des Problems» leiten liessen und vermehrt für alternative Lebensformen interessierten? Wir haben sehr viel Intelligenz in Geräte gesteckt. Nun brauchen wir noch mehr Intelligenz, um unsere eigenen Fähigkeiten (auch dank Technik) wieder zu entdecken. Denn die Koevolution von Mensch und Maschine könnte ihren Ausgang nicht bloss in superschlauen Maschinen finden, sondern auch in subschlauen Menschen. Und die Wahrscheinlichkeit für die zweite Entwicklung nimmt zu.  

  Ein neuer Kalter Krieg Das Dilemma des technologischen Fortschritts Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Jervis formulierte in ...