Salavaux Plage
Sterbliche Computer
Leben als Rechenprozess
Eine tiefverwurzelte Intuition lässt uns den Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz als den Unterschied zwischen Lebens- und Rechenprozess empfinden. Wir sagen, KI-Systeme würden stur «mechanische» Regeln befolgen, und wir perpetuieren da-mit einen alten Gegensatz, der das philosophische Denken der Neuzeit tief prägt: den Gegensatz zwischen Lebewesen und Maschine, Organismus und Mechanismus. Tatsächlich aber weisen Entwicklungen in der KI-Forschung schon seit längerem darauf hin, dass – um es vorsichtig zu formulieren - die Grenze zwischen Lebens- und Rechenprozessen verschwimmt.
Die Konvergenz von Biologie und Computerwissenschaften hat eine fast hundertjährige Geschichte. Sie liegt in einem genialen theoretischen Entwurf des Mathematikers Alan Turing begründet. Er konzipierte in den 1930er Jahren eine ideale Maschine, die all das simulieren kann, was wir in einem herkömmlichen Sinn «rechnen» nennen – und weit mehr, nämlich jeden Vorgang, der automatisch, algorithmengesteuert abläuft. Man nennt diese Maschine «universelle Turingmaschine». Das Revolutionäre an ihr ist die Medienunabhängigkeit. Es spielt keine Rolle, ob Algorithmen auf der Basis von Zahnrädern, Elektronenröhren, Siliziumchips oder organischen Molekülen operieren. Das Maschinelle oder Rechnerische steckt, anders gesagt, potenziell in allem. Auch im Organischen. Turing öffnete den konzeptuellen Weg, insbesondere Lebensvorgänge als Rechenprozesse zu begreifen. Er ermöglicht Fragen wie: Gibt es eine Turingmaschine für Wachstum, Proteinbau, Stoffwechsel, Selbstreplikation? Ist nicht die Evolution selbst eine solche Maschine?
***
Ein anderes Genie der Computertheorie, der Mathematiker John von Neumann, nahm diese Fragen auf. Er erweiterte Turings universellen Rechner zu einem Modell des selbstreproduzierenden Automaten, des «universellen Konstruktors». Er besteht aus zwei Hauptkomponenten. Der Konstruktionsteil baut gemäss einem gespeicherten Bauplan eine neue Maschine; und der Kopierteil kopiert den Bauplan selbst und übergibt ihn an die neue Maschine. Von Neumann machte die Logik eines solchen Automaten explizit und lieferte damit eine Antwort auf das Problem: Wie kann eine Maschine nicht nur ihre Struktur, sondern auch die Information zum Aufbau ihrer Struktur weitergeben?
Nun ist das alles Theorie. Der selbstreproduzierende Automat ist ein mathematischer «Organismus», kein natürlicher. Dass er zuhauf in der Natur vorkommt – in der konkreten Gestalt von Lebewesen -, ist das eine; ihn technisch zu realisieren, das andere. Die Idee der organischen Materie als Substrat für Rechenprozesse wurde in den 1960er Jahren realisier-bar, als François Jacob und Jacques Monod vorschlugen, in den Biomolekülen eine Art von Programmsprache für die Proteinsynthese zu sehen. In den 1970er Jahren erkannte der Informatiker Charles Bennett, dass sich in Biomolekülen - etwa in der RNA-Polymerase – Turings Maschinenkonzept materialisieren lässt, und er spekulierte bereits über Moleküle, die energieeffizientere Rechner liefern könnten. In den späten 1980er Jahren prägte der Computerwissenschaftler Christopher Langton den Begriff des «Artificial Life», und er um-schrieb mit ihm ein Projekt, das vom «Leben, wie wir es kennen» übergeht zum «Leben, wie es sein könnte» - das heisst, zur Nachbildung von Naturphänomene in alternativen Medien.
***
Dieses Projekt wird heute auf vielen Feldern des «Bio-Computing» verfolgt. Man verschaltet zum Beispiel lebende Neuronen mit Chips. Ein australisches Forscherteam kultivierte das Netz von etwa 800’000 Zellen eines embryonalen Mäusegehirns in vitro, und «pflanzte» diese Schicht einem dichten Gitter von Mikroelektroden «auf». Die Neuronen reagierten auf die elektrischen Signale und lernten durch positive und negative Rückkoppelung ein einfaches Computerspiel. «DishBrain» nennt sich dieses System: Gehirn in der Petrischale. Die Forscher versprechen sich von solchen Bio-Hybriden, die «inhärente» Intelligenz des biologischen Systems nutzen zu können.
Oder man studiert Organismen wie den Schleimpilz auf seiner Futtersuche. Er löst das Problem, eine Anzahl Punkte – Nahrungsquellen - mit einem Netz kürzester Länge zu verknüpfen. Für die Informationstheorie stellt dies ein notorisch kniffliges Problem dar, das mit wachsender Zahl von Punkten dem Computer sehr schnell eine immense Rechenleis-tung abfordert. Womöglich steckt in der schleimigen Biologie der Schlüssel für einen effi-zienten Algorithmus. Die Natur als Terra incognita unbekannter «Rechenverfahren» …
Einer der grössten Wissenschaftsverlage der Welt - Springer Nature - lädt kürzlich zu Bei-trägen im Forschungsfeld des Biocomputing ein. Er begründet dies mit dem Hinweis auf einen «Paradigmenwechsel in der Konvergenz biologischer Systeme, Materialtechnik und computergestützter Technologien» (..) Mit dem Fortschritt der Organoid- und lebenden Bio-Hybrid-Technologien bietet die Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) in diese lebenden Strukturen eine spannende Gelegenheit, neue Formen der Biocomputing zu erforschen (..) Die Zeit für diese Erforschung ist reif, da Fortschritte im Gewebeengineering und bei KI-Algorithmen sich rasant entwickeln und eine genauere Untersuchung ihres kombinierten Potenzials erfordern.»
***
Ein Typus von Computer nimmt Gestalt an, den Geoffrey Hinton - ein Pionier des Deep Learning – unlängst «sterblich» genannt hat. Er brachte damit etwas Offensichtliches zur Sprache: Biologische Rechensysteme sind untrennbar mit dem physischen Substrat verbunden. Wenn wir sagen, das Gehirn rechne, dann meinen wir, dass der neurophysiologische «Kalkül» vollständig im Gewebe – in der «Wetware» - abgebildet ist. Sterbliche KI muss die Fakten des Lebens lernen. Intelligenz braucht die Auseinandersetzung mit der Umwelt, sie ist ein Produkt dieser Auseinandersetzung. Davon zeugt die immense Vielfalt intelligenter Lebensformen, vom Bakterium bis zum Bonobo. Und die Frage stellt sich, inwieweit und ob sich diese evolutionäre Fülle je völlig mit den Algorithmen ausbuchstabieren lässt, die wir kennen und ersinnen können.
Wie auch immer, allmählich dämmert den Architekten der künstlichen Netze, dass sie - buchstäblich - die Rechnung ohne das «feuchte» Medium machen. Das heisst, immer klarer treten die «Features» des biologischen neuronalen Netzes in den Vordergrund. Um nur kurz drei anzuführen. Erstens arbeitet das menschliche Gehirn viel energieeffizienter als das künstliche. Zweitens sind Neuronen keine simplen Recheneinheiten, an denen man einfach die Gewichte justiert, sondern hochkomplexe dynamische Systeme, die Signale gepulst verschicken und sich dabei chemisch ändern. Und drittens sind die synaptischen Veränderungen zwischen Neuronen vielschichtiger als die statistischen Optimierungsverfahren, die man beim maschinellen Lernen verwendet.
***
Ist Leben ein Rechenprozess? Das ist keine hilfreiche Frage. Sie sollte vielmehr lauten: Welche Werkzeuge lassen sich zwischen Biologen und Computerwissenschaftlern austauschen, damit sie wechselseitig ihre Disziplinen befruchten können - und wie weit gelingt das? Dieser Austausch verabschiedet heute den alten binären Raster von Organismus versus Mechanismus. Ein erzsimpler Unterschied bleibt dennoch. Den Computer haben wir geschaffen - nicht aber das Leben. Deshalb ist es wohl so schwer zu verstehen.
Neurobiologie der Ideologie – selber eine Ideologie?
Wir alle sind ideologieanfällig. Was natürlich die Frage provoziert, ob und inwieweit diese Anfälligkeit im Gehirn verankert ist. Es gibt neuerdings eine Disziplin namens politische Neurobiologie, die unsere Ideologieanfälligkeit durch die Gehirnbrille betrachtet. Die Neuropsychologin Leor Zmigrod hat zu diesem Thema ein Buch verfasst: «Das ideologische Gehirn» (deutsch 2025).
Es reiht sich ein in eine Tradition, die politisches und moralisches Verhalten neurowissenschaftlich zu erklären versucht – ein mittlerweile eigenes Genre mit Autoren wie John Gribbin, David Amodio, Jonathan Haidt, Michael Gazzaniga, Chris Frith. Diese vertreten keineswegs einen kruden Neuro-Reduktionismus, wie er sich im Materialismus des 19. Jahrhunderts äusserte, etwa in der berüchtigten Analogie des Mediziners Carl Vogt, der Geist verhalte sich zum Gehirn wie der Urin zur Niere. Doch bei allem Fortschritt bleiben sie eine Antwort auf die Frage schuldig, wie Geist und Gehirn zusammenhängen. Das ist bei Leor Zmigrod nicht anders.
***
Ihr Schlüsselbegriff ist Rigidität. Er kennzeichnet den ideologischen Denkstil, zumal drei Hauptmerkmale: erstens das starre Festhalten an einer Doktrin, zweitens die Resistenz gegenüber neuen Erkenntnissen, drittens den Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst, die Bevorzugung der eigenen Meinung gegenüber der Meinung anderer. Dass ein solcher Denkstil zu Intoleranz disponiert, liegt auf der Hand.
Was fügt Frau Zmigrod Neues hinzu? Eine Hypothese: Gedankliche Rigidität wider-spiegelt neuronale Rigidität. Damit verschiebt sie den Fokus von geisteswissenschaftlichen zu naturwissenschaftlichen Erklärungen. Aber sie geht weiter. Sie reklamiert für sich einen «neuen und radikalen wissenschaftlichen Ansatz». Gleich am Anfang schreibt sie keck: «Für mich sind Gehirn und Geist ein und dasselbe, denn es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der menschliche Geist ohne Gehirn existiert». Als ob ein solcher Beweis nötig wäre! Kaum ein Wissenschaftler bestreitet heute, dass neuronale Aktivitäten eine notwendige Bedingung für geistige Aktivitäten sind. Freilich folgt daraus nicht die Identität von Gehirn- und Geistesaktivität. Diesen Fehlschluss lernt man in jedem Propädeutikum der Logik kennen.
***
Aber konzentrieren wir uns auf das Hauptanliegen von Leor Zmigrod. Sie möchte erklären, «wie ideologische Überzeugungen aus der Biologie hervorgehen». Und damit lädt sie sich ein gewaltiges erkenntnistheoretisches Fuder auf. Schon das Wort «hervorgehen» ist heikel. Was meint es genau: einen Kausalnexus, eine Neigung, ein Begünstigen, ein statistisches Resultat? Die Philosophen debattieren seit dem 17. Jahr-hundert über diese Frage, und sie ist bis heute nicht eindeutig entschieden.
Vermutlich lässt sie sich gar nicht eindeutig entscheiden, weil eine Neurobiologie der Ideologie vom Ansatz her mit mindestens zwei Erklärungsebenen operiert, der mentalen (Motive, Gedanken, Absichten) und der neurobiologischen (Aktionspotenziale, Synapsen, neuronalen Codierung). Nehmen wir zum Beispiel eine Aussage wie «Personen mit einer aktiveren Amygdala tendieren zu stärkeren Angstreaktionen und damit zu konservativem Gedankengut». Wie stellt man das fest? Nun, die neuronale Aktivität beobachtet man auf Gehirnscans, die Verbindung mit konservativem Gedankengut ermittelt man durch Befragung und Tests: Technologie trifft Statistik. Ei-ne bewährte, durch die KI noch verstärkte Methodologie.
***
Das macht sie nicht unproblematisch. Denn im Hintergrund lauert immer die Frage: Was hat die Ebene des Geistes mit der Ebene des Gehirns zu tun? Die Frage ist in einschlägigen Kreisen als das «harte Problem» bekannt. Und die Debatte läuft darüber, ob es überhaupt lösbar sei. Der «radikale» Ansatz von Frau Zmigrod und ihre Tests mit «Tausenden» von Probanden bringen uns auch nicht weiter.
Und dies hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste liegt im empirischen Vorgehen. Betrachten wir als Beispiel den anterioren cingulären Cortex, die Region, die komplexe kognitive Prozesse steuert, etwa die Fehlerwahrnehmung und Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Es gibt Experimente, die zeigen, dass diese Region bei «nicht-rigiden» Personen grösser ist. Die Crux dabei ist die Wahl der Probanden. Stellt man in einer Gruppe einen solchen Zusammenhang fest, folgt daraus nicht, dass dies auch bei einer anderen der Fall ist. Die Experimente sind oft schwer replizierbar. Die Universalisierung der statistischen Resultate erweist sich stets als frag-würdig.
Das führt zum zweiten Grund. Die Neurobiologie der Ideologie stellt fest, dass be-stimmte Hirnregionen wie Amygdala, präfrontaler Cortex, anteriorer cingulärer Cortex mit gewissen Denkstilen zusammenhängen. Aber wir können noch so viel über die neuronale Dynamik wissen, dieses Wissen führt uns nicht aus der Gehirnebene heraus. Wenn Zmigrod zum Beispiel feststellt, dass bei flexiblen Menschen die Dopaminkonzentration im präfrontalen Cortex hoch und im Striatum niedrig ist, dann fügt sie einfach Beobachtungen aus zwei Ebenen aneinander – sie korreliert sie - , sie sagt nicht, wie sie auseinander «hervorgehen».
Nun erhebt aber gerade die Neurobiologie der Ideologie den nicht unbescheidenen Anspruch, die Frage nach der Henne und dem Ei zu beantworten: «Was ist Ursache, was Wirkung? (..) In welche Richtung zielt der Pfeil?» Die Antwort: «Unser Gehirn formt unsere politischen Einstellungen, und gleichzeitig formen unsere Ideologien die Funk-tionsweise unseres Gehirns (..) Das Bestimmen der Richtung, in die der Pfeil fliegt, bleibt eine ständige Herausforderung». Und wir sind so klug als wie zuvor.
***
Vermutlich ist Frau Zmigrod selbst nicht ganz wohl bei ihrer Sache. Erkenntnistheoretische Skrupel suchen sie heim: «Jeder Gedanke hat einen biologischen Marker, also hat eine neuronale Aktivität an sich wenig mehr zu bedeuten, als dass wir am Leben und Organsimen mit Bewusstsein sind (..) Wann sagt ein neuronales Muster etwas Spannendes über die Natur ideologischen Denkens aus? Wann ist die Neurowissenschaft der Ideologie ein verheissungsvolles Feld und wann ist sie eine sinnlose Übung?»
Ich würde darauf antworten: Sie ist weder verheissungsvoll noch sinnlos. Sie ist nützlich, wenn sie neue spannende Fragen stellt. Dass sie «radikale» Einsichten über die Erziehung zu flexiblem Denken liefert, darf einstweilen stark bezweifelt werden. Nach wie vor ist wichtig, was man denkt. Wenn Ideologien komplexe Verhältnisse auf simple Muster reduzieren, dann empfielt sich vor allem eine Kritik dieser Logik.
Ideologie sitzt nicht im Gehirn. Eine Ideologie ist ein kollektives Phänomen, eingebettet in Traditionen, Rituale und gesellschaftliche Institutionen. Wer Ideologie durch die Untersuchung isolierter Gehirne verstehen will, riskiert einen Kategorienfehler – ähnlich, wie wenn man im Parlamentsgebäude nach einem Raum namens «Demokratie» suchen würde.
***
Ideologisch wird eine Neurobiologie der Ideologie dann, wenn sie sich an einem irre-führenden Ideal orientiert. Und dieses Ideal heisst Ideologiefreiheit. Zmigrods Schlussbemerkungen sind bezeichnend: «Der Kampf gegen Rigiditäten zwingt uns dazu, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ein anti-ideologisches Gehirn aussehen könnte (..) ein Bewusstsein, das frei ist von Ideologie». Hat uns Frau Zmigrod nicht eindringlich vor dem Zwangscharakter der Ideologie gewarnt? Und nun präsentiert sie uns ihren Ansatz selbst als «zwingend».
«Aus einer Ideologie auszubrechen heisst, sich mit multiplen Stimmen auseinanderzusetzen», schreibt Leor Zmigrod. Man kann ihr Buch in diesem Sinn als einen Weckruf lesen, der Stimme der Geisteswissenschaften mehr Gehör zu schenken in einer Zeit, in der ohnehin technologische und naturwissenschaftliche Ansätze dominieren. Ideologiekritik ist bei politischen Doktrinen dringend nötig. Man vergesse nicht, sie auch auf die politische Neurobiologie anzuwenden.
Das Paradox der technologischen Entwicklung Nach einer vorherrschenden Technikauffassung macht Not erfinderisch: Notwendigkeit ist die Mut...