Sonntag, 26. März 2017

Über intelligente Dummheit









NZZ, 23.3.2017




Plötzlich erweisen sich uralte Schriften als brandaktuell. Zum Beispiel der „Grosse Alkibiades“, ein griechischer Dialog, verfasst vor zweieinhalb Jahrtausenden, dem platonischen Kreis zugerechnet. Alkibiades, Spross einer noblen athenischen Familie, ein ehrgeiziger Jüngling mit Drang zum politischen Leben wird von Sokrates in einen Dialog über gute Staatsführung verwickelt. Wie üblich, zerzaust Sokrates die unreife Voreingenommenheit des jungen Mannes, der gestehen muss, dass er eigentlich nichts wisse über die Voraussetzungen guter Politik. An einer entscheidenden Stelle redet Sokrates dann Fraktur.
Sokrates:     Wie nun? Weisst du etwas Wichtigeres zu nennen als Rechtes und Schönes und Gutes und Vorteilhaftes?
Alkibiades: Wohl nicht.
Sokrates:     Und hierüber gestehst du, dass du schwankst.
Alkibiades:  Ja.
Sokrates:     Wenn du aber schwankst, ist es nicht aus dem Vorigen klar, dass du nicht nur das Wichtigste nicht weisst, sondern auch, nicht wissend, es doch zu wissen glaubst?
Alkibiades:  Das mag wohl sein.
Sokrates:     Wehe, o Alkibiades, was ist dir widerfahren (..) Nämlich mit der Torheit hausest du und zwar mit der schimpflichsten (..) Darum also stürzt du dich so eilends in die Staatssachen, ehe du unterrichtet bist. Aber nicht du allein befindest dich in diesem Zustande, sondern die meisten von denen, welche die Angelegenheit dieser Stadt besorgen.

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Im griechischen Original steht das Wort „amathia“ für Torheit. Damit ist nun nicht die normale Dummheit gemeint, sondern eine besondere Form von Ignoranz: die Unwissenheit nämlich der eigenen Unwissenheit. Sokrates gilt ja als philosophischer Diagnostiker dieser speziellen Ignoranz.

Alkibiades ist intelligent, aber er will seine Intelligenz für „törichte“ Ziele einsetzen, für Machtgewinn und Machterhalt, nicht für das gerechte und gute Leben. Robert Musil hat in einem Vortrag von der „intelligenten“ Dummheit gesprochen, um sie von der „ehrlichen“ Dummheit abzuheben: „Die ehrliche Dummheit ist ein wenig schwer von Begriff und hat, was man eine ‚lange Leitung’ nennt. Sie ist arm an Vorstellungen und Worten und ungeschickt in ihrer Anwendung. Sie bevorzugt das Gewöhnliche, weil es sich ihr durch seine öftere Wiederholung fest einprägt, und wenn sie einmal etwas aufgefasst hat, ist sie nicht wieder geneigt, es sich so rasch wieder nehmen zu lassen (..) Zu dieser ehrlichen Dummheit steht nun die anspruchsvolle höhere in einem wahrhaft nur zu oft schreienden Gegensatz. Sie ist nicht sowohl ein Mangel an Intelligenz als vielmehr deren Versagen aus dem Grunde, dass sie sich Leistungen anmasst, die ihr nicht zustehen (..) Sie reicht bis in die höchste Geistigkeit. Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen.“

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Heute ist eine Abart dieser Dummheit zu konstatieren. Es herrscht das Klima der Faktenalternierer, Lügenkostümierer, Gerüchtezwitscherer. Sie sind intelligent, und sie mobilisieren ihre Intelligenz für antidemokratische, ja, faschistische Ziele. Sie wollen allgemeine Konfusion schaffen, um den günstigen Notstand eines Staatsstreichs herbeizuführen, wie der „Leninist“ Steve Bannon: „Ich glaube, wir könnten ein bisschen mehr Chaos in unserer Politik gebrauchen, ein bisschen von diesem faschistischen Geist.“ Oder sie plädieren für eine Säuberung Frankreichs vom Islam, wie die schlaue Putzfrau Marine Le Pen: „Sagen wir ja zum Multikulturalismus auf planetarer Ebene, aber nein zum Multikulturalismus in einem einzigen Land.“ Während Alkibiades tut als ob er wüsste, obschon er nicht weiss, manifestiert sich hier eine andere Form von Dummheit: Man weiss, aber tut so als ob man nicht wüsste. Man weiss durchaus aus der jüngeren Vergangenheit, in welche Zustände eine Destabilisierung des Staates oder eine kulturelle „Reinigung“ der Gesellschaft führen kann. Dieses Wissen unterschlägt man freilich schön hintertrieben.

Intelligente Dummheit bezeichnet nicht eine Unfähigkeit, sondern eine Nicht-Bereitschaft des Verstehens, also den Willen zu historischer Amnesie. Gutes Zureden - will sagen: Lernen – kommt intelligenter Dummheit nicht bei. Sie versagt sich dem Argument, sie weist den Unterricht durch Fakten von sich, die ihr nicht zudienen, sie redet im Argot von Affekt und Ressentiment. Sie bedient eine Art von Borderline-Politik. Wie Musil schreibt, ist sie „keine Geisteskrankheit, und doch ist sie die lebensgefährlichste, die dem Leben selber gefährliche Krankheit des Geistes.“ Musil hielt seinen Vortrag „Über die Dummheit“ 1937, ein Jahr vor dem Anschluss Österreichs an Deutschland, zu einer Zeit, als die „Krankheit“ in Europa schon endemisch war. Achtzig Jahre später grassiert sie wieder, und nicht nur in Europa.


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