Samstag, 25. Oktober 2014

Vergewaltigung und Statistik










Psychologen und Verhaltensökonomiker führen Experimente durch, die ein Vermögen testen, welche Statistiker Bayessches Schliessen nennen, nach dem englischen Geistlichen Thomas Bayes, der im 18. Jahrhundert wahrscheinlichkeitstheoretische Berechnungen zum Zufall (ein eminent theologisches Thema) anstellte. Die Fähigkeit erlaubt uns, die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung auf der Grundlage von vorgängigen Annahmen und zusätzlichen Informationen einzuschätzen.  Der Durchschnittsmensch, so der allgemeine Befund der Experimente, tendiert zu falschen und oft verhängnisvollen Schlüssen. Hiezu ein fiktives Beispiel. In einer Studie stellt man fest, dass 90% der Menschen, die extremistischem Gedankengut anhängen, Muslime sind. Da sieht man es doch, sagt der Durchschnittsmensch, 90% Prozent der Muslime sind Extremisten. Der Schluss ist selbstverständlich falsch (und diskriminierend). Er schliesst von Extremisten, die Muslime sind, auf Muslime, die Extremisten sind. Er berücksichtigt nicht die Zusatzinformation, dass die meisten Muslime Nicht-Extremisten sind.

Dazu eine kleine Rechnung. Nehmen wir an, die Bevölkerung eines Landes hat einen muslimischen Anteil von 30%. Der Anteil an Extremisten (jeglicher Couleur) sei  0.1 %. Betrachten wir eine Stichprobe von 10'000 Menschen. Darunter sind 10 Extremisten und 9990 Nicht-Extremisten. Unter den 10 Extremisten befinden sich 9 Muslime (90%). Unter den 9990 Nichtextremisten befinden sich 2997 Muslime  (30%). Total sind das 3006 Muslime. Der Anteil der 9 muslimischen Extremisten beträgt also 9/3006 = 0.003. Die Wahrscheinlichkeit, dass Muslime extremistischem Gedankengut anhängen, ist somit 3 Promille, oder 3 Muslime auf 1000.

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Ein zweites Beispiel. Eine Studie stellt fest, dass Männer bei Frauenvergewaltigungen voreingenommen sind. Das heisst, sie neigen zur Behauptung, die Frau sei „selber schuld“, sie habe durch ihr Verhalten den Gewaltakt provoziert. Nehmen wir an, eine Befragung von betroffenen Frauen zeige, dass 10% tatsächlich die Vergewaltigung vorgetäuscht haben, in diesem Sinn also „selber schuld“ sind. 90% dagegen sind tatsächlich Opfer. Nehmen wir weiterhin an, Männer seien zu 50% voreingenommen. Wenn eine Frau vergewaltigt worden ist, dann sagt die Hälfte der dazu befragten Männer, sie sei „selber schuld“. Heisst das, dass ein Mann, der sagt, die Frau sei „selber schuld“, mit einer 50%-igen Wahrscheinlichkeit recht hat?

Nein. Betrachten wir eine Stichprobe von 100 Vergewaltigungsopfern. Bei 50 Frauen sagen die Männer aufgrund ihrer Voreingenommenheit „selber schuld“. Nur 5 von diesen 50 Frauen sind laut Befragung tatsächlich selber schuld (10%). Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau bei einer Vergewaltigung selber schuld ist, wenn der männliche Zeuge „selber schuld“ sagt, beträgt also 10%. Andersherum: Wenn ein Mann sagt „selber schuld“, dann ist die Frau mit 90%-iger Wahrscheinlichkeit tatsächlich vergewaltigt worden.

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Das zweite Beispiel ist von einiger Brisanz. WikiLeaks-Gründer Julian Assange wurde bekanntlich 2010 unter dem Verdacht der Vergewaltigung von zwei Frauen verhaftet. Man sprach in diesem Zusammenhang von Verschwörung, von „Sex-Fallen“, den unbequemen Zeitgenossen zu diffamieren und politisch kaltzustellen. Nate Silver, der amerikanische Statistik-Guru, nahm sich in einer Kolumne höchstpersönlich des Falls an, um zu zeigen, dass die Anklage schwach und politisch motiviert sei.[1] Und zwar bediente er sich wahrscheinlichkeitstheoretischer Überlegungen à la Bayessche Regel. Es gebe von diesem Standpunkt aus gesehen, „viele Ungewissheiten über das, was sich zwischen Herrn Assange und den beiden Frauen ereignet hat. Das ist normal in Fällen sexuellen Übergriffs, der sehr schwer zu beweisen sein kann, teils weil die Opfer oft zu verschreckt oder traumatisiert sind, um jene Einzelheiten zu liefern, welche die Strafverfolgungsbehörde verlangt. Aus diesen wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen, so Silver, sei die Anklage gegen Assange politisch voreingenommen: „In einer Welt der begrenzten Information könnte die politische Motivation hinter der Anklage der wichtigste Hinweis auf ihren Verdienst sein.“

Wie aber, wenn Assange – ein Mann mit „einem verschrobenen Frauenbild, der kein Nein akzeptieren kann", wie eine Anklägerin sagte –  von jener Art ist, die ich im zweiten Beispiel besprach: voreingenommen? Müsste nicht gerade ein „Hexenmeister“ der Statistik wie Silver zuerst auf den Gedanken kommen, Assange sei einer jener Männer, die „selber schuld“ sagen? Vielleicht hatte also die Anklage doch nicht so unrecht. -





[1] Nate Silver: A Bayesian Take on Julian Assange, New York Times, 15.12. 2010.

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