Von der Kosmologie zur Nihilologie
Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts? Vor
dem Nichts – dieser grossen kosmischen Null - scheiden sich die Geister in
fromme und unfromme. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es eine Art von Burgfrieden
zwischen Naturwissenschaften und Theologie. Aber die Frage spukt als metaphysisches
Unbehagen weiter in unseren Seelen, wie aufgeklärt sie sich auch geben mögen. Beruhigt
man es letztlich nur mit dem Glauben in eine Transzendenz? Oder schüttelt man
es ab mit einem atheistischen Schulterzucken: „The universe happens“? Haben wir
bloss die Wahl zwischen dem grossen Design und dem grossen Absurden? David Hume
hielt dem Argument, dass man die Welt nur erklären könne, wenn man ein gottähnliches
Wesen voraussetzt, eine schlagende Analogie aus der Mathematik entgegen.
Betrachten wir beliebige Vielfache der Zahl 9: 18, 36, 207 ... Die Quersumme
ergibt stets 9. Für mathematisch Unbedarfte ein Wunder. Für den versierten
Algebraiker eine Gesetzmässigkeit der natürlichen Zahlen. Könnte es sein, so
Hume, dass wir vor der kosmischen Algebra des Universums wie unbedarfte Mathematiker
stehen? Sind wir einfach nicht geschaffen für eine Erklärung?
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Das mutet an wie intellektuelles Handtuchwerfen. Aber
Hume macht uns sehr schön das unauslöschliche Faszinosum verständlich, das in
einer Erklärung des Universums steckt. Selbst wenn wir die Frage nach dem Warum
nicht beantworten können, monieren heute Physiker, so sind wir theoretisch
gerüstet für die Frage nach dem Wie. Mit dem Begriff der kosmischen
Singularität schuf die Big-Bang-Theorie eine konzise konzeptuelle Fassung für
diese Fragestellung, und damit auch für einen theoretischen physikalischen
Horizont, der über den Anfang des Universums hinausreicht. Wenn es einen Anfang
hat, dann bedeutet dies also zunächst einmal, dass dieser Anfang einer Erklärung
bedarf, und zwar einer physikalischen.
Die Frage lautet nunmehr: Wieso gab es den Urknall
und nicht vielmehr keinen? Die Frage selbst ist eigentlich schon erstaunlich
genug. Denn erklärungsbedürftig erscheint uns ja normalerweise das Nicht-Selbstverständliche.
„Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“ deutet so gesehen auf
eine philosophische Voreingenommenheit hin, nämlich dem Nichts den Selbstverständlichkeitsbonus
vor dem Etwas zu geben. Das ist im Grunde eine kleine Übung in Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Denke ich an die ungeheuer grosse Zahl möglicher Identitäten, die in unseren
Genen enkodiert sind, kann ich durchaus darüber staunen, dass ich existiere und
vielmehr nicht existiere. Bertrand Russell sah darin mit seinem typischen trockenen
Humor primär eine erzieherische Ermahnung: Kinder, seid dankbar gegenüber euren
Eltern.
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Für die Quantentheorie ist es denkbar, dass etwas
spontan aus nichts entsteht. Vorausgesetzt, man verfügt über das richtige
Nichts. Physiker stellen sich darunter einen Zustand niedrigster Energie vor,
ein Vakuum, welches das Potenzial hat, Teilchen in die Existenz zu entlassen. Es
gibt sogar verschiedene Arten solcher „Nichtse“. Von hier aus erscheint der
Schritt – zumindest spekulativ – klein, auch das Universum aus einem Urvakuum
entstehen zu lassen. Den Schlüssel dazu liefert die Heisenbergsche Unschärferelation.
Sie besagt im vorliegenden Fall, dass das physikalische Nichts - das Vakuum -
ein Zustand der „Fluktuation“ zwischen Sein und Nichtsein ist, und deshalb in infinitesimal
kleinen Zeit- und Raumquanten – in der sogenannten Planck-Zeit und Planck-Länge
– eigentlich alles Mögliche wirklich werden kann (in diesen Dimensionen kann
nicht einmal mehr von einem genau definierten „Anfang“ die Rede sein). Raum,
Zeit, Energie - das Universum könnte als zufällige Blähung einer Quanten-Fluktuation
dem Nichts entsprungen sein. Der Kosmologe Alan Guth, der vor 30 Jahren das
Szenario eines „inflationären“ Universums entwarf, prägte dafür ein geflügeltes
Bonmot: „The Universe is a free lunch“ – das Universum ist umsonst zu haben,
weil es aus nichts entsteht.
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Man sollte nun freilich nicht in vorauseilendem
Triumphalismus erwarten, dass sich presto eine akzeptable „wissenschaftliche“
Antwort auf die Frage nach dem Nichts Bahn bricht. Immerhin aber scheint der Erfolg
von Stephen Hawkings „Kurze Geschichte der Zeit“ einer neuen Disziplin zur
Geburt verholfen zu haben: der Nihilologie.
Wir wohnen einer regelrechten Inflation von Publikationen über die Entstehung
des Universums aus dem Nichts bei. Hier eine kleine Auswahl aus den letzten
paar Jahren: Alan Guths „Die Geburt des Kosmos aus dem Nichts“, Brian Greenes „Die
verborgene Wirklichkeit“, Frank Closes „Das Nichts verstehen“, Alex Vilenkins
„Kosmische Doppelgänger“, Brian Cleggs „Vor dem Urknall“, Henning Genz’
„Entdeckung des Nichts“, und neuestens Lawrence Krauss’ „Ein Universum aus
Nichts“ – solche Titel weisen darauf hin, dass heute das wissbegierige Lesepublikum
die Antwort auf letzte Fragen nicht von den Theologen, sondern von den
Physikern erhofft.
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Nicht zu vermeiden ist allerdings auch viel Lärm um
nichts. Lawrence Krauss z.B. ist ein exzellenter Physiker, der an der
vordersten Front der Quantenkosmologie wirkt. Indes, von der Philosophie will
er sich gar nichts sagen lassen, an ihrer statt schwingt er sich auf zum Ritter
einer szientistischen Tafelrunde im Kampf gegen nichtwissenschaftliche
Erklärungsansprüche – nicht unähnlich dem Waffengenossen Richard Dawkins in der
Biologie. Natürlich wird man jederzeit Krauss’ Attacken gegen „Wissenschaftsverneiner“
billigen, welche die Erschaffung der Erde in sieben Tagen für möglich halten. Den
Bogen überspannt er indes, wenn er die Physik mit
Philosophie-und-Theologie-Bashing verbindet, und z.B. sachhaltige kritische Argumente
in einer Rezension seines Buches – geschrieben von einem angesehenen Wissenschaftsphilosophen
- kurzerhand als „schwachsinnig“ („moronic“) abtut. Bedenklich und auch
traurig daran ist, dass sich heute die klügsten Köpfe aus Wissenschaft und
Philosophie auf eine derartige Weise begegnen, und der argumentative Austausch in
der Pop Science zunehmend einem medialen Preisboxen weicht.
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Schauen wir eines der „schwachsinnigen“ Argumente etwas
näher an, weil es ins Herz der Sache führt. Wer das Entstehen des Universums
aus nichts zu erklären versucht, braucht zumindest Gesetze, seien dies nun die
Gesetze der Quantengravitation, einer zukünftigen Quantennihilologie oder welcher
Theorie auch immer. Und woher stammen diese Gesetze? Aus
dem Nichts? Schweben sie wie die platonischen Ideen über dem Nichts oder sind
sie ins Nichts eingewoben? Und müsste den Gesetzen nicht eine mysteriöse Kausalkraft
innewohnen, allein durch ihre Existenz etwas aus dem Nichts zu erzeugen – jenes
göttliche „fiat lux“, der weltenschaffende Hauch des Demiurgen?
Halten wir ein, bevor wir uns im Theologischen
verrennen, und bleiben wir beim Profan-Logischen. Allein schon die Frage
verstrickt uns notwendig in ein Dilemma: Wenn das Nichts etwas erklären soll,
dann muss es in irgendeiner Weise qualifiziert (also etwas) sein; und wenn es
qualifiziert ist, dann ist das Nichts nicht nichts. Hier beginnt der nihilologische
Zirkel. Die moderne Quantenkosmologie scheint wie gebannt von der Frage zu
sein: Was ist das erste Prinzip, das nicht selbst wieder auf ein „nacherstes“
Prinzip hinwiese? Es ist nicht abzusehen, wie diesem unabschliessbaren Regress
des Fragens und Antwortens anders Einhalt geboten werden könnte als durch den
apodiktischen Riegel eines „So ist es. Punkt“. Das tat Aristoteles mit seinem
„unbewegten Beweger“, der das kosmische Karussell anstiess, selber aber nicht
mit der Frage behelligt werden wollte, wer denn ihn angestossen habe. Sind wir
also am Ende doch wieder beim Philosophen angelangt?
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Wer jetzt metaphysische Schwindelgefühle verspürt,
sei auf ein Beruhigungsmittelchen verwiesen, eine Art Mantra gegen den Horror
Vacui in irgendeiner dunklen Ecke unserer Seele. Es lässt sich etwa beim morgendlichen
Zähneputzen oder Rasieren aufsagen: Nehmen wir an, nichts existiert; dann
existieren auch keine Gesetze; dann ist alles erlaubt, nichts verboten; wenn
also nichts existiert, ist nichts verboten; nichts verbietet sich selbst; also
gibt es etwas.
Zur weiteren Beruhigung mag auch der Gedanke
verhelfen, dass es sich hier im Grunde um Geistesakrobatik handelt, die an die
mittelalterliche Scholastik erinnert. Für Anselm von Canterbury z.B. war Gott
derart vollkommen, dass nur schon der Gedanke seiner Nichtexistenz eine
logische Kontradiktion darstellt. Andere dagegen betrachteten Gott als so omnipotent,
dass er gar nicht zu existieren braucht... Ein moderner Nachfahre Anselms, der ehemalige
Erzbischof von Canterbury William Temple, präsentierte 1931 in seinem Buch „God, Man and Nature“ zwei
hübsche Formeln: Gott - Welt = Gott; Welt - Gott = nichts. Dem Erzbischof entging
wahrscheinlich eine einfache Konsequenz seiner frommen Algebra. Wenn man
nämlich „nichts“ als „0“ liest, erhält man durch einfache Umformung: Gott = Welt
= nichts. Wollte der wackere Gottesmathematiker dies beweisen? Ist er der erste
Nihilologe? Gott oder die Welt oder das Nichts in Ehren, aber man mache die
Rechnung nicht ohne die Logik.